Politische Ökonomie der sozialen Reproduktion I: Arbeit und Kapital

21.08.2019, Lesezeit 20 Min.
Übersetzung:
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Aktuelle Debatten im Feminismus haben viele marxistische Werke wieder ans Tageslicht geholt, darunter Lise Vogels „Marxismus und Frauenunterdrückung“.

Die aktuellen Debatten im Feminismus haben viele der Ausarbeitungen, in denen früher bereits das Verhältnis zwischen Kapitalismus und Patriarchat untersucht wurde, wieder ans Tageslicht gefördert. Intellektuelle mit verschiedenen Perspektiven, wie Judith Butler, Silvia Federici, Nancy Fraser oder Rita Segato – um einige aktuelle Beispiele zu nennen – haben ein neues Publikum erlangt. Auch die Ideen von denjenigen, die aus marxistischer Perspektive einen Beitrag zu diesen Diskussionen geleistet haben, gewinnen dabei wieder an Bedeutung.1

Unter ihnen hebt sich besonderes die Theoretisierung von Lise Vogel in Marxism and the Oppression of Women [dt.: „Marxismus und Frauenunterdrückung“, Erstübersetzung 2019], erschienen 1983 und neu aufgelegt 2013, hervor.2

Dort erweitert die Autorin die Hausarbeitsdebatte aus den 1970ern, indem sie den Fokus auf die soziale Reproduktion legt, das heißt, auf die Mechanismen, durch die der Kapitalismus die Reproduktion der Arbeitskraft sichert, auf deren Ausbeutung er basiert. Deshalb ist dieses Feld, auch wenn unterschiedliche Namen vorgeschlagen wurden, heute als „Theorie der sozialen Reproduktion“ bekannt.

Das Buch von Lise Vogel lohnt vor allem deshalb eine Lektüre, weil sich viele andere Autorinnen der „Theorie der sozialen Reproduktion“ darauf als Grundlage beziehen und mit ihm in Dialog treten. Des Weiteren zeichnet das Werk aus, dass es eine kritische Nacherzählung der marxistischen Tradition, die ihm vorangeht, vorlegt. Vogel belebt dabei Debatten wieder, die heute – bei allen historischen und lokalen Besonderheiten – aktuell bleiben. Denn der Feminismus durchlebt gerade eine Zeit von strategischen Definitionen, nach bereits einigen Jahren, in denen der Aufschwung der Frauenbewegungen auf internationalem Niveau andauert.

In diesem ersten Teil der Artikelreihe betrachten wir, wie Vogel das Verhältnis zwischen reproduktiver und produktiver Arbeit im Kapitalismus analysiert. Im zweiten Teil werden wir den Fokus darauf legen, wie Vogel das Verhältnis zwischen Kapitalismus und Patriarchat untersucht. Die Breite und Komplexität der Debatte sorgt dafür, dass diese Artikel nur eine erste Annäherung sein können, auf die zweifellos weitere Beiträge und Kontrastierungen folgen müssen.

Produktiv und unproduktiv

Rosa Luxemburg sagte in einer Rede aus dem Jahr 1912, dass im Kapitalismus nur diejenige Arbeit als „produktiv“ angesehen wird, die es den Kapitalist*innen erlaubt, sich Mehrwert anzueignen:

Von diesem Standpunkt ist die Tänzerin im Tingeltangel, die ihrem Unternehmer mit ihren Beinen Profit in die Tasche fegt, eine produktive Arbeiterin, während die ganze Mühsal der Frauen und Mütter des Proletariats in den vier Wänden ihres Heimes als unproduktive Tätigkeit betrachtet wird. Das klingt roh und wahnwitzig, entspricht aber genau der Rohheit und dem Wahnwitz der heutigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung, und diese rohe Wirklichkeit klar und scharf zu erfassen, ist die erste Notwendigkeit für die proletarischen Frauen.

Luxemburg verweist schon damals auf eine Achse der Hausarbeitsdebatte, die in den 1970er Jahre auf materialistischer Basis vertieft wurde. Vogel erkennt diese etablierten Ideen als notwendigen Ausgangspunkt an, sucht aber nach alternativen Positionen zu denen von Selma James, Dalla Costa oder Federici. Diese Feministinnen nutzen zwar Kategorien des Marxismus, verurteilen ihn aber dafür, dass er die soziale Produktivität der Hausarbeit „ignoriere“. Für sie produzieren sowohl die Hausarbeit als auch die in den Fabriken geleistete Arbeit einen Mehrwert. Dass die Hausarbeit vom Marxismus als „unproduktiv“ bezeichnet wurde, verstehen sie als Abwertung dieser Arbeit gegenüber derjenigen Arbeit, die Waren für den Markt produziert. Sie warfen dem Autor von Das Kapital deshalb eine beschränkte Perspektive vor, und attestierten ihm sexistische Tendenzen.

Vogel und nach ihr verschiedene Autorinnen der „Theorie der sozialen Reproduktion“ weisen dagegen darauf hin, dass der von Marx verwendete Begriff der produktiven Arbeit nichts mit einer mangelnden Anerkennung der Bedeutung unproduktiver Arbeit zu tun hat. Hausarbeit als „unproduktiv“ zu bezeichnen bedeutet, sie als Arbeit zu definieren, die nicht direkt von einem Kapitalisten kontrolliert wird und daher nicht auf „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ reduzierbar ist; nur in diesem engen und nicht moralischen Sinn hat Marx diesen Begriff in Das Kapital definiert.

Die Hausarbeit ist nicht weniger schwere Arbeit, weniger komplex oder weniger notwendig; dieses Merkmal ist gerade eine Konsequenz der Organisierung der kapitalistischen Produktion, die zwei Bereiche trennt: das „Private“ (wo traditionell die Reproduktionsarbeit geleistet wird) und das „Öffentliche“ (wo die kapitalistische Produktion und Zirkulation stattfindet). Diese These, die Marx bereits erwähnte, wird von Federici betont. Vogel weist jedoch auf einen inneren Widerspruch dieser Form der Organiation von Reproduktion hin: Während das Kapital immer mehr Sektoren in das Lohnverhältnis einbeziehen muss, um eine größere Masse an Mehrwert zu erhalten, profitiert es auch davon, einen Teil der Reproduktionsarbeit im privaten Bereich zu belassen und nicht dafür zu bezahlen.

Die Hausarbeit ist nicht die einzige Arbeit, die Marx als „unproduktiv“ bezeichnet. Aber die Reproduktionsarbeit insgesamt ist die Arbeit, die nichts weniger als die „Arbeitskraft“ reproduziert – das Konzept, das Marx selbst als seinen größten konzeptionellen Beitrag zum Verständnis der Funktionsweise des Kapitalismus bezeichnet hat -, auf dessen Ausbeutung das System basiert: Die Erklärung, wie die Reproduktion der Arbeitskraft in der kapitalistischen Produktionsweise funktioniert, ist daher kein geringes Problem, wenn wir verstehen wollen, wie das System insgesamt funktioniert. Vogel behauptet, dass dies in der Tat im Kapital unzureichend entwickelt sei, obwohl die dort dargelegte Methodik und einige der Kategorien in Bezug auf die Lohnarbeit Anknüpfungspunkte sind, um diese Frage zu entwirren, auch wenn Marx selbst das in seinem Buch nicht bis zu Ende ausführt.

In Vogels Lesart ist Das Kapital (wie auch frühere Werke von Marx und Engels) nicht davon ausgenommen, bestimmte Verhältnisse in einer Weise zu vereinfachen oder als natürlich zu akzeptieren, wie dies für die Epoche typisch war, in der sie geschrieben wurden.3 Marx ist jedoch derjenige, der theoretisch die Voraussetzungen für ein Verständnis dessen entwickelt, wie Reproduktion im kapitalistischen System funktioniert, wobei dies nicht von der Struktur der gesellschaftlichen Produktion als Ganzes zu trennen ist.

Die Frage ist also, wie das Kapital mit den Widersprüchen umgeht, die diese Form der Organisation der sozialen Reproduktion mit sich bringt, und warum diese Reproduktionsarbeit „vergeschlechtlicht“ wird, d.h. warum sie hauptsächlich Frauen zugeordnet wird, mit all den Folgen der Verschleierung, Geringschätzung und Unterordnung, mit denen diese Arbeit gesellschaftlich bewertet wird.

Produktion und Reproduktion

Vogels Prämisse ist, dass Reproduktionsarbeit keine Waren mit Tauschwert produziert, jedoch auf jeden Fall Gebrauchswerte, die dem direkten Konsum dienen [23].

In erster Linie ist zu berücksichtigen, dass Marx die Formen der Reproduktion der Arbeitskraft als etwas Essentielles für die Reproduktion des Kapitals selbst in den Mittelpunkt stellt, in Verbindung mit den spezifischen „Gesetzen“ der Bevölkerungsverwaltung im Kapitalismus: nämlich die Möglichkeiten zur Erzeugung und Aufrechterhaltung einer überschüssigen Erwerbsbevölkerung (einer „Reservearmee“ [71/72]) als Gegentendenz zum tendenziellen Fall der Profitrate, die das System selbst hervorbringt. Dafür werden Mechanismen eingeführt, um den Mehrwert nicht über die Verlängerung des Arbeitstages (absoluter Mehrwert) zu erhöhen, sondern über die Verkürzung der Stunden, in denen der*die Lohnarbeiter*in das Äquivalent dessen produziert, was zur Reproduktion seiner*ihrer Arbeitskraft erforderlich ist (relativer Mehrwert).

Zudem weist Vogel wie Marx darauf hin, dass das Konsumniveau nicht ein für alle Mal feststeht, sondern dass es in jeder Periode seine „historischen und moralischen“ Grenzen im Klassenkampf [69] findet. Trotz dieser Definition, die jedem ökonomistischen Objektivismus zuwiderläuft, gäbe es jedoch bestimmte Passagen des Kapitals, die sich auf die Entwicklung der Formen der Lohnarbeit beziehen, in denen die Arbeitsteilung nach Geschlecht und Alter als „natürlich“ wahrgenommen werde: Die Arbeitsteilung änderte sich, als die Kapitalist*innen neue Maschinerie in die Produktion einführten, die die Eingliederung von Frauen und Kindern in die Lohnarbeit ermöglichte. Dadurch wird eine „frühere Arbeitsteilung“ beseitigt, die nicht diskutiert und daher als gegeben angesehen wird [65].4

Um dann das Problem der Reproduktion der Arbeitskraft zu analysieren, konzentriert sich Vogel auf die Kategorie der „individuellen Konsumtion“ aus dem Kapital, obwohl diese dort manchmal als der Konsum eines einzelnen Arbeiters behandelt wird, und manchmal als der Konsum des Arbeiters zusammen mit denjenigen, die von seinem Lohn in seinem Haushalt leben, wie Kinder, ältere Menschen oder die Hausfrau – Personen, die nicht angestellt sind [67/68].

Für Vogel sind zwei methodische Fragen dazu von Bedeutung, wie Marx diese Definition einführt, da er versucht, die Art und Weise zu berücksichtigen, wie Mehrarbeit in der Produktion angeeignet wird.

– Die individuelle Konsumtion wird aus der Sicht des Kapitals definiert, soweit er für den Kapitalisten als produktive Konsumtion von Bedeutung ist [67/68], d.h. wie der an die Arbeitskräfte gezahlte Lohn in Lebensmittel umgewandelt wird, damit die Lohnarbeiter*innen am nächsten Tag an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.

– Marx untersucht an einem einzelnen Arbeiter, der für einen Haushalt verantwortlich ist, mögliche Wertschwankungen der Arbeitskraft, wenn ein anderes Mitglied, immer zugunsten des Kapitals, dem Lohnverhältnis beitritt. (Zum Beispiel, wenn weitere Mitglieder dieser Familie arbeiten: Auch wenn das Volumen der Löhne zunimmt, die dieser Haushalt erhält, steigt der Umfang der Mehrarbeit, von der die kapitalistischen Unternehmen profitieren, noch mehr. Oder dass, um die Aufgaben zu ersetzen, die dieses Mitglied des Haushalts nicht mehr erfüllen kann, weil es der Lohnarbeit nachgeht, ein größerer Teil des Lohnes auf dem Markt ausgegeben werden muss, was einem anderen Kapitalisten nützt.) [70]

Um Marx zu zitieren: Die individuelle Konsumtion „Produkte als Lebensmittel des lebendigen Individuums […] verzehrt“; während die produktive Konsumtion Produkte „als Lebensmittel der Arbeit, seiner sich betätigenden Arbeitskraft, verzehrt.“ [145] Das Problem für Vogel ist, dass Marx „wenig über die tatsächliche Arbeit der individuellen Konsumtion sagt. Hier gab es ein für die kapitalistische Produktion wesentliches Terrain wirtschaftlicher Aktivität, das jedoch in seinem Text fehlt.“ [191/2]

Vogel argumentiert, dass im Gegensatz zu anderen Produktionsweisen – wie z.B. der Leibeigenschaft, bei der der Leibeigene mit einer räumlichen und zeitlichen Trennung zwischen der Mehrarbeit (Arbeit für den Herrn) und der notwendigen Arbeit (Arbeit für sich selbst) arbeitet – im Kapitalismus eine Spaltung innerhalb der notwendigen Arbeit auftritt [150], die nun zwei Komponenten habe:

Die erste, die von Marx diskutiert wird, ist die notwendige Arbeit, die einen Wert erzeugt, der dem Lohn entspricht. Diese Komponente, die ich die gesellschaftliche Komponente der notwendigen Arbeit genannt habe, ist untrennbar mit der Mehrarbeit im kapitalistischen Produktionsprozess verbunden. Die zweite Komponente der notwendigen Arbeit, die tief in Marx‘ Erzählung versteckt ist, ist unbezahlte Arbeit, die zur täglichen und langfristigen Erneuerung der Träger*innen der Ware Arbeitskraft und der Arbeiter*innenklasse als Ganzes beiträgt. Ich nenne dies die häusliche Komponente der notwendigen Arbeit, oder Hausarbeit. So wird Hausarbeit zu einem Konzept, das spezifisch für den Kapitalismus ist und keine feste Geschlechterzuordnung aufweist. [192]

Während diese Definition den Charakter der Reproduktionsarbeit angemessener erklärt, bleibt offen, warum diese häusliche Komponente der notwendigen Arbeit, hauptsächlich den Frauen zugeschrieben wird, obwohl grundsätzlich keine notwendige geschlechtliche Zuordnung vorausgesetzt wird.

Vergeschlechtlichte Reproduktionsarbeit

Vogel argumentiert, dass in der individuellen Konsumtion, im Alltag der Arbeitskraft, auch Arbeit zur Unterstützung anderer Haushaltsmitglieder aufgewendet wird, die nicht direkt produzieren [149/150] – eine Arbeit, die dementsprechend ebenfalls für die Reproduktion des Systems notwendig ist. Innerhalb der Formen der „Bevölkerungsverwaltung“, die die Existenz von auszubeutender Arbeitskraft gewährleisten soll, ist die Reproduktion zukünftiger Arbeiter*innen nicht die einzige Form, die das Kapital ausnutzt: Migration ist ein weiteres klares Beispiel. Deshalb besteht Vogel darauf, dass die Familie nicht als der einzige Ort für die Wiederherstellung der Arbeitskraft betrachtet werden sollte [147]. Aber die Reproduktion der Generationen ist diejenige, in die die Biologie eingreift [146], was effektiv eine gewisse geschlechtliche Arbeitsteilung erfordert.

Frauen, die der beherrschten Klasse angehören, spielen daher eine besondere Rolle bei der generationellen Erneuerung der Arbeitskraft. Während sie zwar auch direkt Produzentinnen sein können, liegt in ihrer besonderen Rolle in der Reproduktion der Arbeitskraft die Wurzel ihrer Unterdrückung in der Klassengesellschaft [150].

Daher ist es nicht die Arbeitsteilung in der Familie selbst, die die Grundlage für die Unterordnung der Frauen bildet [153 und 177], sondern diese spezifische Form der Reproduktion über die Generationen hinweg. Die Ursache dafür ist, dass während der Schwangerschaft und der Stillzeit die Arbeitsfähigkeit der Frauen abnimmt, ihr Lebensunterhalt für diesen Zeitraum aber bestritten werden muss. Grundsätzlich ist dies nachteilig für den einzelnen Unternehmer, der einen Anstieg der „notwendigen Arbeit“ des einzelnen Arbeiters gegenüber der Mehrarbeit, die er sich aneignen kann, sieht. Aber gleichzeitig, und das scheint ein intrinsischer Widerspruch des Systems zu sein, kommt dies der kapitalistischen Klasse als Ganzes zugute, indem die zukünftige Arbeitskraft gesichert wird [151].

Hier ist es notwendig, eine weitere Überlegung einzuführen, um die Charakterisierungen von Marx zu verstehen. Für analytische Zwecke betrachtet er zunächst, wie die Produktion auf der Ebene des gesellschaftlichen Gesamtkapitals funktioniert, als ob es eines wäre, aber um zu konkreteren Bestimmungen zu gelangen, ist es notwendig, die verschiedenen Kapitale zu betrachten (was er in Band III des Kapitals tut), also die Kapitalist*innenklasse insgesamt. In gleicher Weise könnte man sagen, dass die Reproduktion analytisch aus der Sicht einzelner Arbeiter*innen und ihrer Haushalte betrachtet werden kann, aber um die Reproduktion des Systems zu verstehen, ist es notwendig, die Arbeiter*innenklasse als Ganzes zu betrachten. Auf dieser Stufe wird Vogel hinzufügen:

Auf dieser Ebene wird die Reproduktion der Arbeitskraft zu einer Frage der Reproduktion der Arbeiter*innenklasse als solche insgesamt. Der Begriff „Arbeiter*innenklasse“ wird manchmal so interpretiert, dass er sich nur auf Lohnarbeiter*innen bezieht. Bei dieser Definition würden beispielsweise nur lohnarbeitende Frauen als Arbeiterinnen betrachtet werden. Diese Kategorisierung verurteilt alle anderen Menschen, die nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen – Kinder, ältere Menschen und Behinderte sowie nicht erwerbstätige Ehefrauen – zu einer theoretischen Unbestimmtheit außerhalb der Klassenstruktur. Hier wird die Arbeiter*innenklasse hingegen als bestehend aus allen vergangenen, gegenwärtige und potenziell zukünftige Lohnarbeitskräften verstanden, und schließt auch all jene ein, deren Lebensunterhalt vom Lohn abhängt, die aber nicht in die Lohnarbeit eingetreten sind oder können. Sie umfasst zu einem bestimmten Zeitpunkt die aktiven Arbeitskräfte, die industrielle Reservearmee und den Teil der relativen Überbevölkerung, der nicht in die industrielle Reservearmee eingegliedert ist. [166]

Kommen wir auf Vogels Argument zurück. Im Kapitalismus ist Arbeit gesellschaftlich, aber sie wird als privates Geschäft organisiert, und das erlaubt es dem Kapitalisten, sich Mehrarbeit anzueignen, indem er nicht das bezahlt, was tatsächlich an einem Tag gearbeitet wird, sondern nur den äquivalenten Wert der Reproduktion der Arbeitskraft mit einem Lohn vergütet. Die Enteignung der Produktionsmittel, die die Arbeiter*innen dazu zwingt, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, zwingt sie auch dazu, sich über den Markt zu reproduzieren, indem sie mit ihren Löhnen Waren kauft, die nicht direkt konsumierbar sind, d.h. die eine andere Arbeit erfordern, die ebenfalls in einem Lohnverhältnis verschleiert wird.

In kapitalistischen Gesellschaften hat das Verhältnis zwischen Mehrarbeit und notwendiger Arbeit also zwei Aspekte. Auf der einen Seite wird die Abgrenzung zwischen Mehrarbeit und der gesellschaftlichen Komponente der notwendigen Arbeit durch die Zahlung von Löhnen im kapitalistischen Arbeitsprozess verschleiert. Andererseits wird die häusliche Komponente der notwendigen Arbeit von der Lohnarbeit – der Arena, in der Mehrarbeit durchgeführt wird – getrennt. [159]

Es ist dann notwendig, die Komponenten der notwendigen Arbeiten zu klären. Nach Ira Gerstein und Paul Smith argumentiert Vogel, dass es nicht irgendeine Art von Mehrwert in dieser Hausarbeit gibt, die durch den Verkauf der Ware Arbeitskraft realisiert wird, sondern in jedem Fall eine Wertübertragung stattfindet:

Die Norm des Familienlohns – ein Lohn, der an einen einzelnen männlichen Arbeiter gezahlt wird und der den Konsum der gesamten Familie abdeckt – stellt für Gerstein ein konkretes Beispiel dafür dar, wie das „historische und moralische Element“ die Bestimmung des Wertes der Arbeitskraft beeinflusst. Das heißt, Lohnstandards beinhalten nicht nur eine bestimmte Quantität und Qualität der Waren, sondern auch eine bestimmte Quantität und Qualität der Hausarbeit. [164]

Es ist jedoch zu fragen, ob die Vergeschlechtlichung der Reproduktionsarbeit – ein Effekt, der die Hälfte der Menschheit in einer untergeordneten Stellung hält – allein durch die Fähigkeit der Frauen zur generationsübergreifenden Reproduktion erklärt werden kann. Giménez, die weitgehend mit Vogel übereinstimmt und mit ihr zusammengearbeitet hat, wird ein weiteres spezifisches Element des Kapitalismus einbringen, das Vogels Verständnis nicht widerspricht, sondern ihre Definitionen erweitert. Die Reproduktion über die Generationen hinweg ist Teil eines Teufelskreises: Die prekären Verhältnisse der Frauen in der Lohnarbeit begrenzen ihre Autonomiemöglichkeiten. Sie werden dadurch auf die häusliche Reproduktionsarbeit beschränkt, und damit wird die Isolation im Privaten, und so ihre Unterordnung, verstärkt. Dies beeinflusst die Prekarisierung der Lohnarbeit, zu der sie Zugang haben, und so weiter.5

Aber der Kapitalismus verdunkelt, so Vogel, auch die ökonomische Natur der Reproduktionsarbeit über die Generationen hinweg und mystifiziert sie so, dass nur ihre biologischen oder ideologischen Aspekte wahrgenommen werden (z.B. die Notwendigkeit, dass ein Erbe den Familiennamen verewigt, oder die Notwendigkeit der „Unsterblichkeit“, „Fülle“ usw.).6

Aber warum scheint die Unterordnung der Frauen im Kapitalismus weiterzubestehen, einem System, das die materiellen Bedingungen der Produktion-Reproduktion radikal verändert und diese Mystifikationen notwendig gemacht hat? Vogel widmet einen guten Teil ihres Buches diesem Thema, und wir werden ihm den nächsten Artikel widmen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Contrapunto, der Sonntagsausgabe von IzquierdaDiario.es. Hier geht es zu Teil 2 des Artikels.

Fußnoten

1 Vgl. auch Arruzza, Las sin parte, Barcelona, Sylone, 2010 (im Jahr 2015 wiederveröffentlicht); Bhattacharya (Hrsg.), Social Reproduction Theory, London, Pluto Press, 2017; Giménez, Marx, women and capitalist social reproduction, Leiden-London, Brill, 2019.

2 Chicago, Haymarket, 2013. Dieser Nachdruck enthält einen Anhang, der nicht im Original vorhanden war. Auf Zitate aus dieser Ausgabe wird im Folgenden mit Klammern für die entsprechende Seite verwiesen (eigene Übersetzung). Eine offizielle deutsche Übersetzung dieser Ausgabe mit einem Vorwort von Frigga Haug erschien im Oktober 2019, nachdem dieser Artikel übersetzt wurde.

3 Heather Brown greift in ihrem Werk Marx on Gender and the family (Leiden-Boston, Brill, 2012) dieselben Texte auf und fügt neue hinzu. Sie stimmt in einigen Punkten mit Vogel überein, interpretiert aber viele der als „naturalistisch“ bezeichneten Zitate aus dem Blickwinkel einer in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844 dargestellten Definition der Natur neu, die nicht positivistisch ist. Bei Vogel hingegen finden wir althusserianische Echos, einen Einfluss, den nicht alle Theoretikerinnen der sozialen Reproduktion teilen. Vogel besteht jedoch darauf, die deterministischen und funktionalistischen marxistischen Visionen zu kritisieren, mit denen Althusser in Verbindung gebracht wurde. Hier ist es notwendig, den Zeitpunkt dieser Äußerung zu betrachten: Der erste Althusser, auf den sich Vogel bezieht, kann heute als deterministisch angesehen werden, aber in den 1970er Jahren erschien er nicht so, als ein Teil seiner Anziehungskraft darin bestand, eine Alternative zu ökonomistischen Visionen vorzuschlagen. Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum Vogel von anderen Versionen der „Theorie der sozialen Reproduktion“ aufgenommen werden kann, die sich in unterschiedliche Genealogien des Marxismus einschreiben. Diese unterschiedlichen konzeptionellen Rahmenbedingungen sind nicht immer explizit, obwohl sie sich in dem, was in den verschiedenen Konzeptualisierungen betont oder abgegrenzt wird, nachvollziehen lassen.

4 In Fergusons und McNallys Einführung in die Neuauflage von Vogels Buch wird interpretiert, dass Marx‘ Vorstellung von „Natürlichkeit“ in Sätzen wie diesen gelesen werden kann: „Der Kapitalist kann [die beständige Erhaltung und Reproduktion der Arbeiterklasse] getrost dem Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb der Arbeiter überlassen.“ Dieser Satz wird in verschiedenen Versionen der Theorie der sozialen Reproduktion diskutiert. Giménez argumentiert, dass es sich neben einer politischen Anklage (die darauf hindeutet, dass das Kapital die Arbeiter*innen ihrem Schicksal überlässt, es sei denn, die Kapitalist*innen sehen ihren Gewinn gefährdet) auch um eine Definition einer Produktionsweise handelt, die autonome „freie“ Arbeiter*innen voraussetzt, weshalb Produktion und Reproduktion nicht „isomorph“ sein können (Giménez, op. cit., S. 75). Unserer Meinung nach grenzt Vogel genauer ab, was Marx als „natürlich“ ansieht: nicht die Reproduktion außerhalb der direkten Kontrolle des Kapitals, sondern eine sexuelle Arbeitsteilung, die nicht problematisiert wird.

5 Giménez, op. cit., S. 77/78.

6 Ebd., S. 148.

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