Frankreich: Kongress zur Gründung neuer revolutionärer Organisation

16.12.2022, Lesezeit 7 Min.
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Bild: revolutionpermanente.fr

Heute versammeln sich hunderte Arbeiter:innen, Jugendliche, Migrant:innen und queere Menschen im französischen Saint-Denis. In diesem Pariser Vorort gründen sie, angestoßen von Genoss:innen der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale (FT-CI), eine neue revolutionäre Organisation.

In den letzten Wochen trafen sich in ganz Frankreich hunderte Menschen in verschiedenen Versammlungen, um über die Grundlagen einer neuen revolutionären Organisation zu diskutieren. Angestoßen wurde dieser Prozess von Révolution Permanente, der französischsprachigen Geschwisterseite von Klasse Gegen Klasse.

In Toulouse, Bordeaux, Paris, Lille, Marseille, Montpellier, Nantes, Rennes, Metz und Straßburg nahmen über 400 Personen an den Versammlungen teil. Anwesend waren Arbeiter:innen aus dem Transportwesen, der Ölindustrie, dem Gesundheits-, und Bildungswesen, Studierende und Schüler:innen sowie viele andere mehr.

Sie diskutierten über die internationale politische und wirtschaftliche Situation und den Krieg in der Ukraine, die Rolle der NATO und des Imperialismus sowie die Perspektive der internationalen Klassenkämpfe. Ebenso ging es um die aktuelle Krise in Frankreich und Europa und die Frage, welche Politik seitens der Arbeiter:innenklasse hier von Nöten ist.

Die letzten Jahre haben vielen gezeigt, dass eine neue Organisation mit einer soliden revolutionären Grundlage nötig ist, um effektiv und erfolgreich in die Kämpfe der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten intervenieren zu können. In diesem Sinne treffen sich die Aktivist:innen heute.

Bereits 2016 begann ein neuer Zyklus der Klassenkämpfe in Frankreich mit historischen Streiks und Mobilisierungen gegen eine Arbeitsmarktreform, die eine organische Krise in Frankreich auslöste. Verschiedenste Sektoren der Arbeiter:innenklasse haben sich seitdem mobilisiert, blieben jedoch unkoordiniert und isoliert voneinander. 2016 mobilisierten sich Privatangestellte und Jugendliche, 2018 waren es Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und des Transportwesens. Und auch die Gelbwesten, deren Bilder 2018 durch die Welt gingen, bestanden zu großen Teilen aus prekarisierten Teilen der Arbeiter:innenklasse. Zeitnah protestierten Studierende gegen eine Bildungsreform, und wenig später mobilisierten sich massenweise Schüler:innen und Studierende im Rahmen der globalen Fridays For Future Bewegung gegen den Klimawandel. Immer wieder demonstrierten tausende Migrant:innen und Jugendliche gegen rassistische Polizeigewalt, durch die regelmäßig junge Menschen in den Banlieues ermordet werden.

Doch obwohl die Kämpfe der letzten Phase teils sehr breit und radikal waren, endeten sie fast ausnahmslos in Niederlagen. Dies lag nicht zuletzt an der Rolle der Französischen Linken. Zu viele Möglichkeiten verstrichen, echte Selbstorganisation in den Kämpfen durchzusetzen und die fragmentierte und gespaltene Arbeiter:innenklasse und ihre Verbündeten zu vereinen.

Der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon vertritt in der politischen Krise ein reformistisches und proimperialistisches Projekt. Mal mehr, mal weniger erfolgreich hält er die Zügel in der von ihm gegründeten, von eben gesteuerten “Bewegung” La France Insoumise (“Unbeugsames Frankreich”) als alleiniger Anführer in der Hand. Sein Projekt besteht nicht darin, reale Bewegungen auf der Straße oder gar in den Betrieben zu stärken, sondern die Menschen von der Straße an die Wahlurne zu befördern – damit schwächt er letztendlich die traditionsreiche und militante Arbeiter:innenklasse Frankreichs, und bindet sie an den Staat.

Ähnlich wie Sahra Wagenknecht, die von Mélenchon für ihr Projekt Aufstehen inspiriert wurde, vertritt Mélenchon sozialchauvinistische Positionen. Mélenchon bekennt sich immer wieder zum französischen Imperialismus und gegen die Unabhängigkeit der Kolonien. Zuletzt orchestrierte er einen “Putsch” in seiner eigenen Partei, um linkere Politiker:innen aus Führungspositionen zu entfernen.

Links davon stand die Nouveau Parti anticapitaliste (“Neue Antikapitalistische Partei”, NPA), zu der auch Révolution Permanente gehörte. Die Idee der NPA war es, eine breite Vereinigung antikapitalistischer Kräfte mit verschiedensten Strategien und eine Antwort auf den Umgang mit dem Neoreformismus, wie ihn Syriza oder Podemos vertreten, zu sein. Es kam dabei weniger auf die Übereinstimmung, als vielmehr auf die Anzahl der Mitglieder an.

Révolution Permanente war Teil der NPA, und baute sie aktiv mit auf, doch kritisierte von Anfang an die Strategie der “Mosaiklinken”. Diese Strategie ist zum Scheitern verurteilt, denn ein gemeinsames revolutionäres Eingreifen in die Klassenkämpfe, für das eine breitere Übereinstimmung nötig ist, war so unmöglich.

Tatsächlich war die NPA in den großen Kämpfen wenig präsent. Während der massiven Gelbwestenproteste zögerten viele von ihnen, zu intervenieren. Stattdessen fielen sie auf das bürgerliche Narrativ herein, die heterogenen Massenproteste als “rechts” zu betrachten. Statt Teil aktiver und militanter Kämpfe zu sein, während derer Révolution Permanente zu Hochzeiten 2,3 Millionen Leser:innen monatlich erreichen konnte und zahlreiche Arbeiter:innen organisierte, legten große Teile der NPA ihren Fokus weiterhin auf routinemäßige Interventionen. Das Ergebnis war eine andauernde Stagnation. Von den über 9000 Mitgliedern, die im Jahr 2009 die NPA gegründet hatten, war 2021 nur noch ein Fünftel aktiv.

Dies lag nicht zuletzt an der sogenannten “alten Mehrheit” der NPA. Diese entstand aus der Ligue communiste révolutionnaire (“Revolutionär-kommunistischen Liga”, LCR), einer traditionsreichen trotzkistischen Strömung, die in den Jahrzehnten zuvor große Streiks und Bewegungen angeführt hatte, und 2002 mit Olivier Besancenot einen Präsidentschaftskandidaten stellte, der fast 1,5 Millionen Wähler:innenstimmen erhielt. Mit dem Glauben ein breiteres Projekt würde zu größerem Erfolg führen, gab die LCR ihren Anspruch auf, die Arbeiter:innenklasse als führendes Subjekt für die Revolution zu gewinnen und löste sich selbst in die NPA auf. Seitdem kam es immer wieder zu Anpassungen an den Reformismus Mélenchons. Damit rückte die “alte Mehrheit” immer weiter nach rechts – beispielsweise in Fragen des Antirassismus oder der kühnen Intervention in Arbeitskämpfe.

Die Genossinnen von RP kritisierten diese Anpassungen aufs Schärfste und kämpften dafür, die NPA weiterhin vom Reformismus unabhängig zu halten. Dem entgegen stand die “alte Mehrheit”. Die Konflikte äußerten sich bereits auf dem letzten Kongress entlang der Frage der Präsidentschaftswahl. Neben dem Vorschlag keine Kandidatur aufzustellen, um keine Konkurrenz zu Mélenchon zu sein, und dem Vorschlag ein:e Kandidat:in aufzustellen, die bereits öffentlich der LFI zugearbeitet hatte, versuchte RP einen unabhängigen Kandidaten aufzustellen.

Nach verschiedenen Manövern musste RP die NPA letztes Jahr verlassen. Seitdem kämpfen die Genoss:innen dafür, auf Basis der Lehren der NPA und anderer Projekte wie der FIT-U in Argentinien eine neue Organisation zu gründen. Auf dem letzten Kongress der NPA vor einer Woche kam es zu einer weiteren Spaltung. Entgegen dem Vorhaben bei ihrer Gründung, eine möglichst breite und große Gruppe zu haben, ist es nun eben jener Umgang mit dem Reformismus, der zur Spaltung führte. Zuvor lehnte die Mehrheit der NPA ab, Wahlkampf für Mélenchons Bündnis Nouvelle union populaire écologique et sociale (“Neue ökologische und soziale Volksunion”, NUPES) zu machen. Der rechte Flügel der NPA nahm das demokratisch gewählte Ergebnis nicht hin – entgegen der Hoffnung des Rests der NPA. Es kam zur Spaltung.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die alte Mehrheit die Spaltung bereits im Vorfeld plante, denn sie veranstalteten bereits ab dem zweiten Tag einen eigenen Kongress. Es bleiben die zwei Hälften eines gescheiterten Projekts: die eine – um die alte Mehrheit – unbeirrt in ihrem Kurs entlang dem Reformismus Mélenchons, während der linke Flügel das Scheitern seiner Strategie nicht einsehen will und verzweifelt an der Einheit der NPA festhält.

In diesem Rahmen ist der Kongress von Révolution Permanente ein umso wichtigeres Zeichen an die Avantgarde der Arbeiter:innen und Jugendlichen in Frankreich.

An diesem Wochenende werden die Genoss:innen gemeinsam Bilanz ziehen und auf Basis der Erfahrungen über ihre gemeinsamen politischen Fundamente abstimmen und so den Grundstein legen für prinzipientreue und konsequente Politik auf Basis einer gemeinsamen Strategie.

Sicherlich ist es ein großer Schritt – nicht nur für Revolutionär:innen in Frankreich, sondern in ganz Europa.

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