Französische Aktivist:innen wollen eine neue revolutionäre Organisation aufbauen

15.06.2022, Lesezeit 10 Min.
1
Foto: Révolution Permanente

Auf einer landesweiten Konferenz in Paris kamen am 4. und 5. Juni einhundert Delegierte zusammen, um mit dem Aufbau einer revolutionären Organisation zu beginnen. Diese soll den Herausforderungen der kommenden Zeit gewachsen sein.

Am 4. und 5. Juni versammelten sich mehr als 100 Delegierte in einem Pariser Vorort, um den ersten Schritt zur Gründung einer neuen revolutionären Organisation in Frankreich zu unternehmen. Die Delegierten vertraten dabei mehr als 300 Aktivist:innen aus ganz Frankreich. Die Konferenz wurde von Aktivist:innen von Révolution Permanente (RP) initiiert, nachdem die Präsidentschaftskampagne von Anasse Kazib zu Ende gegangen war. Im Frühjahr 2021 waren die Aktivist:innen von RP aus der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) ausgeschlossen worden. Die Konferenz diente nun zur Vorbereitung eines Gründungskongresses einer neuen Organisation, der noch in diesem Jahr stattfinden soll.

An den beiden Konferenztagen diskutierten die Delegierten auf dem Podium über die internationale und nationale Situation und darüber, wie eine neue Organisation aussehen könnte. Unter ihnen waren Beschäftigte des öffentlichen Pariser Nahverkehrsunternehmens RATP, der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF sowie der Luftfahrt-, Lebensmittel- und petrochemischen Industrie. Hinzu kamen Studierende. Sie alle haben sich in den letzten fünf Jahren an den großen Kämpfen des Landes beteiligt – von der Bewegung der „Gelbwesten“ über die Streiks gegen die Rentenreform bis hin zum Grandpuits-Streik, den antirassistischen Mobilisierungen im Juli 2020 und den Demonstrationen gegen Gewalt an Frauen.

Enthusiasmus und Entschlossenheit prägten die Atmosphäre der Konferenz. Die Diskussion der Delegierten legten den Grundstein für ein Ereignis, das es in Frankreich seit den 1960er Jahren nicht mehr gegeben hat: die Entstehung einer neuen revolutionären Organisation außerhalb der historischen Traditionen des französischen Trotzkismus, die aus der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), von Lutte Ouvrière (LO) und dem Lambertismus bestehen. Schon vor ihrer Gründung zählt die neue revolutionäre Organisation mehr als 300 Mitglieder, die sich auf die meisten großen Städte Frankreichs verteilen: Paris, Marseille, Toulouse, Bordeaux, Nantes, Rennes, Metz, Straßburg, Montpellier, Le Mans, Grenoble, Chambéry, Lyon, Lille und weitere.

Anmerkung des Übersetzers:

 Die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR, Revolutionäre Kommunistische Liga) war die französische Sektion des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale, einer der wichtigsten internationalen Organisationen der weltweiten trotzkistischen Bewegung. Die 1974 offiziell unter dem Namen LCR gegründete Sektion geht auf die Gründung der Vierten Internationale im Jahr 1938 zurück, doch ihre unmittelbaren Ursprünge liegen im Aufstand vom Mai 1968 in Frankreich, der das Land an den Rand einer revolutionären Situation brachte. Die LCR, die jahrzehntelang ein wichtiger Bestandteil der radikalen Linken des Landes war, stimmte im Februar 2009 mit überwältigender Mehrheit dafür, sich in der Neuen Antikapitalistischen Partei aufzulösen – einer „breiten Front“, an deren Gründung sie maßgeblich beteiligt war. Dies war Teil eines Prozesses, in dem sich die Mehrheit des Vereinigten Sekretariats in unabhängige revolutionär-marxistische Parteien, auf der Grundlage des historischen Programms des Trotzkismus, auflöste.

Lutte Ouvrière (LO, Arbeiterkampf) ist eine trotzkistische Partei in Frankreich, die auf eine 1939 gegründete kleine Gruppe zurückgeht. Sie spielt heute eine wichtige Rolle in der französischen radikalen Linken. Von Zeit zu Zeit gab es Fusionsgespräche mit der LCR. Während ihre Präsidentschaftskandidaten in der Regel sehr viel Gehör finden, zeichnet sich die LO durch ihre starke Orientierung auf die Betriebe und ihre halb-klandestine Arbeitsweise aus.

Der Begriff Lambertismus spielt auf die trotzkistischen Organisationen an, die mit dem Erbe von Pierre Lambert verbunden sind. Dieser Anführer des französischen Trotzkismus leitete eine Organisation, die sich 1963 weigerte, an einer Wiedervereinigung der weltweiten trotzkistischen Kräfte teilzunehmen, die sich zehn Jahre zuvor gespalten hatten. Im Laufe der Jahrzehnte haben die Lambertist:innen mehrere Fusionen mit anderen internationalen trotzkistischen Gruppen versucht und eine eigene breite Partei in Frankreich gegründet, deren Tendenzen ehemalige Mitglieder der kommunistischen und sozialistischen Parteien sowie Anarchist:innen umfassten, die jedoch von den „orthodoxen“ Trotzkist:innen der Lambert-Strömung dominiert wurde. Heute sind sie in Frankreich in zwei Organisationen zu finden – der Parti Ouvrier Indépendant (POI, Unabhängige Arbeiterpartei) und der Parti Ouvrier Indépendant Démocratique (POID, Demokratische Unabhängige Arbeiterpartei). Diese sind aus einer Spaltung im Jahr 2015, etwa sieben Jahre nach Lamberts Tod, hervorgegangen.

Umfangreicher Austausch über die nationale und internationale Lage

Die Konferenz begann mit Diskussionen über den zunehmenden Militarismus seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine, die Weltwirtschaftskrise und ihre Bedeutung für die Arbeiterklasse sowie die jüngsten Klassenkampfphänomene in aller Welt. Die Delegierten diskutierten auch über den Macronismus in Frankreich, die Entstehung des linken Wahlbündnisses NUPES (Nouvelle Union Populaire écologique et social, Neue ökologische und soziale Volksunion) und ihre Widersprüche sowie insbesondere eine Bilanz der wichtigsten Proteste in Frankreich in den letzten fünf Jahren.

Die Diskussion skizzierte auf der Grundlage dieser Bilanz eine Zukunftsperspektive. Zwei RP-Delegierte, der Eisenbahner Anasse Kazib und Gaëtan Gracia, ein Arbeiter der Luft- und Raumfahrtindustrie und Mitglied des Gewerkschaftsbundes CGT, sprachen die Inflation und die Welle von Streiks für höhere Löhne an. Sie betonten die Notwendigkeit, diese Kämpfe zu unterstützen und zu koordinieren. Dabei stützten sie sich auf Erfahrungen wie den Koordinierungsausschuss der RATP-SNCF und eine von ihnen initiierte ähnliche Initiative für die Beschäftigten der Luft- und Raumfahrtindustrie. Ein anderer Delegierter war einer der Hauptorganisatoren des Streiks für die Löhne der Beschäftigten des Flughafens Roissy, der schließlich am 9. Juni stattfand. Er sprach über die Vorbereitungen für diesen historischen Kampf.

Die Studierenden – einige von ihnen Mitglieder von Le Poing Levé (Die erhobene Faust), einem Kollektiv der Jugend von RP an Dutzenden Universitäten und Gymnasien – sprachen über ihren jüngsten Protest, bei dem sie die gleichen vollen Rechte, die französische Studierende genießen, auch für aus der Ukraine geflohene Studierende forderten. Sie nannten viele weitere Beispiele dafür, wie ganze Sektoren der französischen Jugend den Kampf für eine neue Gesellschaft aufnehmen. Die Delegierten unterstrichen das Potenzial für soziale Explosionen in der Jugend. Dieses Potenzial erklärt sich aus dem unerbittlichen Willen der Regierung, die Unsicherheit für junge Menschen zu erhöhen, zum Beispiel durch ihre Reformen an Universitäten und Gymnasien, aber auch insgesamt durch das wachsende Misstrauen junger Menschen gegenüber der herrschenden Klasse in Frankreich. Die Delegierten wiesen auf die Notwendigkeit hin, Le Poing Levé im ganzen Land aufzubauen, um sich auf solche Explosionen vorzubereiten.

Während das Wahlbündnis NUPES die Illusion eines „Bruchs“ mit dem Neoliberalismus durch die Wahlen schürt, ist so eine Wahlfront in einigen Ländern der Welt bereits an der Regierung. Vor diesem Hintergrund wandten sich die Delegierten dem Verrat der Linken an der Macht und der der Notwendigkeit einer politischen Perspektive zu, die auf der Notwendigkeit des Sturzes des Kapitalismus beruht. Die Diskussion drehte sich um eine revolutionäre Organisation, in deren Mittelpunkt der Klassenkampf steht und die sich nicht damit begnügt, an Kämpfen teilzunehmen. Stattdessen sollte sie diese tiefgreifend umgestalten und ihnen eine erfolgversprechende Strategie anbieten – insbesondere indem sie die Gewerkschaftsbürokratie herausfordert.

Das Scheitern der radikalen Linken erfordert eine neue revolutionäre Organisation

Die Delegierten erörterten die Bilanz der radikalen Linken in Frankreich. Dabei stießen sie auf das Paradox, dass sich NPA und Lutte Ouvrière in einer Krise befinden, wärend gleichzeitig intensive klassenkämpferischen Mobilisierungen stattfinden.

„Aus Angst davor, an den Rand gedrängt zu werden, hat die NPA jede politische Unabhängigkeit rasch aufgegeben und geht sogar so weit zu behaupten, dass diejenigen, die für Mélenchon stimmen, an einem ‘Wiederaufbau des Klassenbewusstseins‘ teilnehmen. Das ist eine Kapitulation“, so die RP-Delegierte Daniela Cobet in ihrer Einleitung dieses Diskussionspunktes.

Ein anderer Delegierter, ein Arbeiter in der Kunststoffproduktion, berichtete von seinen Erfahrungen auf dem jährlichen LO-Festival und sagte: „Lutte Ouvrière weigert sich völlig, die Gewerkschaftsführungen zu kritisieren, Initiativen im Klassenkampf zu ergreifen oder den Kampf gegen z.B. rassistische Unterdrückung zu führen. Das macht LO unfähig, einen Dialog mit der neuen Generation von Arbeiter:innen zu führen.“

Solche Überlegungen führten die Diskussion zurück zur Aufgabe, eine neue Organisation aufzubauen. Besonders bedeutend ist dabei, wie verankert sie innerhalb der Arbeiter:innenklasse ist. „Die Arbeiter:innen müssen in die Politik einbezogen werden“, erklärte Adrian Cornet, ein Raffineriearbeiter bei Total Grandpuits und dortiger Anführer des Gewerkschaftsbundes CGT. „Ich bin der RP nach dem Streik gegen die Rentenreform beigetreten. Wegen dieses Streiks waren wir in der Lage, auch bei Grandpuits einen andauernden Streik zu führen, durch den wir beispiellose Verbindungen zur Umweltbewegung aufgebaut haben.“

„Eine der Stärken von Le Poing Levé ist die Verbindung zu den Kämpfen der Arbeiter:innen“, erklärte ein studentischer Delegierter auf der Konferenz. „Wir müssen weiterhin einen Pro-Arbeiter:innen-Flügel in der Jugend, an den Hochschulen und Gymnasien, aufbauen.“

Diese und andere Diskussionsbeiträge aus verschiedenen Sektoren brachten eine Vielzahl von Interessen zum Ausdruck. Sie trugen dazu bei, die Merkmale der künftigen Organisation deutlich werden zu lassen. Sie wird revolutionär sein, sich auf die zentrale Stellung der Arbeiter:innenklasse stützen und versuchen, auf der Grundlage der Selbstorganisation, der Einheit unserer Klasse und der Koordinierung der kämpfenden Sektoren in den Klassenkampf einzugreifen – alles mit der Verpflichtung, den Kampf gegen alle Arten von Unterdrückung mit einer entschieden antiimperialistischen, internationalistischen Perspektive zu vereinigen.

Dies wurde in dem von den Delegierten am Ende der Konferenz verabschiedeten Aufruf zusammengefasst. „Heute rufen wir zum Aufbau einer neuen revolutionären Organisation auf, die der dringenden Aufgabe gewachsen ist, dem kapitalistischen System ein Ende zu setzen und die Grundlagen für eine kommunistische Gesellschaft zu schaffen“, heißt es in dem Aufruf. Dieser richtet sich an

all diejenigen, die unsere Perspektive teilen und sich nicht in der heutigen radikalen Linken sehen, insbesondere die Arbeiter:innen, die an den Kämpfen der Arbeiter:innenklasse in den vergangenen Jahren teilgenommen haben, die antirassistische, antifaschistische, LGBTQ+-, feministische und Umweltaktivist:innen, die von der Notwendigkeit einer Revolution überzeugt sind, und die Jugendlichen, die wissen, dass diese Gesellschaft ihnen nichts zu bieten hat. Er richtet sich auch an jene Revolutionär:innen, die aus dem Scheitern der radikalen Linken lernen wollen, und auch an die Aktivist:innen, die noch bei Lutte Ouvrière oder in der NPA sind und die den von der Führung dieser Partei eingeschlagenen Weg ablehnen.

Was hier dargelegt wurde, ist ein äußerst ehrgeiziges Projekt. Diese erste nationale Konferenz hat jedoch gezeigt, wie dringend und realistisch es ist. Wir laden alle Interessierten ein, sich daran zu beteiligen!

Erstmals veröffentlicht auf Französisch am 9. Juni bei Révolution Permanente.

Mehr zum Thema