Lützerath: Die Grünen und die Logik des geringeren Übels

11.01.2023, Lesezeit 10 Min.
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Foto: anonym

In Lützerath hat die Räumung begonnen. Politisch verantwortlich sind die Grünen – und zwar auf allen Ebenen. Das zeigt: Wenn wir den Planeten retten wollen, dürfen wir uns nicht auf ihre kapitaltreue Politik der hohlen Phrasen verlassen.

Am heutigen Mittwoch hat die Polizei mit der Räumung des Dorfes Lützerath am Rande des Tagebaus Garzweiler II in Nordrhein-Westfalen begonnen. Hier können bis zu 650 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert werden. Der Konzern RWE argumentiert, der Abbau sei nötig, um die Energiesicherheit zu gewährleisten – was in Anbetracht wissenschaftlicher Studien eine dreiste Lüge ist. Die Besetzer:innen vor Ort haben in diesem Kontext bereits den Tag X ausgerufen, woraufhin sich Klimaaktivist:innen aus ganz Europa auf den Weg gemacht haben, den Kampf tatkräftig zu unterstützen. Auch wir von Klasse Gegen Klasse sind in Lützerath, berichten von der Gewalt der Polizei und machen Veranstaltungen in anderen Städten. In einem Akt blanker Doppelmoral sind auch Vertreter:innen der Partei Bündnis 90/Die Grünen dort, um den Kampf “zu unterstützen”. Dabei sind sie es, die die Räumung und den Abbau maßgeblich zu verantworten haben. Deshalb gilt unsere Wut heute nicht nur RWE, sondern auch den Grünen: kapitalistische, verballinke Klimazerstörer:innen.

Die Grünen und Lützerath

Denn die „grüne“ Partei ist alles andere als passive Beobachterin der Klimazerstörung. Auf Bundes- und Länderebene regiert sie mit, etwa als Teil der Ampel-Bundesregierung, der rot-grün-roten Regierung in Berlin, und zu guter Letzt in der schwarz-grünen Landesregierung in NRW. Trotz zahlreicher Machtpositionen ist ihre Erfolgsbilanz mager. Im Bund wird argumentiert, das 9-Euro-Ticket könne nicht weiter finanziert werden, während mal eben 100 Milliarden klimaschädliches Sondervermögen für die Aufrüstung der Bundeswehr aus dem Hut gezaubert werden. Während der Ausbau erneuerbarer Energien auch mit grüner Regierungsbeteiligung stagniert, werden im Handumdrehen die Regularien für den Bau neuer LNG-Terminal ausgesetzt und der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck geht höchstpersönlich auf Shopping-Tour nach Katar, um Gas Deals abzuschließen. In Berlin verschleppen die Grünen mithilfe der Linkspartei und der SPD die Umsetzung des Volksentscheids zur Enteignung von Deutsche Wohnen & Co, der nicht nur sozial notwendig, sondern auch klimapolitisch sinnvoll ist. Um dem allen die Krone aufzusetzen, war es Habeck selbst, der den Kohlekompromiss zur Abbaggerung von Lützerath mit RWE und der grünen NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur beschlossen hat. Sie nannten dies zynisch „einen guten Tag für den Klimaschutz“.

Diese Darstellung findet sich nicht nur in der oberen Bürokratie der Partei, sondern zieht sich durch alle Ebenen: Bund, Länder, Jugendverband und Hochschulgruppen. Die Grüne Jugend (GJ) schafft es teilweise noch mehr oder minder, sich als linkeres und grüneres Korrektiv ihrer Mutterpartei zu präsentieren. Doch auch das ist oft inkonsequent. So hat sich die GJ beispielsweise gegen das Bundeswehr-Sondervermögen positioniert – und doch haben sich im Bundestag alle Abgeordneten der GJ der Parteilinie angepasst und dafür gestimmt. Das gleiche Muster wiederholte sich bei der Abstimmung zum Kohlekompromiss, zu dem es vonseiten der GJ ebenfalls keine Gegenstimme gab. Auch an der Freien Universität Berlin stehen wir im Rahmen des derzeit laufenden Wahlkampfes zum Studierendenparlament oft der grünen Hochschulgruppe gegenüber: Konfrontiert mit unseren Vorwürfen zucken diese entweder mit den Schultern oder loben den Kohlekompromiss ganz im Sinne Habecks als den besten „realpolitischen“ Weg. Wir erkennen: Die Grünen vertreten konsequent die Interessen der Konzerne – linken Phrasen zum Trotz.

Ihre Doppelmoral zeigt sich auch in ihrem aktuellen Umgang mit der Räumung Lützeraths. Katrin Göring-Eckardt tweetet, dass sie “die Hartnäckigkeit, mit der die Demonstrierenden mehr Klimaschutz fordern” teile. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen NRW, Wibke Brems, bedauert, dass Lützerath “leider nicht mehr zu retten” ist, aber daran sind die anderen Schuld. Die Grünen hingegen hätten erreicht, dass mit dem Kohleausstieg 2030 rund 280 Millionen Tonnen Braunkohle unter der Erde blieben. Wir fragen uns: Was ist denn mit den 650 Millionen Tonnen unter Lützerath? Tatsächlich trauen sich Vertreter:innen der grünen Partei, Lützerath zu besuchen, so etwa der Bundessprecher der GJ Timon Dzienus oder die Bundestagsabgeordnete Kathrin Henneberger. Letztere war sogar von 2018 bis 2020 Pressesprecherin von Ende Gelände. Jetzt brilliert sie in einem Interview mit wirren Aussagen über die vermeintlichen Erfolge der grünen Regierungsbeteiligung und appelliert an die Konfliktparteien, innezuhalten und miteinander zu reden. Anderswo gibt sich Henneberger verwundert: „Im Bundestag erlebe ich, wie groß die Macht der Fossillobby ist.“ Was für eine Überraschung! Damit können wir uns nicht abfinden. Wir sagen: Grüne raus aus Lützerath, wir brauchen eure Hilfe nicht!

Die Grünen in der Polizei

Dass die Grünen die Polizei als rechtmäßige Trägerin des Gewaltmonopols des kapitalistischen Staates ansehen, steht außer Frage. Die ultimative Ironie in Lützerath zeigt sich allerdings in der Tatsache, dass der Aachener Polizeipräsident Weinspach, zuständig für die Räumung, selbst Parteimitglied der Grünen ist. Die Grünen sind also tatsächlich auf allen Ebenen heuchlerisch tätig, sogar in der Polizei. Weinspach betont zwar das Dilemma, in dem er sich moralisch befinde. Allerdings führe er seine Tätigkeit als Beamter fachlich und nicht politisch aus. Herr Weinspach, wenn Sie für RWE Aktivist:innen verprügeln lassen, ist das ein politischer Akt, egal wie Sie das umschreiben wollen. Es gibt immer ein Recht auf Dienstverweigerung!

Auch versuche er mit den Besetzer:innen ins Gespräch zu kommen und setze in der Räumung auf Deeskalation. Die Bilder und Videos, die uns über unsere Genoss:innen vor Ort und über Twitter erreichen, sehen allerdings ganz anders aus. Sogar GJ-Sprecher Dzienus postet ein Video von den Cops und widerspricht diesem Narrativ mit den Worten: „Selten so viel Polizei gesehen: Mit Deeskalation hat das hier wenig zu tun.“

Die Logik des geringeren Übels und Realpolitik

Die Krise der Klimabewegung hat viel mit enttäuschten Hoffnungen in die Grünen und den Reformismus generell zu tun. Zu viel radikale Energie verläuft in friedvollen Parteistrukturen, zu viele Hoffnungen wurden auf Habeck, Baerbock und Co. gesetzt. Das  Bündnis zwischen den bürgerlichen Parteien des „linken“ Spektrums und Teilen der radikalen Klimabewegung war stets eine Hassliebe. Auch die Klimabewegung ist schon länger durch eine Entfremdung von den Grünen und der Linkspartei gekennzeichnet. Doch ob man es nun „rebellisches Regieren“ oder „kritische Wahlunterstützung“ nennt, wie linke Gruppen es innerhalb oder in Bezug auf die Linkspartei oft tun, es läuft auf dasselbe hinaus: Ein „Weiter so“ an die Regierung und die Kohlekonzerne. Die strategische Sackgasse dieses Vorgehens hat sich bereits bei der DWE-Kampagne gezeigt, in dessen Rahmen die Interventionistische Linke bis heute gegen alle Parteien rechts der SPD mobilisiert, aber Linksspartei und Grüne außenvor lässt – während diese die Verschleppung der Enteignung mittragen. Die Sackgasse zeigt sich, wenn Leute wie Kathrin Henneberger aus der Klimabewegung heute Ämter bei den Grünen belegen und plötzlich die Aktionen einer Partei rechtfertigen, die sich offen gegen ihre früheren Ziele als Aktivist:innen stellt. Die Sackgasse zeigt sich nun erneut in Lützerath.

Bei den Grünen läuft dieser Verrat unter dem Titel der klimafreundlichen „Realpolitik“. Aber ist es klimafreundliche Realpolitik, wenn 650 Millionen Tonnen unnötig abgebaut werden? Ist es klimafreundliche Realpolitik, wenn sogar das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Lützerath als Dreh- und Angelpunkt für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels erkennt? Natürlich, der Kohlekompromiss markiert für die Grünen „einen guten Tag für den Klimaschutz“, weil sie damit den Kohleausstieg auf 2030 vorziehen konnten. Doch auch hier erkennen wir wieder die alte Strategie des Reformismus: Verbale Zugeständnisse neben materieller Zerstörung. Denn Lützerath ist schon jetzt materiell und unmittelbar wichtig, um den Planeten zu retten. Verbale Vereinbarungen sind jetzt erst mal gar nichts außer eine Willensbekundung. Und diese kann von zukünftiger Politik umgangen, verschoben, ausgehebelt werden. Vermutlich werden die Grünen auch nicht bis 2030 in der Regierung bleiben. Die Erfahrungen des Reformismus zeigen darüber hinaus: Selbst wenn die Grünen regieren, wird die Klimazerstörung an der Seite der Großkonzerne vorangetrieben.

In der Klimabewegung und der radikalen Linken läuft die Unterstützung der Grünen unter der Logik des „geringeren Übels“: Würden wir uns nicht auf Grüne, Linkspartei und so weiter verlassen, wäre alles noch viel schlimmer. Dann würden SPD, CDU und FDP schließlich alleine regieren. Ohne Grüne und Linke würde der Tagebau noch weiter ausgebaut werden, und so fort. Aber angesichts der rapide eskalierenden Klimaerwärmung bricht diese Logik komplett in sich zusammen. Es gibt kein „geringeres Übel“, wenn auch der beste Kompromiss das 1,5-Grad-Ziel verfehlt, Lebensräume und Artenvielfalt zerstört und zehntausende Klimatote zu verantworten hat. Die Logik des „geringeren Übels“ hat gezeigt, dass es unmöglich ist, gemeinsam mit Unternehmen und rechten Parteien über Klimaschutz zu verhandeln. Diese historische Fehleinschätzung der Klimabewegung hat uns alle viel gekostet und unwiderrufliche Schäden verursacht. Ihre Misserfolge entblößen die reformistische Strategie als staatstragend und den Kapitalismus stabilisierend: Protest wird in handliche Bahnen gelenkt, während Großkonzerne weiter den Planeten und die Menschen ausbeuten. Deshalb ist es nun nötig, diese Strategie aufzugeben, die Verhandlungen abzubrechen und keine Hoffnungen mehr auf die Grünen und den Reformismus zu setzen.

Appell an die Klimabewegung

Die Zeit der Grünen ist vorbei. Wir müssen jetzt die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Mit jedem Tag schwindet die Wahrscheinlichkeit, Lützerath tatsächlich verteidigen zu können. Aber der Kampf ist nicht vorbei und wir werden nicht aufgeben. Um die Fehler des Reformismus nicht erneut zu begehen, müssen wir uns gemeinsam mit den Beschäftigten für die entschädigungslose Enteignung der Energiekonzerne unter Arbeiter:innenkontrolle; für ein Ende der Ausbeutung von Mensch und Natur; und für einen revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus einsetzen. Nur so haben wir eine Chance, die Macht der Konzerne und ihren Lobbys zu brechen. Gegen Staat und Kapital, und damit gegen die Grünen!

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