„Ganz Berlin hasst die AfD“? 1.400 auf der Straße gegen rechten Aufmarsch

10.10.2022, Lesezeit 10 Min.
1
Foto: Joseph Koch

Rund 10.000 Rechte folgten dem Aufruf der AfD zur Demonstration durch das Berliner Regierungsviertel. Während die rechte Mobilisierung die Erwartungen deutlich übertraf, blieb der Gegenprotest klein. Die Diskussion über die Gründe dafür muss die gesamte Linke beschäftigen.

Ein Selfie mit zufriedenem Grinsen, im Hintergrund der Reichstag: Beatrix von Storchs Tweet vom Protest der Alternative für Deutschland (AfD) stand wohl bildlich für die Stimmungslage der Parteispitze am vergangenen Samstag. Rund 10.000 Menschen kamen nach Angaben der Polizei unter ihrer Führung zur Demonstration durch das Berliner Regierungsviertel zusammen.

Als Teilnehmer:in des Gegenprotests hingegen war das Lachen bestenfalls ungläubig. Auf zahlreiche Kundgebungen verstreut nahmen laut Polizei nur 1.400 Menschen an Gegenprotesten gegen den rechten Aufmarsch teil. Sie sahen sich zudem einem großen Polizeiaufgebot gegenüber. Bereits der Zugang zu den Gegenprotesten wurde von der Polizei erheblich erschwert. Darüber zeigten sich sogar Vertreter:innen der Berliner SPD verwundert.

Das Motto des rechten Protestes lautete „Energiesicherheit und Schutz vor Inflation – Unser Land zuerst“. Soziale Forderungen jedoch standen nicht im Zentrum der Rechten, umso mehr jedoch die Interessen der deutschen Wirtschaft: Es ging um Steuersenkungen und die Gewährleistung der Energieversorgung durch Kohle- und Atomstrom. Auch die Forderung nach der Öffnung der Gaspipeline Nord Stream 2 spielt für die AfD eine wichtige Rolle.

Angemeldet hatte die AfD nur 4.000 Demonstrationsteilnehmer:innen. Unter dem großflächigen Ausfall des Zugverkehrs in Norddeutschland scheint die bundesweite Mobilisierung der Rechten also kaum gelitten zu haben. Das Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses für die AfD, Gunnar Lindemann, fühlte sich wie auch viele andere Rechte auf Twitter dennoch zu dem Raunen inspiriert, die Bahn habe „ausgerechnet“ heute den Verkehr eingestellt.

Dabei waren die Proteste auch eine praktische Auseinandersetzung um die Frage, wer den weitverbreiteten Unmut über die Regierungspolitik und die Preissteigerungen zum Ausdruck bringen kann. Für die AfD ging es dabei nicht nur darum, sich gegenüber der politischen Linken zu behaupten. Auch innerhalb des rechten Spektrums hat die Partei durchaus Konkurrenz, lokal etwa durch die Kleinpartei Freie Sachsen. Das Ziel der Demonstration bestand für sie also auch darin, sich an die Spitze des dezidiert rechten Teils der Protestbewegung zu setzen – mit Erfolg, wie es scheint.

Neben Fahnen der AfD, russischen Flaggen und Schwarz-Rot-Gold ragten auch schwarz-weiß-rote Reichsfahnen in den zu Beginn der Kundgebung wolkenverhangenen Himmel. Wohl aus Sorge um die Außenwahrnehmung riet die Versammlungsleitung dazu, diese herunterzunehmen. Verbergen konnte das jedoch nicht, dass auch organisierte Neonazis an der Demonstration teilnahmen.

Die AfD zielt darauf, dem berechtigten Unmut in großen Teilen der Bevölkerung Ausdruck zu verleihen. Das Programm jedoch, das sie in ihrer Demonstration zum Ausdruck brachte, ist demagogisch. Ihre wirtschaftlichen Forderungen sind im Kern zutiefst liberal. „Unser Land zuerst“ bedeutet für die Rechten nichts anderes als „die deutsche Wirtschaft zuerst“, deren ökonomisches Modell jahrzehntelang auf günstigen fossilen Energieimporte unter anderem aus Russland fußte. Dieses hat der Krieg in der Ukraine und die Antwort der Bundesregierung infrage gestellt. Doch nicht nur die AfD, auch Sahra Wagenknecht vertrat eine ähnliche Position in ihrer innerparteilich heiß umstrittenen Rede im Bundestag vor einigen Wochen.

Viele Aufrufe, wenig Gegenprotest

„Ganz Berlin hasst die AfD!“ war eine der beliebtesten Parolen derjenigen, die sich dem rechten Aufmarsch entgegenstellen wollten. Von „ganz Berlin“ konnte jedoch kaum die Rede sein. Nur 1.400 Menschen schlossen sich dem Gegenprotest an.

Zur Gegendemonstration auf der Reichstagswiese in unmittelbarer Nähe zur Auftaktkundgebung der AfD auf dem Platz der Republik hatte unter anderem das Bündnis „Aufstehen gegen Rassismus!“ aufgerufen. Den Aufruf unterzeichneten eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Initiativen, mit der GEW Berlin und der ver.di-Jugend Berlin auch gewerkschaftliche Gliederungen, Gruppen der radikalen Linken wie die Interventionistische Linke Berlin (IL), aber auch die in Berlin regierenden Parteien SPD, Grüne und DIE LINKE.

Dabei beinhaltete der Aufruf des Bündnisses durchaus auch eigene soziale Forderungen. Eine soziale Welt, heißt es darin, in der niemand im Winter frieren müsse, sei möglich – „aber nur ohne, nur gegen die AfD!“

Auch das „Bündnis für ein weltoffenes und tolerantes Berlin“ lud zum Protest auf der Reichstagswiese. Ihm gehören neben dem DGB Berlin auch Sozialverbände und religiöse Institutionen an. Dementsprechend vage blieben die Forderungen des Bündnisses, dass die „Bundes- und Landespolitik alle Menschen in Not entlastet und absichert“, wie es der Aufruf des Bündnisses formulierte. Man wolle zeigen, was man von der Politik und Gesellschaft erwarte und protestiere gleichzeitig gegen die Vereinnahmung der eigenen Anliegen durch die AfD.

Statt eines zentralen Protests fanden an mehreren anderen Orten entlang der rechten Marschroute Proteste gegen die AfD statt. In der Nähe des Denkmals für die im NS ermordeten Sinti und Roma Europas hatten die „Omas gegen rechts“ sowie die Jusos eine Kundgebung angemeldet, am Pariser Platz fand eine Kundgebung von Musiker:innen der Kampagne „Die Vielen“ statt. Auch ein Rave-Gegenprotest und eine Fahrraddemonstration gehörten zum Aufgebot. Nur: Klein blieben sie alle.

Angesichts der Vielzahl an aufrufenden Organisationen blieb die Zahl der Teilnehmer:innen an der Kundgebung deutlich hinter den Erwartungen zurück. Die letzte größere Demonstration der AfD in Berlin 2018 hatte eine Gegendemonstration mit 25.000 Teilnehmer:innen noch deutlich übertroffen. Eine echte Anstrengung, Menschen aus den eigenen Reihen zu mobilisieren, scheint es weder in der radikalen Linken noch in den Gewerkschaften gegeben zu haben. Auch von der Klimagerechtigkeitsbewegung war wenig zu sehen, obwohl Fridays for Future Berlin den Aufruf zum Gegenprotest unterzeichnet hatte.

Während die Gegenkundgebungen also klein blieben, kam es auf und neben der Strecke des Aufmarsches zu vereinzelten kreativen Protestaktionen. So setzte sich vorübergehend eine kleine Gruppe mit einem Banner im AfD-Design an die Spitze des Demonstrationszugs. Den Inhalt bemerkten die Rechten jedoch erst nach einigen Augenblicken: „Preisdeckel, Umverteilung, Vergesellschaftung, Solidarität – alles, was es braucht, lehnt die AfD ab.“

Zu einer weiteren Störaktion kam es auf der Friedrichstraße. Aus einem Fenster regneten zu Konfetti verarbeitete Flyer der AfD auf die rechte Demonstration herab. Verantwortlich für die Aktion zeichnete das linksliberale „Zentrum für politische Schönheit“. Nach Angaben der Polizei scheiterten ebenfalls auf der Friedrichstraße zudem mehrere Blockadeversuche.

Vom AfD-Gegenprotest zum heißen Herbst von links?

Den Kampf um die Deutungshoheit findet derweil nicht nur in der Rechten statt. Neben sozialistischen Gegner:innen der Sanktionspolitik der Bundesregierung fanden sich auf der Kundgebung von „Aufstehen gegen Rassismus!“ auch ukrainische Nationalist:innen und Anhänger:innen der Regierungsparteien SPD und Grüne. Der Redner der IL steig in seine Rede auf dem Gegenprotest ein, indem er den Nationalismus der AfD mit dem des „beschissenen Wagenknechtflügels“ gleichsetzte.

Als auszubildende Pflegekräfte sprachen auch Zaza und Leo von der Gruppe „Young Care“ aus der Berliner Krankenhausbewegung auf jener Kundgebung. Sie betonten, dass die Maßnahmen der Bundesregierung gegen die Inflation nicht ausreichen. Die 100 Milliarden für die Bundeswehr hätte anderswo besser geholfen, so die beiden jungen Krankenhausbeschäftigten. Gleichermaßen hielten sie fest: „Die AfD macht keine Politik für lohnabhängige Menschen.“ Parteien wie ihr dürfe man nicht das Feld überlassen. Daraus schlossen sie, dass es unabhängige gewerkschaftliche Proteste und Streikbewegungen brauche. Denn: „Wir sind es, die reale Veränderung schaffen.“

Die Rede der beiden Pflegeazubis bietet umgekehrt eine Erklärung, warum die Gegenproteste von einem Mobilisierungserfolg so weit entfernt blieben. So scheint ein zivilgesellschaftlicher Aufruf zum Protest, der als Verteidigung der Regierung wahrgenommen wird, kaum Leute auf die Straße zu bringen, die die Auswirkungen eben jener Politik auf der Heizkostenabrechnung und an der Supermarktkasse zu spüren bekommen. Das kann nur die Selbstdarstellung der Rechten als einzige tatsächliche Opposition stärken.

Was so dringend gefehlt hat, war eine starke, vereinte linke und gewerkschaftliche Mobilisierung – nicht jedoch nur in Opposition zu den Rechten, sondern vor allem mit einem eigenen sichtbaren Programm gegen die Inflation und die Krise. Dass Linke und Rechte für dieselben Forderungen auf die Straße gehen würden, ist eine schwache Diffamierung, die in bürgerlichen Medien immer wieder vorgebracht wird. Umso deutlicher müssen wir gegen die rassistische Hetze der Rechten, die die Migration in Zusammenhang mit der Krise bringen, auch antirassistische Forderungen stark machen. Dazu gehören die Forderung nach bedingungsloser Aufnahme, Aufenthaltsrecht und die Anerkennung ihrer Abschlüsse sowohl für ukrainische Geflüchtete, die russischen Deserteure und für alle anderen Geflüchteten. Und auch für die Energiekrise müssen wir eine ganz andere Antwort geben, als Atom- und Kohlekraft weiterzubetreiben. Die dringend nötige Verstaatlichung des Energiesektors unter der Kontrolle der Beschäftigten und der Verbraucher:innen könnte nicht nur die Versorgungssicherheit der Privathaushalte und der kleinen Unternehmen sichern. Sie würde auch eine breite demokratische Entscheidung darüber ermöglichen, wie und wofür die Energie produziert wird, und einen ökologischen Umbau im Interesse der Mehrheit statt der Konzerne vorantreiben.

Auch eine entschiedene Ablehnung der Ziele der NATO im Ukrainekrieg heißt nicht, dass wir uns mit rechten Forderungen gemein machen würden. Die russischen Flaggen auf dem AfD-Marsch zeigen überdeutlich, dass die Ablehnung der NATO von rechts eine Parteinahme für die Putinregierung bedeutet. Die Linke hingegen darf sich keinesfalls mit einer Position gemein machen, die den Wirtschaftskrieg der westlichen Imperialismen nur kritisiert, weil darunter ein Teil der deutschen Wirtschaft leidet. „Weder Putin, noch NATO“ bedeutet auch nach über einem halben Jahr Krieg in der Ukraine eine konsequente Parteinahme für die arbeitenden Massen sowohl in Russland, der Ukraine und im Westen. Das bedeutet die Ablehnung der Wirtschaftssanktionen, die sowohl in Russland als auch hierzulande die Lebensbedingungen der arbeitenden Mehrheit verschlechtern. Sie bedeutet aber auch die bedingungslose Solidarität mit der russischen Antikriegsbewegung und mit den tausenden Deserteuren, die sich der Mobilmachung der russischen Armee entziehen wollen.

Allein auf der Ebene des Programms aber werden wir als Linke und Gewerkschafter:innen jedoch den Kampf gegen die Rechten um die Führung über die Protestbewegung nicht gewinnen können. In der Praxis gilt es zu beweisen, dass die Arbeiter:innenbewegung die Kraft und den Willen hat, den existierenden Unmut gegen die Regierung zu richten. In weniger als zwei Wochen organisiert das Bündnis „Solidarischer Herbst“, an dem auch die Gewerkschaften ver.di und GEW beteiligt sind, in sieben deutschen Großstädten Kundgebungen gegen die Preissteigerungen. Es geht darum, diesen Protest so kraftvoll werden zu lassen, dass den Rechten das selbstzufriedene Lachen vergeht.

Mehr zum Thema