Eine schwarze jüdische Frau wird gelyncht

13.02.2018, Lesezeit 5 Min.
1

Theaterstück der britischen Aktivistin Jackie Walker in Neukölln. Mit ihrer Lebensgeschichte wehrt sie sich gegen Vorwürfe des Antisemitismus.

Das Theaterstück am Sonntag Abend in Neukölln hatte das Zeug zum Skandal. Eine britische Politikerin, die wegen antisemitischer Äußerungen von der Labour Party suspendiert ist, verteidigt sich mitten im Problembezirk. Auf der Liste der schlimmsten antisemitischen Vorfälle auf der ganzen Welt im Jahr 2016 schaffte es Jackie Walker auf Platz zwei.

Und doch ist alles komplexer. Organisiert wurde die Veranstaltung von der Jewish Antifa-Berlin. Walker selbst ist eine schwarze jüdische Frau. Wenn ein Witz auf Hebräisch in den Raum geworfen wird, lacht mindestens ein Drittel des Saals.

Jackie Walker muss seit Jahren hören, dass die Hass gegen Juden propagiert. Mit dem Theaterstück „The Lynching“ will sie sich gegen Vorwürfe verteidigen, vor dem „Gericht der öffentlichen Meinung“.

Aber sie sagt erstmal nichts zu den einzelnen Nachrichten auf Facebook oder heimliche aufgenommene Redebeiträge bei Workshops, die ihr so viel Ärger gebracht haben. Sie geht ganz weit zurück.

Vater und Mutter

Die Frau mit Sonnenflecken und schwarzen Dreads steht allein auf der Bühne. Der Saal ist überfüllt. Walker war Lehrerin und später Antirassismus-Aktivistin – sie beherrscht die Kunst, die Menge mitzuziehen, selbst nach 90 Minuten.

Mit einer schrägen Hornbrille tritt sie erst als ihre eigene Mutter Dorthy Walker auf. Sie kam aus Jamaika, aber schaffte es an die Howard University in Washington D.C., und engagiert sich in der Bürgerrechtsbewegung.

Walker wechselt sie Hornbrille für eine braune Fedora, und spricht statt mit karibischem mit amerikanischem Akzent. Jetzt spielt sie ihren Vater Max Cohen, einen kommunistischen Juwelier. Er lernte Dorothy bei Jazz-Konzerten in Harlem kennen, aber ihre Liebe entstand durch den gemeinsamen Aktivismus. Bald wird die Tochter Jackie geboren.

Dorothy wird aufgrund ihres Aktivismus in der Psychiatrie eingesperrt und dann nach Jamaika abgeschoben. Sie schlägt sich mit ihren kleinen Kindern bis England durch.

Jackie berichtet, mit der Stimme ihres achtjährigen Selbst, wie die Bushaltestelle angespuckt wird oder in ihrem Haus die Fenster eingeschlagen werden. „Swastika“ (Hakenkreuz) kann die kindliche Stimme nicht aussprechen.

Als Jackie elf Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter nach einem Asthma-Unfall. Oder genauer: „Sie starb weil sie arm, krank und farbig war.“

Bis 18 lebte Jackie in der Obhut des Staates. Später kann sie studieren und wird Lehrerin. Sie trat 1991 in die Labour Party ein, „weil ich damals dachte, das sei eine sozialistische Partei.“

Als Tony Blair die Partei „modernisierte“, trat sie aus. Als Blair wieder ging, trat sie wieder ein. Walker engagierte sich zusammen mit Abgeordneten auf dem extrem linken Parteiflügel. Unter anderem bei einem damals total unbekannten Hinterbänkler namens Jeremy Corbyn.

Oft saßen nur zehn Leute und ein Hund im Publikum, als Corbyn gesprochen hat. „Als einmal der Hund gefehlt hat“, erinnert sie sich, „sagte ich zu Jeremy: wir sind am Tiefpunkt“. Doch per Mitgliederentscheid wurde diese „harte Linke“ zum Parteivorsitzenden gewählt. Inzwischen wird Jeremy Corbyn als Popstar und Sexsymbol gefeiert. 60 Prozent der 18 bis 25-Jährigen stimmten für ihn und beim Musikfestival Glastonbury sangen Hunderttausende seinen Namen. Die Forderungen nach Verstaatlichungen, kostenlosem Studium und öffentlichem Wohnraum sind äußerst beliebt. Die neugegründete Gruppe „Momentum“ soll Corbyns Linie in der Partei unterstützen und Walker wird zum stellvertretenden Vorsitzenden. Zu ihren jahrezehntelangen linken Überzeugungen gehört die Verteidigung der Rechte der Palästinenser*innen.

Genau jetzt setzt die Kampagne gegen „Antisemitismus“ ein.

Vorwürfe des Antisemitismus

In einer privaten Facebook-Nachricht reflektiert Walker über ihre ungewöhnliche Familiengeschichte. Auf der einen Seite sind Sklaven, auf der anderen Seite sind Juden, die „die Financiers des Sklavenhandels“ waren.

Ja, das klingt in der Tat antisemitisch.

Jackie lässt sich durch ihre Mutter verteidigen: „Ich bin schon 101 Jahre alt, und 51 davon bin ich bereits tot“ beklagt sie. Ist ihre Tochter wirklich eine größere Gefahr für Juden als Nazis oder die islamische Republik Iran?

Die Mutter erläutert: Die Aussage bezieht sich gar nicht auf ihre väterliche Vorfahren. Zu den Vorfahren ihrer Mutter gehören auch portugiesische Juden, die nach Jamaika geflohen sind, und sich dort am einzigen Geschäft beteiligten, das es zur Kolonialzeit auf der Insel gab: Zucker und Sklaven.

Ja, Walker hätte schreiben sollen: Ihre jüdischen Vorfahren gehörten zu den den Financiers des Sklavenhandels. Aber wird sie, wegen einer unglücklich getippten Formulierung in einer Facebook-Nachricht, nun Rassistin?

Bizarr, nicht ungewöhnlich

Diese Art von Verleumdungskampagne ist bizarr, die jüdische Antirassist*innen zu Antisemit*innen stilisieret, ist bizarr, aber nicht ungewöhnlich. Walker wendet sich abschließend gegen Antisemitismus, genauso wie gegen Islamophobie und jede Form von Rassismus. Sie ist gegen den Zionismus und „gegen jede Ideologie, die die Rechte eines Volkes über die eines anderen stellt“.

Solche universalistischen Positionen werden mit Vorwürfen des Antisemitismus mundtot gemacht, und das erklärt paradoxerweise den großen Andrang am Sonntag. Die Teilnahme am Theaterstück ging nur mit vorheriger Anmeldung, die Schlange vor der Tür reicht bis zur Straße, jeder Quadratzentimeter auf dem Boden ist besetzt. Die weit verbreitete Zensur von Kritik am Zionismus hat scheinbar zu einem richtigen „Hunger“ geführt, so eine der Organisatoren.

Mehr zum Thema