Lenin und die Zeitung (II): Die Prawda – Eine Zeitung zum Aufbau der Partei

08.04.2017, Lesezeit 7 Min.
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Die Prawda hat sich zu einer Zeitung von und für Arbeiter*innen entwickelt, unter der Mithilfe von linken Intellektuellen.

Lenin und die Zeitung (I): Die Phase der Iskra

Lenin und die Zeitung (II): Die Prawda – Eine Zeitung zum Aufbau der Partei

Für Lenin spielt die Presse eine komplett andere Rolle als für die Bourgeoisie: „Die Zeitung ist nicht nur ein kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator, sondern auch ein kollektiver Organisator.“ Damit ist nicht irgendein Organisator gemeint, sondern eine Partei der Aktion, die als starke Akteurin in die politische Realität eingreifen kann und in der Lage ist, die die Gesellschaft von Grund auf zu verändern. Aber wie konnte eine Organisation von Hunderten mit einer täglichen Arbeiter*innenzeitung Hundertausende beeinflussen? Um diese Frage zu beantworten betrachten wir die Geschichte der Prawda (Russisch für Wahrheit) von 1912 bis 1914, als sie sich unter der Leitung von Lenin befand.

Während die Iskra eine Zeitung für Arbeiter*innen war, die Hunderte von Leser*innen erreichte und damit die über Russland und im Exil verstreuten marxistischen Organisationen vereinte, wurde die Prawda eine Zeitung von und für Arbeiter*innen, unter der Mithilfe von linken Intellektuellen. Deshalb war es für die Arbeiter*innen notwendig, ihre eigene Zeitung zu haben. Im selben Werk schrieb Lenin:

Ohne ein politisches Organ ist im heutigen Europa eine Bewegung, die die Bezeichnung politisch verdient, undenkbar. Ohne ein solches Organ ist unsere Aufgabe – alle Elemente der politischen Unzufriedenheit und des Protestes zu konzentrieren und mit ihnen die revolutionäre Bewegung des Proletariats zu befruchten – absolut undurchführbar.

Zu Beginn des Jahrzehnts von 1910 fand ein neues Erwachen von Arbeitskämpfen statt und die Studierenden radikalisierten sich. Im Jahr 1911 hatten sich am 1.Mai 400.000 Arbeiter*innen mobilisiert. Die Bolschewiki entschieden zu handeln. Auf der Parteikonferenz im Januar 1912, wo die Spaltung zwischen ihnen und den Menschewiki sich vertiefte, machten sie die Prawda zu ihrer offiziellen Publikation. Die Redaktion wurde in St.Petersburg eingerichtet, dem lebhaften Zentrum der russischen Arbeiter*innenbewegung, und veröffentlichte ihre erste Ausgabe unter der Leitung von Lenin am 5. Mai 1912. Fünfzehn Tage zuvor war der Zarismus mehr als 6.000 streikenden Minenarbeiter*innen in der Region Lena (nahe Sibirien) mit heftiger Repression begegnet und hinterließ hunderte tot und verwundet. Die Wut der Arbeiter*innen entflammte sich im ganzen Land und mehr als 300.000 Menschen beteiligten sich an den Kampftagen. Die Prawda nutzte die Gunst der Stunde und veröffentlichte ihre erste Ausgabe mit einer massiven Kampagne zur Agitation in den Fabriken und auch unter den Minenarbeiter*innen von Lena, um Abonnements zu bewerben. Es war das erste Mal, dass die Bolschewiki eine legale Zeitung herausbrachten. Sie kostete zwei Kopeken und beinhaltete vier Seiten mit ökonomischen Artikeln, Texten über die Arbeiter*innenbewegung, die Streiks und Nachrichten aus dem täglichen Leben der Arbeiter*innen (ausserdem waren zwei proletarische Gedichte in der ersten Ausgabe enthalten).

Die Prawda klagte den wahren Charakter der Ausbeutung des kapitalistischen Systems und den Autoritarismus des Zaren an. Gleichzeitig bildete sie Tausende von Arbeiter*innen darin, ihre ökonomischen und gewerkschaftlichen Kämpfe in politische zu verwandeln. Die Zeitung kombinierte auf ihren Seiten die Agitation ausgehend von den Parlamentssitzen der Arbeiter*innen mit Elementen marxistischer Bildung, um die nationale und internationale Situation zu erklären. Sie stieß auch große politische Kampagnen an, um die Wut der Arbeiter*innen in die Form von Organisierung zu kanalisieren. Im Jahr 1912 war ein zentrales Projekt der Zeitung eine Kampagne für ein Rentensystem für alle Arbeiter*innen.

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Die Prawda im Jahr 1912

Die Korrespondent*innen, Rückgrat der Prawda

Lenin nahm sich ein Beispiel an der amerikanischen Zeitung „Appeal to Reason“ (Appell an die Vernunft), die eine halbe Million Abonnent*innen unter städtischen und ländlichen Arbeiter*innen hatte und hunderte Korrespondent*innen hatte. Ihre einfache und populäre Sprache erlaubte eine schnelle Verbreitung. Der revolutionäre Anführer wollte dasselbe „Rezept“ auf die politische Konjunktur Russlands anwenden, denn für den schnellsten Weg zur Erlangung eines Klassenbewusstseins hielt er die eigene Erfahrung der Arbeiter*innen. Deshalb dachte er die Presse in einer strategischen Form – mit dem Ziel des Aufbaus einer revolutionären Partei.

Immer mehr Korrespondent*innen aus ganz Russland sandten täglich 40 Zuschriften – für die bekannte Rubrik „Berichte von Korrespondent*innen“ – und es entstanden mehr als 500 Gruppen, die die Veröffentlichung der Prawda finanziell unterstützten. In den Briefen klagten die Arbeiter*innen die Ausbeutungsbedingungen an, denen sie unterworfen waren, sie schrieben ihre Meinungen zu Wahlkampagnen, Wahlen zu Delegierten der Fabriken, verschiedenen allgemeinen Themen des täglichen Lebens, die das ganze Volk betrafen. Diese Berichte bildeten das Rückgrat der Zeitung.

Die russischen Arbeiter*innen erkannten die bolschewistische Zeitung als „unser Tagebuch“ an. Während die erste Ausgabe noch eine Auflage von 25.000 Exemplaren hatte, überschritt sie in den darauffolgenden Wochen die 60.000. Einige Fabriken traten um die größere Zahl an Abonnent*innen in Wettstreits gegeneinander.

Die russischen Arbeiter*innen konnten die Ausbeutung und Unterdrückung auch in der Sonderrubrik „Arbeit und Leben der Arbeiter*innen“ anklagen. Es wurde über Demonstrationen und Vorbereitungen für den Frauentag informiert. Die Prawda ermutigte außerdem die Gründung von Organisationen, Gewerkschaften und Frauengruppierungen.

Lenin schlug vor, dass sich die Zeitung in regionale Ausgaben aufteilen (Moskau, Ural, Ukraine und andere) und Beilagen enthalten soll, wie zum Beispiel zu Gewerkschaften. Seine Anspannung in Bezug auf die Nutzung der Presse war ununterbrochen. Er schrieb nicht nur kleine Notizen, in denen er die Grundzüge des kapitalistischen Systems erklärte und die Notwendigkeit, es zu überwinden. Er verfasste Kritiken an Beiträgen, trug Ideen bei und befand sich während seiner Zeit im Exil in permanentem Austausch mit der Redaktion.

Die Informationen, die sich den Ausgaben der Prawda entnehmen ließen, waren ein grundlegendes Mittel um die Stimmung der Massen wissenschaftlich einschätzen zu können: „Zum ersten Mal versorgen sie uns mit sehr präzisen Daten zu den diversesten Aspekten der Arbeiter*innenbewegung und dem Leben der Arbeiter*in.“(*) Die Korrespondent*innen waren wie Sensoren, die die Stimmung des Proletariats weitergaben.

Die Zensur und die „eisernen Kassen“

Trotz Klagen, Schließungen, Verhaftungen von Aktivist*innen, Bussgeldern und
Gerichtsverfahren erschien die Zeitung montags bis samstags. Sie musste acht mal den Namen wechseln, um der zaristischen Zensur zu entgehen. Auch geheime Druckereien wurden eingerichtet, um Kontrollen zu vermeiden. Viele Arbeiter*innen spendeten einen Tagelohn an die „eiserne Kasse“, die zur Zahlung der hohen, fast täglich fälligen Geldstrafen eingerichtet worden war. Diese Spenden drückten ein Gefühl von Zugehörigkeit aus, die die Avantgardesektoren der Arbeiter*innenbewegung der Prawda gegenüber empfanden – sie sahen es als „ihre Zeitung“ an.

Die polizeiliche Verfolgung und die starke Kampagne gegen den Krieg seitens der leninistischen Zeitung, führten letztendlich im Auftrag des Zaren am 14. Juli, mitten im 1. Weltkrieg, zur Schließung der Publikation.

Die Prawda gewann im Frühjahr 1917 wieder an Kraft, als sie zum „Volkstribun“ und zum kollektiven Organisator im revolutionären Prozess wurde. Die Kader, revolutionäre Aktivist*innen, die den Aufstand anführten, wurden in der Hitze dieser Erfahrungen geschmiedet (viele begannen ihre Organisierung im Aufwand von 1912) und bildeten die Vorhut der revolutionären Partei, wie wir im nächsten Teil der Serie sehen werden.

Dieser Beitrag erschien erstmals in La Izquierda Diario am 28. Juli 2016.

(*) Lenin „Die Ergebnisse der Arbeit eines halben Jahres“, 1912.

Die Prawda in Zahlen
2.873 Beiträge von Arbeiter*innengruppen in Geldsammlungen zwischen 1912 und 1914.

645 veröffentlichte Ausgaben.

11.000 Briefe wurden jedes Jahr empfangen (zwischen 35 und 40 pro Tag)

60.000 Ausgaben waren mit der Zeit die durchschnittliche Auflage.

49 Städte erreichte die Prawda mit ihren Korrespondent*innen.

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