Eisenbahner:innen in Belarus sabotieren russischen Angriff: Wie eine dritte Position im Krieg entstehen kann

04.04.2022, Lesezeit 10 Min.
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Foto: Ihor Bondarenko / Shutterstock.com

Die russische Armee ist mit ihrer Belagerung Kiews vorerst gescheitert. Dazu tragen auch Eisenbahner:innen in Belarus bei, die unter Lebensgefahr die russischen Nachschublinien sabotieren. Über die Chancen, eine dritte Position der Arbeiter:innen im Krieg zu entwickeln, unabhängig von Russland und NATO.

Fünf Wochen nach Beginn des Krieges zieht sich die russische Armee aus der Gegend um Kiew zurück. In der Kleinstadt Butscha hat sie dabei laut Presseberichten grauenhafte Massaker an der Zivilbevölkerung verübt. Noch ist offen, ob der Angriff im Norden tatsächlich abgewehrt ist, oder ob sich die russische Armee nur für den nächsten Schlag neu gruppiert. Dass sie jedoch ihre Belagerung von Kiew nicht aufrechterhalten kann, liegt unter anderem an dem Widerstand in Belarus. Als enger Verbündeter Russlands dient das Land unter Präsident Alexander Lukaschenko als Stützpunkt für die russischen Truppen, die von hier ihren Nachschub an der nördlichen Front organisieren. Doch ihre Kriegslogistik wird von belarussischen Eisenbahner:innen behindert.

Der Krieg der Eisenbahner:innen

Schon in den ersten Tagen nach Beginn der russischen Invasion gab es die ersten Sabotageakte an Signalanlagen und Schaltkreisen bei der belarussischen Eisenbahn, wie die Nachrichtenseite zerkalio.io in Berufung auf den Telegram-Kanal Live. Gemeinschaft der Eisenbahner in Belarus (@belzhd_live) schreibt. Zudem verübten Hacker Cyberangiffe auf die zentralen Steuerungssysteme.

Von da an gibt es fast täglich Berichte über neue Angriffe, wie sie die russischsprachigen Seite der Deutschen Welle veröffentlicht hat:

Am 14. März war die Ausrüstung auf dem Abschnitt Damanava-Liasnaya (Region Brest) außer Betrieb, am 16. März auf dem Abschnitt Farynava-Zahatstse (Region Vitsebsk). Am nächsten Tag stahlen „unbekannte Täter“ sechs Signaltransformatoren aus dem Relaisschrank des Bahnhofs Vorsha-Tsentralnaya, was zu einem fast sechsstündigen Ausfall der Ampeln führte. Laut dem Telegram-Kanal der belarussischen Eisenbahner wurden in der Nacht zum 25. März in der Nähe von Barysau (Gebiet Minsk) zwei Schaltschränke für die Signalisierung, Zentralisierung und Verriegelung verbrannt. Und in der Nacht zum 28. März wurden nach Angaben des belarussischen Ministeriums für Notfälle zwei Schaltschränke auf der Strecke Asipovichy-Viareitsy (Region Mahiliou) in Brand gesetzt.

Nach den Sabotageakten kam es zu mehreren Verhaftungen durch die belarussische Polizei und Geheimdienste. Bis zum 31. März wurden laut zerkalio.io 40 Eisenbahner:innen festgenommen, darunter mehrere Lokführer:innen, Maschinist:innen, und Hilfskräfte aus dem Bahndepot der Stadt Gomel. Ihnen drohen Verfahren wegen „terroristischer Handlungen“ und „Mitgliedschaft einer extremistischen Vereinigung“, worauf bis zu 15 Jahre Haft stehen.

Mittlerweile patrouillieren bewaffnete Mitglieder von Geheimdienst und Militär die Eisenbahnstrecken und wichtige Schaltstellen. Dennoch geht der „Krieg der Eisenbahner:innen“ weiter. Durch die zahlreichen Sabotageakte und Cyberangriffe könnten Züge und Weichen nur noch manuell betätigt werden, wodurch der Eisenbahnverkehr auf 15 bis 20 km/h beschränkt sei.

Die militärische Bedeutung

Tatsächlich ist das russische Militär für seine Logistik in hohem Maß auf die Eisenbahn angewiesen. Der ehemalige Offizier der US-Armee, Alex Vershinin, schreibt in einer Analyse: „Die Logistikkräfte der russischen Armee sind nicht für eine groß angelegte Bodenoffensive fernab ihrer Eisenbahnlinien ausgelegt. Russische Verbände haben nur drei Viertel so viele Kampffahrzeuge wie ihre amerikanischen Kollegen, aber fast dreimal so viel Artillerie. Aufgrund der zusätzlichen Artillerie- und Luftverteidigungsbataillone sind die logistischen Anforderungen der Russen wesentlich höher als die der Amerikaner.“

Teilweise drangen russische Truppen zu Beginn des Krieges bis zu 200 Kilometer tief in ukrainisches Territorium ein, um mit dem Vorteil des Überraschungsmomentes wichtige Stellungen einzunehmen, ohne dabei aber die Nachschubwege zu sichern. Die Versorgung mit Proviant, Treibstoff und Munition muss vielerorts mit LKW-Konvois bereitgestellt werden, die leichte Ziel für Angriffe aus dem Hinterhalt sind. Bis Mitte März wurden laut Forbes bereits 485 Lastwägen zerstört, mehr als ein Zehntel der russischen LKW-Flotte. Folglich kommt es immer wieder zu Meldungen von Panzern, die wegen Mangel an Treibstoff liegen gelassen wurden. In einem weiteren Artikel vom 10. März schreibt Alex Vershinin:

„Heute ist es verfrüht zu sagen, dass die russische Armee in der Ukraine wegen ihrer Versorgungsprobleme feststeckt oder verliert. Das russische Militär wird seine logistischen und wartungstechnischen Probleme wahrscheinlich überwinden, sobald die eroberten Eisenbahnstrecken in Betrieb genommen werden. Ein neuer Eisenbahnknotenpunkt wird wohl in Cherson eingerichtet, um die Offensive gegen Odessa zu unterstützen.“

Während die russische Armee den Krieg im Süden und Osten auf diese Weise fortsetzen kann, steht sie im Norden vor großen Schwierigkeiten. Für einen Angriff auf Kiew wäre es notwendig, die nordöstliche Bahnstrecke zu kontrollieren, die über Tschernihiw und Nizhyn läuft. Doch soweit kommt sie gar nicht. Ihren Nachschub organisiert sie vermutlich aus dem belarussischen Gomel – ein Zentrum der rebellischen Eisenbahner:innen. Statt mit dem Zug alles Nötige an die etwa 100 Kilometer entfernte Front liefern zu können, läuft die Versorgung der Truppen wegen der Sabotage-Aktionen ausschließlich über Lastwägen. Das erschwert allein schon die Eroberung von Tschernihiw. Eine größere Konzentration von Truppen zur Umzingelung von Kiew ist unter diesen Bedingungen völlig ausgeschlossen. Auch nordwestlich von Kiew steht das russische Militär vor den gleichen logistischen Problemen. In dieser Region, in der nun das Massaker in Butscha bekannt wurde, hatten sich zu Beginn der Invasion kilometerlang russische Fahrzeugkolonnen gestaut. Solange die Eisenbahner:innen in Belarus ihre Sabotage-Aktionen fortsetzen, wird die russische Armee im Norden kaum erneut angreifen können.

Die politische Bedeutung

Belarus war schon vor dem Krieg stark von Moskau abhängig, doch die Präsenz von 30.000 russischen Soldat:innen und der Angriff von belarussischem Territorium aus machen es de facto zur Kriegspartei und Befehlsempfänger Putins. Zu Beginn des Einmarsches spekulierten westliche Beobachter:innen auch über eine mögliche aktive Beteiligung des belarussischen Militärs – was durch die Sabotageaktionen erschwert wird. Zudem hat das Land seine verfassungsmäßige Unabhängigkeit aufgegeben und offiziell der Stationierung russischer Atomraketen zugestimmt. Dagegen gab es Ende Februar die größten Proteste seit der Demokratiebewegung 2020/21, diesmal mit 800 Verhaftungen.

Die Repression gegen die Opposition ist enorm. Offene Streiks zur Blockade von Militärtransporten sind in dieser Situation kaum möglich, oder müssten sich schnell genug zu Massenstreiks ausbreiten, um das Regime als Ganzes zu stürzen. Die Eisenbahner:innen führen unter Lebensgefahr ihre Sabotageakte durch. Laut ihrem Info-Kanal fürchtet die Regierung, die Kontrolle über die Eisenbahn zu verlieren, weshalb der Geheimdienst KGB seine ganze Repression gegen die Arbeiter:innen konzentriert und teils auch willkürliche Verhaftungen zur Einschüchterung vornimmt, was aber den Hass der Bevölkerung auf das Regime nur noch weiter steigert.

Schon die Protestbewegung letztes Jahr hat gezeigt, dass Belarus ein Sicherheitsrisiko für Putin bedeutet. Das russische Regime baut seine Macht darauf, seine Nachbarländer in Osteuropa und Zentralasien zu unterdrücken und dort autoritäre Regierungen zu unterstützen. Das Schicksal von Belarus ist eng mit den Perspektiven des Krieges verbunden. Bei einer russischen Niederlage könnte sich Lukaschenko schwerlich halten. Für dessen Sturz könnten die Eisenbahner:innen eine entscheidende Rolle spielen.

An ihrem Vorbild kann sich eine dritte Position entwickeln, die sich sowohl gegen das russische Militär stellt, als auch unabhängig von den Waffenlieferungen und Befehlen der NATO agiert. Wenn die Arbeiter:innen in Russland ihrem Beispiel folgen und die Transportmittel sabotieren, blockieren oder bestreiken, kommt der russische Angriff auch im Süden und Osten zum Erliegen. In Westeuropa und den USA sagen die Regierungen und großen Medien, man müsste Waffen an die Ukraine liefern, um die russische Armee zu stoppen. Aber das wird den Krieg nur weiter eskalieren bis hin zu einer direkten Konfrontation von NATO und Russland.

Auf ihrem Telegram-Kanal verkündet die Gemeinschaft der Eisenbahner in Belarus: „Unser Ziel ist es, die Bewegung von militärischen Einheiten und militärischen Gütern der Russischen Föderation durch Belarus zu verzögern und im Idealfall ganz zu stoppen.“ Zudem informieren sie über Fragen wie Löhne von Beschäftigten, Entlassungen, Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften, kriminelle Machenschaften von Führungskräften oder die wirtschaftliche und soziale Lage. Der Kanal wendet sich auch gegen die Inflation, die zuletzt in Belarus bei circa 10 Prozent lag.

Damit unterscheiden sich die Eisenbahner:innen von der liberalen belarussischen Opposition, die sich hinter die NATO stellt. So forderte die in Litauen lebende Oppositionsführerin Swjatlana Tsikhanouskaya in einem Interview mit dem Guardian weitere Sanktionen des Westens gegen das Regime von Alexander Lukaschenko, „selbst wenn sich dies schmerzhaft auf gewöhnliche belarussische Bürger:innen auswirkt.“ Schon jetzt gibt es anlässlich der belarussichen Unterstützung für den Krieg zahlreiche Handelsbeschränkungen für wichtige Industriegüter wie Mineralöle, Holz, Eisen, Stahl, Zement oder Gummi.

Wie auch in Russland und Westeuropa geht der Krieg mit seinen Sanktionen und Rüstungsausgaben auf Kosten der breiten Bevölkerung mit steigenden Preisen und drohender Arbeitslosigkeit. Die Antikriegsbewegung muss weltweit dafür kämpfen, dass keine weiteren Waffen in das Kriegsgebiet geliefert werden, weder von Russland noch der NATO. Im italienischen Pisa haben sich Beschäftigte am Flughafen geweigert, Waffen, Munition und Sprengstoffe zu verladen, die als „humanitäre Hilfe“ getarnt an das ukrainische Militär geliefert werden sollten. Und in Griechenland haben Eisenbahner:innen die Lieferung von Panzern in die Ukraine blockiert. In Hamburg hat die Gewerkschaft Verdi eine Initiative gestartet, die sich gegen Rüstungsexporte vom dortigen Hafen ausspricht. In anderen Bundesländern blockierten LKW-Fahrer:innen die Autobahnen aus Protest gegen die Inflation.

Um den Krieg zu stoppen braucht es gleichermaßen die Aktionen der Beschäftigten in den EU- und NATO-Staaten, als auch derer in Russland und Belarus gegen ihre jeweiligen Regierungen. Die Beschäftigten im Transportsektor haben die Macht, mit ihren Aktionen die komplette Kriegsmaschinerie beider verfeindeter Lager zu stoppen. Es braucht eine internationale Kampagne der Gewerkschaften in West-, Osteuropa und Russland mit Blockaden und Streiks zum Stopp der Rüstungslieferungen und gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen. Gemeinsam können die kämpferischen Gewerkschaften und linken Organisationen länderübergreifend politische Ziele, Methoden des Kampfes und Aktionen koordinieren und so tatsächlich eine dritte Position der Arbeiter:innen aufbauen und den Krieg stoppen.

Wer heute den Krieg wirklich beenden will, darf sich nicht hinter die NATO oder Putin stellen. Der heroische Kampf der belarussischen Eisenbahner:innen zeigt uns den Weg.

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