Eine ungewisse Zukunft: Sechs Punkte, die du zum Brexit wissen musst

06.01.2021, Lesezeit 8 Min.
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Quelle: La Izquierda Diario

Kurz vor Weihnachten wurde die Einigung über die Bedingungen des Brexits bekannt gegeben. Der endgültige Text, der einschließlich der Anhänge über 2.000 Seiten umfasst, trat am 1. Januar 2021 in Kraft, nachdem er von den EU-Mitgliedern und dem britischen Parlament ratifiziert worden war. Viele Zweifel und Unwägbarkeiten bei der Umsetzung versprechen für das Vereinigte Königreich eine ungewisse Zukunft.

Premierminister Boris Johnson hat es geschafft, die euroskeptischen Rebell:innen in seiner Partei mit einem Deal zu besänftigen, der Großbritannien weiter von der EU entfernt als der Vorschlag der vorherigen Bewohnerin von Downing Street Nr. 10, Theresa May. May hatte eine gewisse Nähe zur EU beibehalten, um Grenzkontrollen zwischen Nordirland (Teil des Vereinigten Königreichs) und der Republik Irland zu vermeiden, war aber auf starken Widerstand des euroskeptischen Flügels der Konservativen Partei gestoßen.

Seit dem Inkrafttreten des Brexits ist das Vereinigte Königreich nicht mehr Teil des EU-Binnenmarktes und der Zollunion. Wir fassen hier einige der schwierigeren Aspekte dieser neuen Beziehung zusammen.

1) Handel und Warenverkehr

Die Vereinbarung sieht vor, die Zollfreiheit für den Warenverkehr beizubehalten. Das heißt, es werden keine Import- oder Exportzölle erhoben und auch keine Quoten festgelegt. Weil Großbritannien jedoch die Zollunion verlässt, müssen alle Produkte (Lebensmittel, Pharmazeutika, technische Produkte usw.) einer strengen Zollkontrolle unterzogen werden. Dabei müssen Unterlagen vorgelegt werden, um die Übereinstimmung mit den lokalen Standards sicherzustellen. Sollte sich etwa eine EU-Norm ändern, muss das Vereinigte Königreich diese einhalten, andernfalls können Strafen verhängt werden.

Kurz gesagt, obwohl es keine Zölle oder Handelsquoten gibt, muss der Warenverkehr eine Reihe von bürokratischen Verfahren durchlaufen, die den Handel verlangsamen und verteuern. Weitere, wahrscheinlich trockene, Verhandlungen über zukünftige Produktnormen sind zu erwarten.

2) Gemeinschaftsrechte und Freizügigkeit

Von nun an haben Menschen mit britischer Staatsangehörigkeit nicht mehr das Recht, in der EU zu arbeiten, zu studieren, ein Unternehmen zu gründen oder zu leben. Für Aufenthalte, die länger als 90 Tage dauern, muss ein Visum eingeholt werden. Es gibt allerdings Pläne für eine Koordinierung bestimmter Sozialversicherungs-, Renten- und Gesundheitsleistungen, die es für Menschen aus Großbritannien, die in der EU arbeiten, einfacher machen sollen, den Verlust bereits geleisteter Beiträge zu vermeiden. Es wird auch keine automatische Anerkennung von Abschlüssen in den Bereichen Medizin, Krankenpflege, Architektur, Zahnmedizin, Pharmazie, Tiermedizin und Ingenieurwesen geben, sodass die Abschlüsse erst durch einen Anerkennungsprozess laufen müssen, um diese Berufe ausüben zu können.

Das britische Nationale Gesundheitssystem (NHS) genießt einen besonderen Status. EU- und Nicht-EU-Gesundheitsfachkräfte, die bereits in Großbritannien ansässig sind, werden weiterhin arbeiten können, aber neue Beschäftigte werden mit Fachkräften aus anderen Ländern außerhalb der EU konkurrieren müssen. Führungskräfte und Spezialist:innen können sich ihrerseits bis zu drei Jahre in einem EU-Land aufhalten, Auszubildende bis zu einem Jahr; diese Zeiträume können nur mit einer vorherigen Genehmigung verlängert werden.

3) Antimigrantische Rhetorik und Wirtschaftskrise

Der Brexit wurde von großen Teilen der red wall („rote Wand“, das Labour-Kerngebiet in Mittel- und Nord-England und Nord-Ost-Wales) unterstützt, die damit auf die xenophobe und antimigrantsiche Demagogie der britischen Rechten hereinfielen. Dabei handelt es sich um Bergbaustädte und Konzentrationen der traditionellen Industriearbeiter:innenklasse, die durch die Deindustrialisierung und Privatisierung von Staatsunternehmen (Telekommunikation wie British Telecom oder Stahlunternehmen wie British Steel plc) in den 80er Jahren während der konservativ-neoliberalen Regierungszeit der Margaret Thatcher in die Arbeitslosigkeit und Armut gedrängt wurden. Diese Zentren der Arbeiter:innenklasse, die ihrem Schicksal überlassen und zu „Geisterstädten“ wurden, waren ein idealer Nährboden für die antimigrantische Rhetorik des Brexit.

Für den Brexit stimmte ein Spektrum, das von diesen Arbeiter:innensektoren bis hin zur unteren Mittelschicht und konservativen Wähler:innen reichte. Auch Sektoren von Unternehmer:innen, die die EU als Hindernis für eine wirtschaftliche Expansion des Freihandels, der Liberalisierung und Deregulierung sehen, stimmten für den Brexit als einen Weg, damit sich die Wirtschaft von der Krise im Jahr 2008 erholen und diese abschließen könne.

Der euroskeptische Sektor stützte seinen Diskurs auf nationalistische, antimigrantische Rhetorik und die Notwendigkeit, die „Kontrolle“ über das Land zu übernehmen, um britische Arbeitsplätze und die Industrie zurückzugewinnen. Aber natürlich wird diese nationalistische Demagogie nicht von wirtschaftlichen Daten unterstützt. Im Gegenteil, wie der marxistische Ökonom Michael Roberts zeigt, „wird die britische Wirtschaft real langsamer wachsen, als sie es getan hätte, wenn sie Mitglied geblieben wäre“, und „es wird durch den EU-Austritt über die nächsten 10 bis 15 Jahre einen kumulativen Verlust im realen BIP des Vereinigten Königreichs von zwischen 4% und 10% des BIP geben“.

4) Die Fischereiindustrie

Mit dem neuen Abkommen verlässt das Vereinigte Königreich die Gemeinsame Fischereipolitik (GFP). Dies war ein Reibungspunkt in den Verhandlungen, weil der Fischereisektor, der hauptsächlich aus kleinen Unternehmen besteht, sich über seinen geringen Quotenanteil beschwerte. Es handelt sich um eine Branche mit geringem Einfluss auf die britische Wirtschaft – sie trägt nur 0,04 % zum BIP bei –, was zweifellos das Ergebnis der Verhandlungen zur Reduzierung der EU-Fanggrenze um 25 % über fünf Jahre beeinflusst hat. Da die EU-Fischereiflotte weiterhin den gleichen Zugang zu britischen Gewässern haben wird, wird am Ende dieses Fünfjahreszeitraums ein Viertel (25 %) des EU-Fangs nach Großbritannien „zurückgeführt“.

Die Fischereiindustrie, die den Brexit als Lösung für ihre geringe Produktivität sah und der ein exklusiver Zugang zu den britischen Küsten versprochen worden war, ist von den Bedingungen des Johnson-Abkommens enttäuscht. Die Fischereiindustrie, insbesondere die schottische, fühlt sich durch das erzielte Abkommen „verraten“. Außerdem kommt ein sehr bedeutender Anteil der Arbeiter:innen in diesem Sektor aus Rumänien, Bulgarien und anderen EU-Ländern, die ebenfalls vom Brexit betroffen sein werden.

5) Erasmus, Universität und wissenschaftliche Forschung

Das Vereinigte Königreich zieht sich aus dem Erasmus-Studienaustauschprogramm zurück. Dies wird sich zweifellos negativ auf die britischen Universitäten auswirken, die nicht länger von den Aufenthalten der EU-Studierenden profitieren werden, und gleichzeitig werden britische Studierenden nicht mehr in der Lage sein, ihr Studium in der EU zu absolvieren. Nordirland wird jedoch weiterhin Zugang zum Erasmus-Programm haben.

Das Vereinigte Königreich wird nach wie vor als assoziiertes Mitglied am wissenschaftlichen Forschungsprogramm Horizon Europe teilnehmen, bis es in sieben Jahren abgeschlossen ist. Es wird zudem Teil des Erdbeobachtungsprogramms Copernicus der Europäischen Union und des Forschungs- und Ausbildungsprogramms Euratom der Europäischen Atomgemeinschaft bleiben.

6) Irland, Schottland und mögliche geopolitische Implikationen

Es ist nicht auszuschließen, dass die Umsetzung des Brexit zentrifugale Tendenzen innerhalb Großbritanniens auslösen und nationalistische Tendenzen verstärken wird. Boris Johnsons Handelsabkommen wurde von den schottischen und nordirischen Parlamenten rundweg abgelehnt, die es als katastrophal und schädlich bezeichneten.

Die Parlamente von Holyrood (Schottland) und Stormont (Nordirland), der dezentralen Nationen Großbritanniens, verabschiedeten mit großer Mehrheit Anträge, die den Deal verurteilten, nachdem sie ihre Weihnachtspause unterbrochen hatten, um den Last-Minute-Deal der britischen Regierung mit der EU zu diskutieren.

Die schottische Premierministerin Nicola Sturgen sagte, das Abkommen verrate die schottische Fischereiindustrie und sei eine „demokratische, wirtschaftliche und soziale Katastrophe“. Laut Sturgen wird die Brexit-Einigung den Vorstoß ihrer Partei für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum bei den Holyrood-Wahlen im Mai befeuern. Sie fügte hinzu, dass nur die Unabhängigkeit die Interessen Schottlands schützen würde und sie den EU-Beitritt Schottlands beantragen würde.

Die Kontrolle der 449 Kilometer langen Grenze zwischen Nordirland (UK) und der Republik Irland (EU) war einer der Hauptstolpersteine in den Brexit-Verhandlungen. Das Ziel, die Wiedererrichtung einer Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland zu vermeiden, ist gescheitert. Es sei daran erinnert, dass die Zollkontrollen an der Grenze 1923 eingeführt wurden und mit unterschiedlicher Strenge bis zum 1. Januar 1993 andauerten, als die systematischen Zollkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft abgeschafft wurden.

Mit dem Inkrafttreten des Brexits bleibt die Zollfreiheit des Handels zwischen Nordirland und der Insel Großbritannien wie bei allen EU-Ländern erhalten, allerdings mit einer neuen Zollgrenze entlang der Irischen See zur Kontrolle der Produktnormen. Die Häfen und Flughäfen Nordirlands werden die Kontrollstellen für die Warenkontrolle sein.

Sowohl die neue Grenze in der Irischen See als auch der fortgesetzte Zugang zum Erasmus-Programm bringen Nordirland mehr in Einklang mit der EU. Dies ist eine neue Beziehung, die die pro-britischen Unionisten stört. Widersprüchlicherweise geht diese Angleichung an die EU in Richtung der Wiedervereinigung Irlands, der historischen Forderung der republikanischen Unabhängigkeitsbewegung.

Nimmt man noch hinzu, dass Schottland die EU-Mitgliedschaft anstrebt und sich mehr Gemeinsamkeiten zwischen der Republik Irland und Nordirland herausbilden, kann diese Dynamik erhebliche zentrifugale Kräfte freisetzen, die die staatliche Einheit des Vereinigten Königreichs weiter untergraben könnten.

Wird der Brexit die Kraft sein, die zu einem möglichen Zerfall des Vereinigten Königreichs führen könnte? We’ll see.

Dieser Artikel erschien zuerst am 2. Januar 2020 auf Spanisch bei La Izquierda Diario und am 4. Januar 2020 auf Französisch bei Révolution Permanente.

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