Erdoğan putscht Davutoğlu aus dem Ministerpräsidentenamt

06.05.2016, Lesezeit 6 Min.
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Die AKP erlebt eine der größten innerparteilichen Krise seit dem Beginn ihrer Alleinregierung. Der türkische Staatspräsident Erdoğan führt im Zuge seines totalen Krieges um die Macht einen Säuberungsprozess innerhalb der eigenen Reihen. Ein Mann erhebt sich über den Staat und versucht sein persönliches Regime zu etablieren. Alle Macht dem Erdogan?

Am Sonntag erschien auf dem Blog pelikandosyasi.wordpress.com ein anonymer Beitrag, der vom internen Machtkampf in der AKP handelt. Die sogenannten Pelikan-Akte – nach dem gleichnamigen US-Thriller aus den 1990er-Jahren – hat in der Türkei großes Aufsehen erregt. Die Verwalter*innen des Blogs bezeichnen sich als „Fedai“ von Erdoğan und erklärten den Krieg gegen Davutoğlu, da sein Kurs angeblich Erdogan zu Grabe zu legen beabsichtigt.

„Und das Ergebnis. Die Geschichte zwischen Hoca und Reis (d.h. Davutoğlu und Erdoğan Anm. d. Red.) ist keine einfache Geschichte von Gier und Leidenschaft. Denn der Hoca hat sich in eine Zusammenarbeit mit all jenen begeben, die gegen das Volk sind, das hinter dem Reis steht. Um seine eigenen (politischen) Begierden zu stillen, hat er es akzeptiert, auf dem Schachbrett der globalen Mächte im Gewand der Dame die Rolle eines einfachen Bauers zu übernehmen.”

Nachdem Erdoğan im August 2014 zum zwölften Staatspräsidenten der türkischen Republik gewählt wurde, ernannte er Ahmet Davutoğlu als seinen Nachfolger zum Ministerpräsidenten und „Parteichef“. Ab dem Zeitpunkt zog sich Erdoğan aber nicht in sein Amt zurück, sondern erweiterte seinen Handlungsraum. Er nutze die breiten Befugnisse des Staatspräsidentenamtes, die von der damaligen Militärjunta durch die putschistische Verfassung von 1982 zustande kamen, sehr aktiv und regiert bis heute letztendlich die Regierung selbst.

Auch wenn sie noch nicht so konkret wie heute an der Oberfläche waren, existierten innerhalb der AKP seit langer Zeit Spannungen, die einer Pro/Contra-Erdoğan-Front einen Boden bereiteten. So analysierten wir nach den Parlamentswahlen am 7. Juni im Artikel „Der Niedergang des AKP-Paradigmas“ die innerparteilichen Situation der AKP folgendermaßen:

„Ahmet Davutoğlu hat vor kurzem betont, die Bevölkerung hätte das Präsidialsystem abgelehnt und die Akteure sollten sich nun auf ihre Positionen zurückziehen. Das bedeutet zwar noch lange nicht eine offene Kriegserklärung gegen Erdoğan, aber die Machtkonstellation innerhalb der AKP formiert sich langsam um. Ein Szenario der offenen Fronten innerhalb der AKP in nächster Periode ist wahrscheinlich.“

Es war eine Phase starker Erschütterungen der AKP. Die AKP verlor nach den Wahlen ihre Alleinregierung und Erdoğan stand im Mittelpunkt der Verhandlungen zur Bildung einer Koalitionsregierung. Davutoğlu hingegen war herausgefordert, seiner Rolle als „Parteichef“ gerecht zu werden, d.h. sich vor allem gegen Erdogan durchzusetzen. Doch eine offene Kriegserklärung würde bedeuten, sich sein eigenes Grab zu schaufeln. Denn er hatte mitbekommen, wie zahlreiche Versuche der Fraktionskämpfe gegen Erdogan mit Niederlage und Ausschluss endeten. Andererseits hätte er im Falle einer Koalitionsregierung keine Verbündete im eigentlichen Sinne, denn die Bedingungen anderer Parteien wie CHP und MHP würden die Beschleunigung des Niedergangs der AKP bedeuten. So entschied er sich an der Seite Erdogans die klassische Strategie ins Leben zu rufen: Militärische Totaloffensive gegen Kurd*innen und Oppositionelle. Eine Taktik, die in der Geschichte der türkischen Republik mehrfach stattfand. Zeitlang kehrte Davutoğlu seine innerparteilichen Ziele unter den Teppich. Die AKP gewann die Neuwahlen im November und Davutoğlu wurde zum Ministerpräsidenten der Alleinregierung. Für Erdogan war alles in Ordnung, da er für seinen totalen Krieg zunächst eine stabile Rückendeckung benötigte.

Erdoğan verspricht nur Krieg und Barbarei

Bis heute ist Erdoğan von seinem Kurs für die Einführung des Präsidialsystems nicht abgewichen. Im Gegenteil: Er verschärft seinen Kurs und braucht einen Vertrauten. Zwar spielt es eine gewisse Rolle, dass Davutoğlu seinen Personalempfehlungen nicht gefolgt war. Aber im jetzigen innerparteilichen Machtkampf geht es um den folgenden zentralen Punkt: Erdogan bemüht sich, in den Augen des westlichen Imperialismen sich als einzige Kraft zu bewahren. Zwar dient das verbrecherische Abkommen mit der EU über die Abschottung der Grenzen und den Einsperrungen der Geflüchteten zur Legitimation seiner Offensive; doch ihm ist bewusst, dass er seine Macht auf nicht temporären Pakten konsolidieren kann. Dabei kann er die Entstehung potenzieller Kandidat*innen aus den Reihen der AKP nicht mal im Geringsten tolerieren, da sie seine Rolle schwächen würden. Deshalb scheut er vor nichts, auch wenn er für seinen totalen Kampf in seinen eigenen Reihen Säuberungen vornehmen muss.

So sind die Spannungen zwischen den beiden Akteuren in den vergangenen Tagen unübersehbar geworden. Vor diesem Hintergrund erlebte Davutoğlu den ersten konkreten Angriff von Erdoğan: Seine Befugnisse wurden beschnitten, d.h. der Parteichef kann nicht mehr allein auf lokaler Ebene Führungen ernennen. Am Mittwochabend, den 4. Mai, trafen sie sich im Präsidentenpalast, welches scheinbar sehr kritisch verlaufen gewesen soll. Nach diesem Treffen hat die Parteizentrale der AKP einen außerordentlichen Parteikongress beschlossen. Der Zeitpunkt des Kongresses ist der 22. Mai 2016. Davutoğlu wird auf dem Parteikongress nicht für den Parteivorsitz kandidieren und sein Ministerpräsidentenamt abgeben. Auf der Pressekonferenz betonte er, er wolle „unter den derzeitigen Umständen“ nicht weiter zur Verfügung stehen, denn es gäbe keine Übereinstimmung innerhalb der Partei.

Erdoğan hat einen weiteren Machtkampf innerhalb der AKP gewonnen. Er kommt ein weiteres Mal aus einer Krisensituation heraus, was aber auf keinen Fall den instabilen Charakter seines persönlichen Regimes aufheben kann. Im Gegenteil: Da, wo Erdoğan herrscht, herrschen auch Krieg, innerparteiliche und außenpolitische Konflikte. Letztendlich ist die wirtschaftliche Krise das Produkt der politischen Instabilität des Regimes. Doch die Instabilität bedeutet nicht immer automatisch einen besseren Handlungsraum für die revolutionäre Linke. Bisher ist nämlich das Gegenteil bewiesen, d.h. jeder Konflikt von Erdoğan endete mit Angriffen gegen die Linke, Kurd*innen und Arbeiter*innen.

Wie lange wird Erdoğan noch herrschen? Die radikale Linke in der Türkei und Kurdistan wird erneut geprüft. Es ist notwendig zu betonen und dementsprechend zu handeln, dass heute eine Einheitsfront auf der Grundlage eines antikapitalistischen und antiimperialistischen Programms mit einer Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse und der Massen vor der Barbarei des bonapartistischen Regimes von Erdoğan retten kann.

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