Revolte in Frankreich: Für eine Antwort der Arbeiter:innen­bewegung!

03.07.2023, Lesezeit 10 Min.
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Foto: Guillaume Louyot Onickz Artworks

Die Gewerkschaften müssen die Jugend bei der Revolte in den Arbeiter:innenvierteln unterstützen. Es braucht ein Programm und einen Schlachtplan für Streiks und Demonstrationen, welche die Perspektive einer Gesamtbewegung aufzeigen.

Frankreich: Angesichts der Revolten als Reaktion auf den Polizeimord an Nahel bleiben die Gewerkschaftsführungen mit der Waffe am Fuß stehen. Während die Regierung versucht, die sozialen Proteste zu isolieren und zu zerschlagen, sollten diese die Jugend in den Arbeiter:innenvierteln unterstützen. Sie können zusammen eine Antwort aufbauen, die Macrons autoritärer und repressiver Offensive gewachsen ist, indem sie ein Programm und einen Schlachtplan für Streiks und Demonstrationen aufstellen, welche die Perspektive einer Gesamtbewegung aufzeigen.

Seit der Hinrichtung von Nahel am Dienstag, dem 27. Juni, rebelliert die Jugend in den Arbeiter:innenvierteln. Am Tag nach einer ersten Nacht der Unruhen stieg die Wut in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag noch weiter an. Neben Nanterre, wo sich der Mord an dem Jugendlichen ereignet hatte, breiteten sich die Proteste auf den gesamten Großraum Paris und zahlreiche Städte in ganz Frankreich aus. Die Nacht von Donnerstag auf Freitag schien die Lage zu bestätigen: Im Großraum Paris, in Grenoble, Lille, Lyon, Marseille und überall im Land, bis hin nach Brüssel (Belgien) tobte die Wut in den Arbeiter:innenvierteln.

Die Revolten nach Nahels Tod eröffnet eine neue Krise

Es handelt sich um eine gerechtfertigte Revolte, die ihre Wurzeln in Polizeirassismus, Prekarität und dem Mangel an allem hat und sich gegen Staatssymbole richtet: Angriffe auf Rathäuser, angezündete Präfekturen (regionale Regierungs- und Verwaltungsgebäude), überfallene Polizeistationen, zum Rückzug gezwungene Polizeikräfte,… Dies ruft die Revolte von 2005 in Erinnerung, als die Jugend die Stadtviertel nach dem Mord an Zyed und Bouna in Flammen aufgehen ließ. Ein Gespenst, das selbst die Regierung fürchtet. Sie war sich des explosiven Charakters der Proteste bewusst und versuchte zunächst, sich von jeglicher Verantwortung zu befreien. Dafür prangerte sie die Tat als „unerklärlich“ und „unentschuldbar“ Tat an und rief dazu auf, die Polizeigewerkschaft aufzulösen, die mit dem Rechtsextremen Eric Zemmour sympathisiert. Doch schon bald begann die Regierung eine heftige repressive Offensive.

Die Zahl der Polizist:innen wurde im Vergleich zum Vortag vervierfacht (mehr als 40.000 Polizist:innen wurden in der Nacht von Donnerstag auf Freitag in ganz Frankreich eingesetzt, 45.000 in der darauffolgenden Nacht), die Spezialeinheiten RAID (die Spezialeinheit der Bundespolizei), die BRI (“Anti-Gang-Banden des Innenministeriums”) und die GIGN (eine der Armee unterstellte Militärpolizei) wurden mobilisiert, es gab lokale Ausgangssperren und mehr als 800 Festnahmen: Die Repression, die die Regierung am Donnerstag- und Freitagabend einsetzte, zeugt von den außergewöhnlichen Vorkehrungen. Diese wurden getroffen, um die Arbeiter:innenviertel zu unterdrücken. Zuvor hatte die Exekutive im November 2021 in den französischen Überseegebieten Guadeloupe und vor kurzem in Mayotte im Rahmen der kolonialen Operation Wuambushu auf solche Sondereinsatzkräfte zurückgegriffen, um die dortige Ordnung aufrechtzuerhalten. Ein weiterer nützlicher Vergleich: Am 23. März, als die Mobilisierung gegen die Rentenreform ihren Höhepunkt erreichte, waren 12.000 Polizist:innen und Gendarmen im Einsatz. Das sind fast viermal weniger als in der Nacht von Donnerstag auf Freitag.

Damit rückt die spezifische und neokoloniale Art der Unterdrückung, der die Bewohner der Arbeiter:innenviertel ausgesetzt sind, wieder ins Rampenlicht und dürfte sich noch verschärfen. Am Freitagnachmittag meldete sich der Präsident der Republik nach einer weiteren Krisensitzung zu Wort und kündigte „zusätzliche Mittel“ an, um die Unruhen zu bekämpfen und „die republikanische Ordnung wiederherzustellen“, während sein Innenminister die Präfekt:innen (Chefs der regionalen Regierung) anwies, am Samstagabend ab 21 Uhr in ganz Frankreich Busse und Straßenbahnen anzuhalten. Je nach Entwicklung der Lage könnte in den nächsten Tagen auch der Ausnahmezustand ausgerufen werden. Die Rechte, die extreme Rechte und die Polizeigewerkschaften schrecken währenddessen nicht davor zurück, eine bürgerkriegsähnliche Rhetorik zu verwenden.

Die Frage der Repression und die der politischen Antwort darauf scheint somit eine zentrale Herausforderung in der neuen Phase zu sein, die begonnen hat. Der Mord an Nahel mag zwar wie ein Elektroschock gewirkt haben, indem er die Realität der Polizeigewalt und insbesondere der Gewalt gegen rassistisch unterdrückte Bevölkerungsgruppen und Arbeiter:innenviertel ins Rampenlicht rückte, aber er geschah in einer Phase, in der die autoritären Maßnahmen als Reaktion auf eine tiefe Krise des Regimes heftig verschärft werden. Schlagstöcke gegen Demonstrant:innen, Zwangsverpflichtungen von Streikenden gegen die Rentenreform, Demonstrationsverbote, der Verbot der Umweltgruppe Soulèvements de Terre – in den letzten Monaten hat Macron einen weiteren Sprung in seiner autoritären Offensive gemacht, mit der er versucht, die sozialen Proteste zu zerschlagen.

Was tun die Gewerkschaftsführungen?

Angesichts der Brutalität dieser Angriffe und Herausforderungen ist die mehr als zaghafte Reaktion der Gewerkschaftsführungen nur wenige Wochen, nachdem sie den Weg des „sozialen Dialogs“ wieder aufgenommen und das Ende der Bewegung gegen die Rentenreform verkündet hatten, umso problematischer. Auf Seiten der nationalen Gewerkschaftsverbände, deren Führungen die Kontinuität nach dem Ende der Rentenreform begrüßten, herrscht Schweigen, während sie sich mit Pressemitteilungen, von denen einige sehr problematisch sind, absichern. Auf Seiten von Organisationen wie der CFDT wird zwar der Mord an Nahel verurteilt, doch die Gewerkschaft verurteilt in einer Stellungnahme dazu gleichermaßen Polizeigewalt und die „Gewalt“ der Randalierer. Weiter ruft sie dazu auf, sich nicht darauf einzulassen, „die Glut der Wut anzuheizen“, und fügt hinzu, dass „die Kluft zwischen den Ordnungskräften und der Bevölkerung aufgrund des unentschuldbaren Verhaltens einiger weniger nicht größer werden darf“.

Die CGT erscheint nicht viel kämpferischer. Zwar erinnert die Zentrale an den Tod von 13 Menschen im Jahr 2022, die polizeilichen Befehlen nicht folgten, doch die am Mittwochnachmittag veröffentlichte Stellungnahme konzentriert sich auf die Ansprache „der öffentlichen Gewalten“. Sie ruft auch nicht zu dem Gedenkmarsch in Weiß am Tag darauf auf. Symptomatisch ist auch die Mitteilung der Pariser Intersyndicale (Koordination der Gewerkschaftsführungen) als Reaktion auf die Ankündigung, das gesamte Straßenbahn- und Busnetz im Großraum Paris (Île-de-France) nach 21 Uhr zu schließen. Die lokale Gewerkschaft prangert darin „eine einseitige, stigmatisierende, sozial ungerechte und völlig gegen die Verpflichtung zur Aufrechterhaltung des öffentlichen Dienstes verstoßende Entscheidung“ an. Sie nimmt aber weder Bezug auf den Mord an Nahel noch auf die Wut, die sich seitdem in den Arbeiter:innenvierteln ausdrückt, und weigert sich damit de facto, die Perspektive einer Mobilisierung der Arbeiter:innenbewegung zu eröffnen.

In diesem Sinne hat Sophie Binet , Vorsitzende der CGT, zwar spät dazu aufgerufen, an dem weißen Marsch für Nahel teilzunehmen, doch die Gewerkschaftsorganisationen haben die Demonstration am Donnerstag weitgehend verlassen, ebenso wie die Demonstrationen am Freitagabend. Solidaires hat zwar offensivere Stellungnahmen veröffentlicht, in denen zu Recht die Frage der strukturellen Gewalt der Polizei und des staatlichen Rassismus gestellt wird, und auch zum weißen Marsch aufgerufen wurde. Doch der Aufbau einer ernsthaften Mobilisierung durch Streiks scheint für die Gewerkschaftsführungen noch lange nicht auf der Tagesordnung zu stehen. Obwohl die Wut auf die Regierung nach wie vor groß ist und die Kämpfe, insbesondere um die Löhne, weiterhin durch viele Teile der Arbeiter:innenklasse gehen, bleiben die Gewerkschaftsführungen mit der Waffe am Fuß stehen. Dies ist eine gefährliche Haltung, da die Regierung als Reaktion auf die Revolten einen weiteren autoritären Sprung vollziehen könnte, wie dies von Teilen des Regimes gefordert wird.

Der Platz der Arbeiter:innenbewegung ist an der Seite der Arbeiter:innenviertel

An der Basis betonen Arbeiter:innen gerade die Herausforderung, dass die Arbeiter:innenbewegung an der Seite der Jugend in den Arbeiter:innenvierteln in den Kampf zieht. So waren am Donnerstag Eisenbahner:innen von Sud Rail und Energiearbeiter:innen beim weißen Marsch dabei. Unter ihnen war auch Cédric Liechti von der CGT Energie Paris, der die Bedeutung einer Verbindung zwischen der Arbeiter:innenbewegung und der Jugend in den Arbeiter:innenvierteln betonte: „Die Jugendlichen haben in den Arbeiter:innenvierteln so viel Druck ausgeübt, dass die Regierung gezwungen war, den Mord an Nahel halbherzig zu verurteilen, nun ist es an uns, der Arbeitswelt, eine Verbindung mit diesen Jugendlichen herzustellen, die denselben Feind angreifen wie wir.“

Es steht viel auf dem Spiel. Während der Revolte von 2005 nach dem Tod von Zyed und Bouna, die im Alter von 17 und 15 Jahren in Clichy-sous-Bois in einem Umspannwerk, in das sie sich vor der Polizei geflüchtet hatten, durch Stromschläge getötet worden waren, glänzten die traditionellen Organisationen der Arbeiter:innenbewegung durch ihre Verachtung und ihren Unwillen, die Jugendlichen zu unterstützen. Dies obwohl die Jugendlichen gleichzeitig gegen Polizeigewalt, staatlichen Rassismus und soziale Ausgrenzung, deren Opfer sie waren, auflehnten. Dies hat dazu beigetragen, die Verbindungen zwischen den Arbeiter:innenvierteln und den gewerkschaftlichen und linksradikalen Organisationen noch weiter zu schwächen. Auch steht das im Zusammenhang mit der Verteidigung des von der Regierung Chirac-Raffarin erlassenen rassistischen Gesetzes von 2004 über das Verbot des Kopftuchs in der Schule im Namen des „Laizismus“.

Im aktuellen Kontext ist es also an der Zeit, Bilanz zu ziehen und die gleichen Fehler nicht zu wiederholen. Dies gilt umso mehr, als sich die zunehmende autoritäre Offensive des Regimes seit mehreren Jahren insbesondere in einer Verschärfung der Repression gegen die Demonstrant:innen ausgedrückt hat. Die Polizeigewalt richtet sich seit 2016 normalerweise gegen die Arbeiter:innenviertel, 2018 erreichte sie einen Höhepunkt gegen die Gelbwesten, was eine Politisierung in der Frage der Polizeigewalt begünstigt hat. Diese wurde durch die Fortschritte der antirassistischen Bewegung verstärkt und begleitet, die im Juni 2020 Zehntausende Jugendliche gegen Polizeigewalt und staatlichen Rassismus mobilisierte.

Gleichzeitig hat sich die wirtschaftliche und soziale Lage weiter verschlechtert, und die politische Krise vertieft sich und bietet der Mehrheit der Arbeiter:innen nur wenige Perspektiven. Wie Anasse Kazib in einem kürzlich erschienenen Beitrag zusammenfasst: „2005 hat man die Jugendlichen schnell gegen die Proletarier ausgespielt, denen man das Auto abfackelt und die nicht zur Arbeit gehen können. Aber heute wissen diese Proletarier nicht einmal, was ihre Zukunft ist, außer bei der Arbeit zu krepieren und ihre Kindern eine Welt ohne jede Perspektive zu hinterlassen.“

Die Arbeiter:innenbewegung muss einen umfassenden Gegenschlag aufbauen!

Der Ausbruch von Teilen der Jugend in den Arbeiter:innenvierteln, die zu den prekärsten Teilen der Arbeiter:innenklasse gehören und manchmal von der Arbeitswelt ausgeschlossen sind, hat eine wichtige Krise für die Regierung eröffnet. Es gibt die Gelegenheit, wieder in die Offensive zu gehen, vorausgesetzt, wir verteidigen ein Programm und Kampfperspektiven. Diese müssen versuchen, sich mit den am meisten unterdrückten Teilen der Gesellschaft zu verknüpfen. In diesem Sinne ist es von grundlegender Bedeutung zu fordern, dass die Führungen der Arbeiter:innenbewegung mit der Passivität brechen und beginnen, die Mobilisierung aufzubauen. Sie müssen die Wut, die sich auf der Straße ausdrückt, unterstützen und sich der Repression und der autoritären Offensive, die sich anbahnt, entgegenstellen. Eine Mobilisierung, die über Absichtserklärungen hinausgehen und sich in den Methoden des Klassenkampfs und des Streiks ausdrücken muss, um aktiv am Aufbau des Kräfteverhältnisses gegenüber Macron mitzuwirken.

Gleichzeitig würde die Arbeiter:innenbewegung eine zentrale Rolle dabei spielen, ein Programm zu schmieden, das es ermöglicht, eine umfassende Gegenwehr gegen die Regierung aufzubauen und auf die Wut zu reagieren. Ein Programm, das Gerechtigkeit und Wahrheit für Nahel und alle Opfer von Polizeigewalt sowie die sofortige Freilassung und Amnestie aller Unterdrückten fordert. Daneben muss das Programm auch die Frage nach der Aufhebung des Gesetzes von 2017, das den Schusswaffeneinsatz nach „Befehlsverweigerung“ legalisiert, und aller rassistischen Gesetze stellen. Auch den Kampf um Löhne, die Aufteilung der Arbeitszeit oder die Verteidigung der öffentlichen Dienstleistungen in den Arbeiter:innenvierteln muss angegangen werden. Ein solches Programm wäre entscheidend, um die Einheit herzustellen, die bei unseren Feinden so viel Angst auslöst: die Einheit der organisierten Arbeiter:innenbewegung, der schulpflichtigen Jugend und der Teile unserer Klasse, die unter Arbeitslosigkeit, Rassismus und Prekarität leiden.

Während wir von der Intersyndicale einen Schlachtplan in diesem Sinne fordern, ist es notwendig, dass alle Gewerkschafter:innen, Arbeiter:innen, Jugendlichen und kämpferischen Aktivist:innen, die verstehen, was auf dem Spiel steht, sich organisieren und ab sofort kämpfen, um diese Perspektive an der Basis – an den Arbeitsplätzen und in den Arbeiter:innenvierteln aufzubauen. So erklärte das Netzwerk für den Generalstreik, das während den Protesten gegen die Rentenreform die Streiks von unten koordinierte, am Freitag: „Das Netzwerk für den Generalstreik lehnt die Logik ab, dass sich die Gewerkschaften nur um Renten und Löhne kümmern sollten, nicht aber um das, was mit der Jugend und den Arbeiter:innen in den Wohnvierteln geschieht, in denen man lebt. Um Gerechtigkeit und Wahrheit für Nahel und alle von der Polizei verletzten, verstümmelten und getöteten Menschen in den Stadtvierteln und auf den Demonstrationen zu fordern, müssen wir mit all unseren Kräften und mit unseren stärksten Aktionsmitteln, insbesondere dem Streik, Einfluss nehmen.“

Dieser Artikel erschien zuerst bei unserer Schwesterseite Revolution Permanente.

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