Fünf Gründe, warum Karl Marx die Streiks bei VSG und TVStud unterstützt hätte

09.05.2018, Lesezeit 15 Min.
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Zu seinem 200. Geburtstag wird Karl Marx vor allem als Theoretiker diskutiert. Doch er war auch ein praktischer Revolutionär und Klassenkämpfer. Lilly Freytag stellt fünf Gründe vor, warum Karl Marx heute an der Seite der Streikenden der Vivantes Service Gesellschaft und bei TVStud stehen würde.

Zu seinem 200. Geburtstag ist Karl Marx in aller Munde. Bei Anne Will wird über ihn diskutiert, jede größere und kleinere Zeitung widmet ihm ein Titelblatt. Intellektuelle und Politiker*innen aller Couleur fühlen sich bemüßigt, ihn auf die eine oder andere Art zu würdigen. Der Preis dafür ist meist, dass Marx‘ Ideen – mit Absicht oder aus Unverständnis – dabei falsch wiedergegeben werden. Im besten Fall wird er auf einen Denker und Philosophen reduziert wird, der “ein paar interessante Gedanken” hatte. Unter den Tisch fällt, dass Marx nicht nur ein Theoretiker war, sondern dass er auch immer für seine politischen Vorstellungen gekämpft hat: Er beteiligte sich beispielsweise aktiv am Aufbau und den Debatten der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA).

Karl Marx wäre, wenn er heute leben würde, also wahrscheinlich nicht allseitig beliebt – denn er stünde auch heute auf der Seite derjenigen, die gegen die Zumutungen des kapitalistischen Systems und gegen Unterdrückung kämpfen. Und so würde er auch die Streikenden bei der Vivantes Service Gesellschaft und TVStud unterstützen – unter anderem aus folgenden fünf Gründen:

1. Weil sie den Lohnkampf gegen das Elend des Kapitalismus führen.

In einer Rede aus dem Jahr 1865 – die später als „Lohn, Preis und Profit“ veröffentlicht wurde – erklärt Marx, dass der Widerstand der Arbeiter*innen gegen Lohnsenkungen dem Lohnsystem inhärent ist. Lohnsenkungen, wie sie zum Beispiel durch Outsourcing in der VSG oder Reallohnverfall bei TVStud stattfanden und gegen die die Belegschaften dort kämpfen. Sie sind ein Resultat der Tatsache, dass im kapitalistischen Produktionssystem die Arbeitskraft zur Ware geworden ist. Dass das so ist, bedeutet allerdings nicht, dass die Arbeiter*innen nicht für höhere Löhne kämpfen sollten. So etwas behaupten heute Menschen, die denken, damit eine besonders radikale Kapitalismuskritik auszudrücken – denn die Lohnarbeit muss ja überwunden werden, warum sollte man deshalb für „bessere“ Lohnarbeit kämpfen? Auch einige von Marx‘ Zeitgenoss*innen, vor allem unter den „utopischen Sozialisten“, vertraten solche Positionen. Marx argumentiert gegen diese unpolitische Vorstellung. Er schreibt:

Da nun die Tendenz derDingein diesem System solcher Natur ist, besagt das etwa, daß die Arbeiterklasse auf ihren Widerstand gegen die Gewalttaten des Kapitals verzichten und ihre Versuche aufgeben soll, die gelegentlichen Chancen zur vorübergehenden Besserung ihrer Lage auf die bestmögliche Weise auszunutzen? Täte sie das, sie würde degradiert werden zu einer unterschiedslosen Masse ruinierter armer Teufel, denen keine Erlösung mehr hilft.

Diese Auseinandersetzung nicht zu führen, hieße also, sich kampflos den Zumutungen zu beugen, die der Kapitalismus uns allen immer wieder auferlegen will.

2. Weil sie den Kampf um das „historisch-moralische“ Element führen.

Marx führt im ersten Band des „Kapitals“ aus: Der Wert jeder Ware ist durch die Menge an gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit bestimmt, die für ihre Herstellung benötigt wird. Für die Ware Arbeitskraft bedeutet dies, dass ihr Wert sich aus dem Wert der Waren ergibt, die dafür notwendig sind, um die Arbeitskraft weiterhin anbieten zu können. Der Lohn muss also hoch genug sein, damit die Arbeiter*innen genug zu essen, zu trinken, einen Ort zum Schlafen, aber auch Entspannung zum Beispiel in Form von Kinotickets finanzieren können – und vieles mehr. Ebenso dazu gehört die „Herstellung“ kommender Generationen von Arbeiter*innen – Kinderbetreuung, Bildung und so weiter.

Dieser Wert beinhaltet immer auch ein „historisch-moralisches“ Element: Das heißt, er hängt davon ab, was als angemessen und notwendig in einer Gesellschaft verstanden wird – also zum Beispiel die Frage, welche Nahrungsmittel wir uns leisten können sollten, wie viel Wohnraum lebensnotwendig ist, ob zur Entspannung auch ein Urlaub gehört, ein Theaterbesuch oder vielleicht auch nicht. Der Wert der Ware Arbeitskraft kann also über ein absolutes physisches Minimum, welches sichert, dass die Arbeiter*innen nicht verhungern oder verdursten, hinausgehen – und ein wesentlicher Bestimmungsfaktor hierfür ist das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen. In „Lohn, Preis und Profit“ ist das so formuliert:

Die Fixierung ihres faktischen Grads [des Verhältnisses zwischen Lohn und Profit] erfolgt nur durch das unaufhörliche Ringen zwischen Kapital und Arbeit, indem der Kapitalist ständig danach strebt, den Arbeitslohn auf sein physisches Minimum zu reduzieren und den Arbeitstag bis zu seinem physischen Maximum auszudehnen, während der Arbeiter ständig in der entgegengesetzten Richtung drückt.
Die Frage löst sich auf in die Frage nach dem Kräfteverhältnis der Kämpfenden.

Jeder isolierte Lohnkampf schlägt sich in diesem Kräfteverhältnis nieder und definiert somit einen Teil dessen, was gesamtgesellschaftlich als angemessener Lohn – als Wert der Ware Arbeitskraft – gilt. Ein höherer Lohn bei VSG und TVStud ist so ein kleines Puzzlestück dabei, die Lebensverhältnisse der gesamten Klasse zu verbessern.

3. Im Kampf beginnen wir, uns zu verbünden.

Im Kampf um mehr Lohn bereiten die Kämpfenden etwas vor: Sie etablieren eine Einheit. Im Kapitalismus erscheinen die einzelnen Arbeiter*innen vereinzelt, jede*r muss für sich selber schauen, wie er*sie über die Runden kommt. Sie werden von den Kapitalist*innen bewusst in Konkurrenz zueinander gesetzt, ihnen wird damit gedroht, in jedem Moment ersetzbar zu sein. Individualisiert ist jede*r einzelne angesichts der Macht des Kapitals machtlos. Erst die Vereinigung überwindet diese Konkurrenz und gibt den Arbeiter*innen die Stärke, ihren jeweiligen Ausbeuter*innen Zugeständnisse abzuringen. Denn die Kapitalist*innen sind darauf angewiesen, dass sie täglich die Arbeitskraft anderer ausbeuten können, um Mehrwert zu erzeugen.

Wenn Menschen sich organisieren und kämpfen, dann machen sie die Erfahrung, dass sie gemeinsam stärker sind und dass sie etwas erreichen können. Auch wenn es auf den ersten Blick „nur“ darum geht, einen höheren Lohn zu erringen, wird dadurch eine Einheit unter den Kämpfenden erzeugt, die darüber hinaus gehen kann. Marx schreibt:

Handelte es sich in den Assoziationen wirklich nur um das, worum es sich zu handeln scheint, nämlich um die Bestimmung des Arbeitslohns, wäre das Verhältnis von Arbeit und Kapital ein ewiges, so würden diese Koalitionen an der Notwendigkeit der Dinge erfolglos scheitern. Aber sie sind das Mittel der Vereinigung der Arbeiterklasse, der Vorbereitung zum Sturz der ganzen alten Gesellschaft mit ihren Klassengegensätzen.

Und die Kämpfenden bei VSG und TVStud vereinigen sich nicht nur als Belegschaft, als Kolleg*innen untereinander – sie suchen auch aktiv die Einheit mit jeweils anderen Arbeiter*innen. Eindrucksvoll haben sie das letzten Freitag bei einem Aktionstag gegen prekäre Beschäftigung in Berlin gezeigt.

Die Vereinigung der Arbeiter*innen fällt aber nicht von Himmel. Sie muss mühsam erkämpft werden – und das erinnert uns wieder daran, wie wichtig es ist, auch noch so kleine Kämpfe zu führen:

Würden sie in ihren tagtäglichen Zusammenstößen mit dem Kapital feige nachgeben, sie würden sich selbst unweigerlich der Fähigkeit berauben, irgendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen.

Oder, wie Marx es schon im Kommunistischen Manifest schreibt:

Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter.

4. Gewerkschaftliche Kämpfe sind mehr als nur Lohnkampf.

Die im Kampf gebildete Einheit eröffnet vollkommen neue Horizonte. Der gewerkschaftliche Kampf war für Marx selbstverständlich mehr als der Kampf um mehr Lohn oder weniger Arbeitszeit. Er stritt in der Arbeiter*innenbewegung seiner Zeit nicht nur mit den Strömungen, die die alltäglichen ökonomischen Kämpfe ablehnten, weil sie die Gesellschaft umwälzen wollten, ohne die dafür notwendige Vorbereitungsarbeit zu leisten. Er bekämpfte auch diejenigen, die ausschließlich diese ökonomischen Kämpfe führen wollten. Für ihn waren Gewerkschaften weit mehr als ein Zusammenschluss der Arbeiter*innen, um sich gegen die Willkür und gröbsten Ungerechtigkeiten des Kapitalismus zu wehren. Sie waren auch Instrumente zur revolutionären Überwindung des Kapitalismus – und dafür müssen sie auch den Kampf gegen das System als solches aufnehmen. Er schreibt:

Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.

Ein erster Schritt in diese Richtung kann die Politisierung der Kämpfe sein. Die Streikenden an der Basis von TVStud beispielsweise tun das heute, indem sie ihre Kampagne als Teil eines größeren Kampfs gegen Prekarisierung verstehen – denn Prekarisierung geht nicht nur von einzelnen Unternehmer*innen aus, sondern ist Resultat eines politischen Projekts, wie sich unter anderem in der Agenda 2010 zeigte.

Seit Marx‘ Zeiten hat sich jedoch in den Gewerkschaften ein Phänomen herausgebildet, welches alles daran setzt, die Kraft der gewerkschaftlichen Organisierung auf eben jenen „Kleinkrieg“ zu beschränken: die Gewerkschaftsbürokratie. Sie bildete sich besonders mit dem beginnenden Imperialismus, beispielsweise in der SPD vor dem Ersten Weltkrieg. Dort war sie ein maßgeblicher materieller Faktor für den Bruch mit internationalistischen Prinzipien, der schließlich in der Zustimmung der SPD-Führung zu den Kriegskrediten mündete. Gewerkschaftsbürokrat*innen erhalten Privilegien dafür, dass sie im Namen derjenigen, die sie vertreten sollen, mit dem Kapital verhandeln. Das heißt, ihre Existenz ist an die Existenz des Kapitals geknüpft. Damit sind ihre materiellen Interessen nicht mehr die gleichen, wie die der kämpfenden Kolleg*innen. Da sie diese Privilegien verteidigen wollen, haben sie kein Interesse daran, gegen das Kapital als solches zu kämpfen, und damit die Grundlage ihrer Privilegien zu verlieren. Um die bloße Konzentration auf den Kampf gegen die „Wirkungen des bestehenden Systems“ durchzusetzen, müssen sie auch immer wieder die Selbstorganisation der Beschäftigten an der Basis erschweren, damit ihre Posten von der Basis nicht in Frage gestellt werden. Damit Gewerkschaften ein echter „Hebel“ zur Befreiung der Arbeiter*innenklasse und aller Unterdrückter werden, müssen sich die Kolleg*innen also an der Basis organisieren und letztlich ihre Organisationen aus den Händen der Bürokratie zurückerobern.

5. Die Arbeiter*innen brauchen ihre eigene Partei.

Aber wer kann eine solche Rückeroberung der Gewerkschaften vorantreiben? Dazu braucht es in ihrem Inneren revolutionäre Fraktionen, die den Kampf gegen die Bürokratie organisieren und dabei immer mehr Kolleg*innen auf ihre Seite ziehen. Die politische Grundlage dafür hielt Marx schon im Kommunistischen Manifest fest, nämlich die Notwendigkeit der politischen Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse von der Bourgeoisie. Denn anders als die Gewerkschaftsbürokratie in ihrer Vermittlung zwischen Arbeit und Kapital behauptet, besteht zwischen den beiden ein letztlich unversöhnlicher Interessengegensatz. Diesen können die Arbeiter*innen nur mit dem Sieg über die Kapitalist*innen als Klasse und der Eroberung der politischen Macht lösen.

Der nächste Zweck der Kommunisten ist derselbe wie der aller übrigen proletarischen Parteien: Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat.

Diejenige Kraft, die diese Fraktionen vorantreiben kann, ist die revolutionäre Partei der Arbeiter*innen. Auch Marx war sich bewusst, dass es eine Partei braucht, die die Arbeiter*innen für den Sturz des Kapitalismus vereint – gegen diejenigen Kräfte, die eine Versöhnung mit der Bourgeoisie anstrebten. Gerade deshalb hat er kurz vor der 1848er Revolution gemeinsam mit Friedrich Engels das Kommunistische Manifest geschrieben, als politisches Programm einer solchen Partei.

Marx setzte sich dabei immer für eine Perspektive ein, die zwar sah, dass der jeweilige Kampf gegen die Bourgeoisie im nationalen Rahmen stattfinden muss – weil die Bourgeoisie in Nationalstaaten organisiert ist –, dass der Sieg letztlich aber nur international stattfinden kann, da auch der Kapitalismus einen internationalen Charakter hat. Deshalb müssen sich auch die Arbeiter*innen international organisieren. Aus diesem Grund war er seit ihrer Gründung ein führendes Mitglied der IAA – dem ersten internationalen Zusammenschluss von Arbeiter*innenorganisationen, die sich die „vollständige Emanzipation der Arbeiterklasse“ zum Ziel gesetzt hatten. Und Marx schreibt im Kommunistischen Manifest:

Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, […].

Was hat das nun mit TVStud und VSG zu tun? Eine solche revolutionäre Partei der Arbeiter*innen fällt nicht vom Himmel. Sie kann sich nur im Klassenkampf selbst aufbauen, nicht indem sie am Rand steht und beobachtet. Sie muss die besten Kämpfer*innen der Arbeiter*innenklasse für sich gewinnen, um eine wirkliche Partei der Arbeiter*innen zu sein. In allen vorherigen Kämpfen formen sich die zukünftigen Revolutionär*innen, die den Kapitalismus zum Sturz bringen und mit Marx gemeinsam rufen:

Proletarier*innen aller Länder, vereinigt euch!

*Marx hätte sicher auch gegendert.

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