Perspektiven des Krieges nach einem Monat russischer Invasion

11.04.2022, Lesezeit 10 Min.
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Foto: la izquierda diario

Der Krieg in der Ukraine hat ein Bild der Krise gezeichnet, lebhafter und mit intensiveren Farben als in den letzten Jahrzehnten. Es ist notwendig, diesem reaktionären Krieg entgegenzutreten, indem wir uns sowohl der russischen Invasion der Ukraine als auch der kriegerischen Politik der NATO aus einer antiimperialistischen und internationalistischen Perspektive widersetzen.

Der Krieg in der Ukraine hat ein Bild der Krise gezeichnet, lebhafter und mit intensiveren Farben als in den letzten Jahrzehnten. Es ist notwendig, diesem reaktionären Krieg entgegenzutreten, indem wir uns sowohl der russischen Invasion der Ukraine als auch der kriegerischen Politik der NATO aus einer antiimperialistischen und internationalistischen Perspektive widersetzen.

Mehr als ein Monat ist seit dem Beginn des Krieges zwischen Russland und der Ukraine vergangen, eines Krieges, an dem die NATO-Mächte (die Vereinigten Staaten und die Europäische Union) aktiv beteiligt sind, wenn auch vorerst indirekt. Streng genommen beschränkt sich der Schauplatz der militärischen Operationen auf Russland, die Ukraine und (in geringerem Maße) Weißrussland. Doch aufgrund der Beteiligung von Atommächten und den wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges, hat er globale Auswirkungen. Mit der Fortsetzung des Konflikts nehmen nicht nur das Leid und die Zerstörung zu, sondern es besteht auch die Gefahr einer weiteren Eskalation, sowie des Einsatzes nichtkonventioneller Waffen (chemische und sogar nukleare). Während die Meinungen über den Ausgang des Krieges gespalten sind, erwarten die meisten politischen und militärischen Analyst:innen, dass es keine kurzfristige Entscheidung geben wird, die eine der Kriegsparteien klar begünstigt. Das veranlasst einige zu der Prognose, dass wir auf einen langen Krieg oder eine Art von Verhandlungen zusteuern, aus denen kein klarer Sieger hervorgeht.

Wie in jedem Konflikt sind Informationen eine mächtige Waffe der Propaganda, die unerlässlich ist, um Kriegshandlungen zu legitimieren und die Ergebnisse des Kriegsgeschehens letztlich in die politischen Linien zu integrieren. Russlands Krieg in der Ukraine entzieht sich dieser allgemeinen Regel nicht, was die Bewertung der konkreten Situation praktisch zu einer unmöglichen Aufgabe macht.

Es gibt kein objektives Maß des militärischen Kräfteverhältnis und der Verluste auf beiden Seiten. Die Kreml-freundliche Zeitung Komsomolskaja Prawda meldete unter Berufung auf das Verteidigungsministerium, dass bis zum 20. März 9.861 russische Soldaten in der Ukraine gefallen seien. Wenige Minuten nach der Veröffentlichung dieser Zahl dementierte das Ministerium die Information (mit der Begründung, seine Website sei gehackt worden). Das Pentagon schätzte die Zahl der russischen Todesopfer im ersten Kriegsmonat auf etwa 7.000 Soldaten. Die Ukraine gibt derweil nur etwa 1.200 tote Soldaten an, eine Zahl, die selbst die westlichen Medien anzweifeln, obwohl sie auf der Seite des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj stehen. Fast schon im Vorgriff hat die russische Regierung alle oppositionellen Medien zensiert, die Verwendung des Wortes „Krieg“ verboten und Russ:innen inhaftiert, die an Antikriegsdemonstrationen teilgenommen oder sich öffentlich gegen die reaktionäre Invasion in der Ukraine ausgesprochen haben.

Die westlich-imperialistischen Medien- und Geheimdienstoperationen wie auch der Kreml machen den „Nebel des Krieges“ immer dichter. Dennoch lassen die aktuellen Ereignisse einige Rückschlüsse auf den Stand der Dinge zu.

Die meisten Analyst:innen gingen zunächst davon aus, dass Putins Strategie auf einen Blitzkrieg (den er als „Sondereinsatz“ bezeichnete) abzielte, um eine schnelle Kapitulation der ukrainischen Regierung zu erreichen. Dieses Ziel, das auf der enormen militärischen Überlegenheit Russlands beruhte, hat sich nicht verwirklicht, und seit Wochen findet der Krieg auf einem anderen Niveau statt.

Erklärungen für Russlands militärisches und politisches Scheitern sind Gegenstand von Debatten und Spekulationen. Lässt man psychologische Erklärungen beiseite – Putins narzisstische, autoritäre und psychopathische Züge -, so besteht unter führenden Analyst:innenen und Berater:innen in den imperialistischen Staaten Konsens darüber, dass Putin eine strategische Fehleinschätzung vorgenommen hat: Er hat die Widerstandsfähigkeit der Ukraine unterschätzt, die Krise der USA (und des „Westens“) infolge des chaotischen Rückzugs aus Afghanistan, die innenpolitische Polarisierung und die Schwäche der Biden-Administration überschätzt und seine eigenen Stärken überschätzt, insbesondere im Hinblick auf die militärische Überlegenheit Europas (insbesondere Deutschlands) und dessen Abhängigkeit von russischer Energie.

Auf der Grundlage dieser Wahrnehmung des Kräfteverhältnisses drängen die neokonservativen Vorreiter des US-Establishments darauf, den Krieg auf die Spitze zu treiben, um einen „Regimewechsel“ in Russland zu erzwingen. Diese erregte Stimmung scheint sogar Präsident Biden erreicht zu haben, der in seiner Rede in Warschau am 26. März zur Überraschung aller erklärte, dass Putin „nicht an der Macht bleiben kann“. Am anderen ideologisch-strategischen Ende des Spektrums drängt der „realistische“ Teil des Establishments auf Verhandlungen, weil er der Meinung ist, dass ein lang anhaltender Konflikt das Risiko von „Unfällen“ erhöht, die die westlichen Verbündeten spalten könnten.

In den letzten Tagen hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass wir uns in einer gefährlichen Pattsituation befinden, in der sich keine Gewinner oder Verlierer abzeichnen. Eine Situation, die keine Anreize für eine Verhandlungslösung bietet und nur zu entschlosseneren offensiven militärischen Aktionen einlädt, um die Pattsituation zu durchbrechen. Wenn wir die Hypothese des schnellen Krieges in dem alle Ziele erreicht werden, verwerfen, sind die beiden alternativen Szenarien schematisch ein „Zermürbungskrieg“ oder ein „Krieg mit begrenzten Zielen“. Beziehungsweise eine Kombination aus beidem – wie es der Fall zu sein scheint.

Doch schauen wir uns die Fakten an. Innerhalb eines Monats ist es Russland gelungen, lediglich die Stadt Cherson unter seine Kontrolle zu bringen. Die anhaltenden Angriffe auf Charkiw und Kiew haben zu keinen nennenswerten Fortschritten geführt, obwohl sie die Schrecken des Krieges – Zerstörung der Infrastruktur, zivile Opfer, Flüchtende und Binnenvertriebene (3,6 bzw. 10 Millionen) – qualitativ erhöht haben. Putin hat sich auf den gnadenlosen Beschuss der Stadt Mariupol konzentriert, die einen doppelten strategischen Wert hat: Sie liegt an der Straße zwischen der Donbass-Region und der Krim, und sie ist der wichtigste Hafen am Asowschen Meer, über den ukrainische Exporte von Getreide, Mineralien und anderen Gütern abgewickelt werden. Mariupol einzunehmen bedeutet, die ukrainische Wirtschaft zu ersticken.

Die Aussicht auf eine Pattsituation ist bedenklich, denn sie bedeutet einen langwierigen Zermürbungskrieg, der nur sehr schwer zu gewinnen ist, der aber gleichzeitig die Kosten einer Niederlage erheblich in die Höhe treibt. Vielleicht erklärt dieses ruinöse Szenario, warum Russland seine Ziele überdenkt und warum der Krieg in eine neue Phase eintritt, die sich auf den Donbas konzentriert.

Die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios ist gestiegen, nachdem Sergej Rudskoj, einer der wichtigsten russischen Befehlshaber der Operation, betont hat, dass es nie die Strategie Moskaus war, die großen ukrainischen Städte unter Kontrolle zu bringen. Die Angriffe auf Kiew und andere städtische Gebiete waren lediglich Ablenkungsmanöver zur „Befreiung“ der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk.

Sollte dies der Fall sein, läge der Schwerpunkt des Konflikts wie vor acht Jahren im Osten und Südosten der Ukraine. Das bedeutet, dass eine grobe russische Offensive voraussichtlich eine strategische Niederlage in einer Region herbeiführen würde, in der westlichen Geheimdienstberichten zufolge etwa ein Viertel der ukrainischen Bodentruppen konzentriert sind – einschließlich ihrer am besten ausgebildeten Einheiten. Mit anderen Worten: Nicht in Kiew, sondern im Donbass würde sich das definieren, was Putin innerhalb Russlands als „Äquivalent“ eines Sieges beanspruchen kann – und damit das, was Russland in einer eventuellen Verhandlung zu erlangen versuchen würde.

Russland scheint unter dem doppelten Druck der Kriegsanstrengungen und der harten Wirtschaftssanktionen zu stehen, die ihm von den Vereinigten Staaten und den europäischen Mächten auferlegt wurden. Unterdessen bleibt Zelenskyy an der Macht. Die ukrainische Armee, die zwar bescheiden ist, aber von der NATO ausgebildet und mit modernsten Waffen ausgerüstet wurde, hat den russischen Vormarsch schwieriger gemacht als erwartet. Und obwohl die Vereinigten Staaten und die EU nicht alle auf ihre Seite gezogen haben – China versucht mühsam, seine zweideutige Position aufrechtzuerhalten; Indien hat davon abgesehen, Russland vor den Vereinten Nationen zu verurteilen, und die Petromonarchien der Golfstaaten haben die Aufforderungen des Weißen Hauses, die Ölquoten zu erhöhen, um die Preise zu senken, ignoriert -, hat die NATO in ihrem Kreuzzug gegen Russland vorerst eine einheitliche Linie erreicht. Auf der Grundlage des Leidens des ukrainischen Volkes unter der russischen Invasion gewinnen die westlichen Mächte den Kampf um die öffentliche Meinung zugunsten von Wirtschaftssanktionen (die, wie Nicholas Mulder in seinem kürzlich erschienenen Buch The Economic Weapon: The Rise of Sanctions as a Tool of Modern War1 argumentiert, eine Kriegshandlung sind) und rechtfertigen den Militarismus und die imperialistische Wiederaufrüstung.

Auf dem letzten Dringlichkeitsgipfel bekräftigte die NATO ihre Politik der Expansion nach Osteuropa und kündigte an, dass sie ihre militärische Präsenz an ihrer Ostflanke – den baltischen Staaten, Rumänien, Polen und Bulgarien – mit einer Aufstockung von vier auf acht multinationale Kampfgruppen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer verstärken wird.

Zu diesem Zeitpunkt sind es die Vereinigten Staaten, die aus dieser Situation am meisten Kapital schlagen, indem sie die Führung der imperialistischen „Anti-Putin“-Einheitsfront übernehmen. Biden war einer der Hauptakteure bei den drei Gipfeltreffen, die in der Woche vom 20. März in Europa stattfanden: NATO, G-7 und Europäische Union. Dies ist eine wichtige Kehrtwende nach der deutlichen Verschlechterung des atlantischen Bündnisses und der Beziehungen zu den europäischen Verbündeten in den Jahren der Präsidentschaft von Donald Trump. Die Aufstockung der US-Truppen auf europäischem Territorium – die mit 100.000 Mann bereits die höchste Zahl seit dem Ende des Kalten Krieges sind – ist ein ausdrücklicher Ausdruck dieser Wende. Außerdem kehrte Biden von seiner Europareise zurück, nachdem er mit Deutschland und anderen europäischen Mächten ein wichtiges Abkommen geschlossen hatte, das russisches Gas durch Flüssigerdgas ersetzen wird, das sie zu einem erheblich höheren Preis von den Vereinigten Staaten kaufen werden.

In einem Anflug von übertriebenem imperialistischem Optimismus versprach Biden einer ausgewählten Gruppe amerikanischer Geschäftsleute sogar, dass auf der Grundlage des Erreichens einer „Einheitsfront in der gesamten NATO und im Pazifik“ gegen Putin eine neue Weltordnung entstehe, die von den Vereinigten Staaten angeführt werden werde – eine indirekte Botschaft an China.

Aber mit Ausnahme dessen, was einige antiquierte Denker wie Francis Fukuyama sagen – dass der Krieg in der Ukraine (und die Niederlage Russlands) eine zweite Chance für das „Ende der Geschichte“ sei – werden die internationale Lage und ihre Aussichten ganz anders eingeschätzt. Selbst der IWF vergleicht die Auswirkungen des Krieges mit einem „Erdbeben“. Der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Michael Roberts argumentiert, dass der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine (NATO) die internationale Wirtschaft nach der kurzen Erholung von der Pandemie belastet und den Inflationsdruck durch steigende Energie-, Lebensmittel- und andere Rohstoffpreise verstärkt. Das Risiko einer Stagflation – Inflation in Kombination mit Rezession – ist zu einer realen Bedrohung geworden. Dies kann zu neuen Klassenkämpfen führen, wie wir 2011 gesehen haben, als sich die Ereignisse des sogenannten Arabischen Frühlings angesichts der steigenden Lebensmittelpreise in vielen Ländern entfalteten.

Der Krieg in der Ukraine hat ein Bild der Krise gezeichnet, lebhafter und mit intensiveren Farben als in den letzten Jahrzehnten. Nach der trügerischen Erscheinung einer Welt ohne Kriege zwischen den Großmächten, das durch jahrzehntelange neoliberale Globalisierung geschaffen wurde, kommt er einer „Störung des kapitalistischen Gleichgewichts“ am nächsten. In diesem Rahmen ist es notwendig, diesem reaktionären Krieg entgegenzutreten, indem wir uns sowohl der russischen Invasion in der Ukraine als auch der kriegerischen Politik der NATO aus einer antiimperialistischen und internationalistischen Perspektive widersetzen.

Zuerst erschienen auf Spanisch am 27.3 in Ideas de Izquierda.
1Nicholas Mulder,The Economic Weapon: The Rise of Sanctions as a Tool of Modern War (New Haven, CT: Yale University Press, 2022).

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