Für den Wiederaufbau der Vierten Internationale!

17.05.2012, Lesezeit 15 Min.
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Die Vierte Internationale wurde am 3. September 1938 in einem Haus außerhalb von Paris gegründet. Die Bedingungen dafür hätten nicht schwieriger sein können.

Die drei vorhergehenden Internationalen waren natürlich auch schwierigen Bedingungen ausgesetzt. Doch die 1864 gegründete Erste Internationale etablierte sich am Vorabend der Pariser Kommune, als Aufstände gegen feudale Herrschaft in Italien und Polen tobten. Die 1889 gegründete Zweite Internationale entstand zur Zeit des Aufstiegs der ersten politischen Massenparteien der ArbeiterInnenklasse. Die 1919 gegründete Dritte Internationale stützte sich auf die erste erfolgreiche proletarische Revolution der Geschichte, die Oktoberrevolution in Russland.

Doch die Vierte Internationale musste in einer Zeit der überwiegenden Niederlagen gegründet werden: Der deutsche Faschismus hatte bereits die bestorganisierteste ArbeiterInnenbewegung der Welt zerschlagen und Francos faschistische Truppen waren im Spanischen BürgerInnenkrieg im Vormarsch. Imperialistische Angriffskriege in Äthiopien und China deuteten auf den heranrückenden Weltkrieg hin. Der ArbeiterInnenstaat, der aus der Oktoberrevolution hervorgegangen war, war unter einer konterrevolutionären Bürokratie, deren bekanntester Vertreter Stalin hieß, degeneriert: Diese Bürokratie kämpfte nicht mehr für die Weltrevolution, sondern für ihre eigene „Stabilität“ und erdrosselte für ihre eigenen Privilegien revolutionäre Prozesse. Der Stalinismus bekämpfte die revolutionäre ArbeiterInnenbewegung unter dem Deckmantel einer angeblichen Verteidigung der Oktoberrevolution – und dabei besonders die Kräfte, die die wirkliche Tradition von 1917 hochhielten, nämlich die Bolschewiki-LeninistInnen, deren bekanntester Vertreter Leo Trotzki hieß.

Gründung der Vierten Internationale

Der stalinistische Repressionsapparat bekämpfte die trotzkistische Opposition mit allen Mitteln. Unter den 21 Delegierten aus 11 Ländern, die die Vierte Internationale im Jahr 1938 gründeten, war ein Agent des stalinistischen Geheimdienstes NKWD. Mark Zborowski, bekannt unter dem Namen Étienne, war schon ein halbes Jahr vorher in der Ermordung von Trotzkis Sohn, Leo Sedow, verwickelt. Auf der Konferenz vertrat er die größte Sektion der neuen Vierten Internationale, die in der Sowjetunion. Doch konnten die KonferenzteilnehmerInnen nicht ahnen, dass Zehntausende sowjetischen Bolschewiki-LenninistInnen von denen viele Veteranen der Oktoberrevolution waren, die gegen den Stalinismus gekämpft hatten  und bereits seit Jahren in Gulags gefangen waren, im Winter 1937/38 erschossen wurden. Die stalinistische Bürokratie hatte die revolutionäre Avantgarde physisch ausgerottet. Auch Rudolf Klement, der mit den Vorbereitungen der Konferenz beauftragt war, verschwand am 12. Juli in Paris – zwei Wochen später tauchte seine enthauptete Leiche am Ufer der Seine auf. Am Rand der Konferenz bewegte sich auch der stalinistische Spitzel Ramon Mercader, der zwei Jahre später Trotzki selbst ermordete.

Angesichts all dessen wäre es leicht gewesen, das gesamte Projekt als hoffnungslos – als ein Hirngespenst eines alten, gescheiterten Revolutionärs – abzuschreiben.

Doch die Vierte Internationale konnte – als einzige ArbeiterInnenorganisation weltweit – eine internationalistische Position gegen den imperialistischen Krieg aufzeigen und aufrechterhalten. Während der Stalinismus jeden revolutionären Anspruch aufgab und einen „großen vaterländischen Krieg“ unter dem Banner des russischen Nationalismus (oder des französischen, griechischen, jugoslawischen usw. Nationalismus) führte, konnten die Kräfte der Vierten Internationale für die weltweite Einheit der ArbeiterInnenklasse eintreten und zum Beispiel mit der Zeitung „Arbeiter und Soldat“ illegale revolutionäre Zellen innerhalb der Wehrmachtstruppen in Frankreich organisieren. Dieses Beispiel zeigt wie viele andere auch, dass die Vierte Internationale die revolutionäre Tradition, die durch den Verrat der Sozialdemokratie und des Stalinismus abzureißen drohte, bewahrte.

Degeneration nach dem Krieg

Die Vierte Internationale war mit der Prognose gegründet worden, dass der imperialistische Krieg und die kapitalistische Barbarei bislang unbekannte Ausmaße erreichen würden – aber auch, dass ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg revolutionäre Erhebungen auf der ganzen Welt stattfinden und die konterrevolutionären Apparate (Sozialdemokratie und Stalinismus) wegfegen würden. Diese Erhebungen fanden durchaus statt, vor allem in der kolonialen Welt. Doch die Apparate waren nicht geschwächt sondern gestärkt aus dem Krieg hervorgegangen. Die Militärmacht der Roten Armee im Osten und der Nachkriegsboom im Westen stärkten die konterrevolutionäre Ordnung auf dem gesamten Planeten, die „Jalta Ordnung“.

Anstelle, der Entwicklung zu einer Massenkraft, verblieb die Vierte Internationale samt ihrer Kader – viele davon wurden schon während des Krieges vom Faschismus und Stalinismus hingerichtet – in Isolation. Durch ihre politische Desorientierung gingen diese Kräfte dazu über, sich verschiedenen konterrevolutionären Führungen anzupassen: Den reformistischen Parteien im Westen wie der SPD in Deutschland oder der Labour Party in Großbritannien, in die sich die TrotzkistInnen auflösten; und die stalinistischen Regime von Tito in Jugoslawien (das sich mit Stalin überworfen hatte aber trotzdem stalinistisch blieb), von Mao in China oder von Castro auf Kuba. Schließlich hat die Vierte Internationale 1952 bei der Revolution in Bolivien, wo sie auf wirklichen Masseneinfluss in der ArbeiterInnenbewegung zählen konnte, nur ein bürgerlich-nationalistisches Regime kritisch unterstützt, anstatt für die Macht der ArbeiterInnen und der Bauern und Bäuerinnen zu kämpfen. Insgesamt übernahm die Führung der Vierten Internationale eine Perspektive, die darin bestand, die bestehenden konterrevolutionären Organisationen der ArbeiterInnenbewegung nach links zu rücken, anstatt ihnen eine unabhängige, revolutionäre Organisation entgegenzusetzen[2].

Diese Anpassungen bedeuteten, dass die trotzkistische Bewegung in der Nachkriegszeit zentristisch – d.h. zwischen revolutionär und reformistisch schwankend – wurde. Auch als die konterrevolutionäre Periode nach 20 Jahren zu Ende ging und die ArbeiterInnenklasse weltweit wieder in die Offensive schritt (was mit dem symbolträchtigen Datum 1968 verbunden ist) war die trotzkistische Bewegung noch in ihrer zentristischen Anpassung befangen. Aus dieser Bewegung können wir viele positive Lehren ziehen, aber insgesamt gab es keine Strömung, die eine revolutionäre Kontinuität verkörperte. Gerade heute können wir beobachten ,wie die größten Strömungen der trotzkistischen Bewegung sich weltweit vor dem Hintergrund der tiefsten Krise des Kapitalismus seit 80 Jahren – noch mehr von ihrem revolutionärem Erbe entfernen. So erklärt das „Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale“ (wahrscheinlich die organisatorisch größte Strömung) die revolutionäre Strategie Trotzkis für überholt und tritt für die Sammlung aller linksradikalen AktivistInnen um ein diffuses, irgendwie antikapitalistisches Programm ein.

Aktuelle Situation

Die heutigen zentristischen Anpassungen der trotzkistischen Bewegung sind selbst nur ein Ausdruck von einem größeren Phänomen: dem Widerspruch zwischen den objektiven Bedingungen für die Revolution – der weltweite Kapitalismus, der an seine Grenzen stößt und eine neue Periode der Kriege, Krise und Revolutionen einleitet – und den subjektiven Bedingungen – die weltweite ArbeiterInnenklasse, die drei Milliarden Menschen umfasst aber ein niedrigeres Bewusstsein ihrer Lage besitzt, als irgendwann in den letzten 200 Jahren. Heißt das nicht, dass die Aufgabe der Stunde darin bestehen müsste, erstmal „irgendeine“ Organisation mit „irgendeinem“ linken oder „irgendwie“ antikapitalistischen Programm aufzubauen?

In Wirklichkeit machen verschiedene Momente der Krise deutlich, dass das Programm, mit dem die Vierte Internationale gegründet wurde, weiterhin aktuell ist (wie wir in unseren anderen Publikationen aufzuzeigen versuchen). Ihr historisches Programm zeigt den Weg, um die tagtäglichen Forderungen der Massen mit dem Ziel der sozialistischen Weltrevolution zu verbinden. In jedem Kampf muss die Selbstorganisierung der Massen im Hinblick auf das schließliche Ziel des Aufbaus von Rätestrukturen entwickelt werden. Die Aktualität dieses 74 Jahre alten Programms liegt nicht einfach daran, dass Trotzki ein besonders genialer Revolutionär war, sondern daran, dass in diesem Programm die Lehren der wichtigsten Kämpfe der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung – vom Sieg der Oktoberrevolution bis zur Niederlage des Zweiten Weltkrieges – in der Frische der gerade erlebten Praxis aufgehoben sind.

Darüber hinaus gewinnt dieses Programm eine neue Relevanz: Das sieht man am Beispiel Ägyptens, wo die Forderungen der Revolution gegen Mubarak nach demokratischen Rechten und sozialer Gerechtigkeit sich nicht im Rahmen der halbkolonialen Abhängigkeit – Wie man an der repressiven Politik des Militärrats und den ernüchternden Realitäten der „Demokratisierung“ sehen kann – sondern nur mittels des konsequenten Vorantreibens der Revolution hin zur Enteignung des Kapitals und der Vertreibung des Imperialismus erfüllt werden können[3]. Das Programm der permanenten Revolution erscheint notwendiger denn je. Das sieht man ebenfalls am Beispiel von Fabrikschließungen, von denen es in den letzten Jahren in Europa viele gegeben hat. Auch sehr kämpferische Streiks können Schließungen nicht verhindern, wenn sie nicht mit dem Ziel der Besetzung und der Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle verbunden werden[4]. Auch hier wirkt das Übergangsprogramm in der aktuellen Periode sehr aktuell.

Warum die Vierte?

Was bedeutet der „Wiederaufbau der Vierten Internationale“ genau? Existiert sie überhaupt? Ja und nein. Organisatorisch existiert die Vierte Internationale nur in Form von zersplitterten Strömungen, von denen die meisten das historische Programm der Vierten in unterschiedlichen Punkten ablehnen. Aber politisch existiert die Vierte Internationale in Form ihres Programms. Wir verstehen uns als „Trotzkistische Fraktion – Vierte Internationale“, weil wir dafür kämpfen, diesem Programm einen konkreten politischen Ausdruck zu geben.

Die Führung der Vierten Internationale wurde vor mehr als 60 Jahren zentristisch und nicht mehr revolutionär. Wäre es nicht langsam an der Zeit, die Vierte für tot zu erklären und eine „neue“ oder eine „Fünfte Internationale“ auszurufen? Diese Frage sollte nicht organisatorisch beantwortet werden, denn die Reihenfolge der vier Internationalen war immer eine politische Frage.

Als die Zweite Internationale im Jahr 1914 am Beginn des Ersten Weltkrieges zerbrach, weil die meisten ihrer Parteien sich auf die Seite ihrer Bourgeoisie schlugen, gab es auch Rufe nach einer Neugründung der Internationale. Lenin und seine GesinnungsgenossInnen erklärten jedoch die Notwendigkeit einer neuen, Dritten Internationale. Denn das Konzept der Zweiten Internationale, die Sammlung der gesamten ArbeiterInnenbewegung in einer Partei, war an seine Grenzen gestoßen: Ein Konzept, das in der vorherigen Epoche revolutionär war, war in der neuen Epoche des Imperialismus in sein Gegenteil verkehrt worden. Die Kontinuität der revolutionären Bewegung erforderte also einen Bruch vom alten Konzept und eine strikte Trennung zwischen RevolutionärInnen und ReformistInnen. Deswegen war eine dritte Internationale nötig, die gleichzeitig die positiven Erfahrungen ihrer Vorgängerinnen aufhob und über ihre Grenzen hinaus ging.

Genauso wurde die Vierte nicht deswegen gegründet, weil es keine Internationale gegeben hätte. Im Jahr 1938 existierten die Zweite, Sozialdemokratische Internationale genauso wie die Dritte, Stalinisierte. Eine neue, revolutionäre Internationale war nötig, um die Lehren aus der Degeneration der Russischen Revolution zu ziehen. Also war auch die Vierte eine Weiterentwicklung des marxistischen Programms in einer neuen Periode.

Welche Weiterentwicklung des Programms würde heute die Gründung einer neuen Internationale rechtfertigen? Anders gefragt, welche Elemente aus dem Programm der Vierten Internationale müssten verworfen werden, um ein revolutionäres Programm für heute zu entwickeln? Wenn auch das trotzkistische Programm eine Aktualisierung angesichts der Erfahrungen der letzten 70 Jahre bedarf, so sind wir überzeugt, dass die wesentlichen Schlussfolgerungen weiterhin korrekt sind.

Das Eintreten für eine „neue Internationale“ oder eine politisch undefinierte „Arbeiterinternationale“ oder eine „Fünfte Internationale“, wie verschiedene Strömungen der trotzkistischen Bewegung heute vertreten, ist zwangsläufig mit einer Anpassung an jene nicht revolutionäre Kräfte verbunden, mit denen man so eine Internationale aufbauen will. Am Beispiel der Fünften Internationale bedeutet es eine Anpassung an den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, der zur Gründung einer Fünften Internationale aufrief. Diese würde aber nicht für die Interessen der internationalen ArbeiterInnenklasse sondern für die Interessen verschiedener bürgerlicher, „anti-imperialistischer“ Staaten eintreten. Wir sind der Meinung, dass eine solche bürgerliche Internationale, selbst wenn sie gegründet werden könnte, ein Hindernis im Befreiungskampf des Proletariats darstellen würde.

Perspektiven

Wir orientieren also auf den Wiederaufbau der Vierten Internationale auf der Grundlage ihres historischen Programms. Das bedeutet weder eine Zusammenführung der „trotzkistischen Familie“, deren meisten Strömungen dem Zentrismus näher stehen als dem revolutionären Marxismus, noch ein langsames und lineares Wachstum von kleinen Gruppen. Stattdessen bedeutet es, dass wir mit der revolutionären Linken und den fortschrittlichsten Sektoren der ArbeiterInnen und Jugend nach gemeinsamen revolutionären Schlussfolgerungen aus den wichtigsten Fragen des internationalen Klassenkampfes suchen. Das entspricht auch unserem Verständnis von der Methode Trotzkis beim Aufbau der Vierten Internationale, die Strömungen einband, die von Sozialdemokratie oder Stalinismus brachen und nach einer revolutionären Perspektive suchten. Entsprechend ist unsere Methode auf internationaler Ebene gestaltet, d.h. die permanente Auseinandersetzung mit anderen Strömung, wie auch auf Landesebene, wo wir mit verschiedenen Projekten die kämpferischsten Sektoren aus den Bewegungen zu gruppieren versuchen. Dabei sind wir uns bewusst, dass wir selbst kein irgendwie „abgeschlossenes“ revolutionär-marxistisches Bewusstsein besitzen. Revolutionärer Reife können sich AktivistInnen nur mit der ernsthaften Aufarbeitung der Lehren der ArbeiterInnenbewegung, praktischer Selbstkritik und vor allem Erfahrungen gesellschaftlicher Bewegungen annähern.

Fußnoten

[1]. Bereits im April 2011 entschied sich die Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO), dass wir für den Wiederaufbau der Vierten Internationale eintreten. Diese Entscheidung fiel im Rahmen eines Diskussionsprozesses mit der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale, der wir mittlerweile als sympathisierende Sektion beigetreten sind. Die Entscheidung damals begründeten wir mit einem kurzen Artikel („Entwicklungen in RIO“), müssen aber noch tief gehender auf diese Frage eingehen. Der vorliegende Artikel ist das Ergebnis einer Diskussion mit GenossInnen der unabhängigen SchülerInnengruppe „Red Brain“, die von Wladek Flakin zusammengefasst wurde.

[2]. Für eine ausführliche Behandlung der trotzkistischen Bewegung in der Nachkriegszeit, siehe: An den Grenzen der bürgerlichen Restauration.

[3]. Siehe hierzu unsere Analysen zu den revolutionären Prozessen in Ägypten: Die Revolution in vollem Gang.

[4]. Siehe das Beispiel der besetzten Keramikfabrik Zanon in Argentinien: Zanon gehört den ArbeiterInnen!

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