Ein Streik der nicht wehtut, ist kein Streik!

14.07.2020, Lesezeit 7 Min.
Gastbeitrag

Immer wieder richtet sich der Zorn der Öffentlichkeit gegen Streikende. Sollten Streiks deswegen abgebrochen oder gemäßigt werden? Nein, findet Lasse Reinboeng, denn erst dann fängt der Kampf an, erfolgreich zu werden!

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Foto: Lasse Reinboeng

Jeder Beschäftigte, der schon mal gestreikt hat, kennt die Situation: Die Streiks zeigen Wirkung und die Unternehmen beginnen mit ihren Verbindungen zur konservativen Presse, Streiks zu verunglimpfen und die Bevölkerung gegen die Beschäftigten aufzubringen. Viele Streikleitungen und Streikende sind negative Kampagnen nicht gewöhnt. Deswegen versuchen sie möglichst, die Streiks so zu gestalten, dass die Öffentlichkeit für die eigenen Ziele gewonnen werden kann und auf keinen Fall verärgert wird. Natürlich ist das grundsätzlich richtig, denn ein Streik ist auch immer ein Kampf um die Deutungshoheit in der Öffentlichkeit. Wo der Senat oder andere Regierungen als Unternehmer*innen auftreten, werden sie auch immer versuchen, die Wähler*innenschaft auf ihre Seite zu ziehen und gegen die Streikenden zu positionieren.

Dennoch: Ein Streik ist nicht dazu da, es jedem Recht zu machen. Es gibt keine erfolgreichen Kämpfe, bei denen die Belegschaft durch ihre Streikmaßnahmen nicht auch unter heftige Kritik geraten ist. Wir kennen das von den Streiks der S-Bahn und der BVG. Schimpfende Fahrgäste, die nicht rechtzeitig zur Arbeit kommen. Und das, obwohl gerade das für die Streikenden positive Auswirkungen sind: Wenn auch in anderen Sektoren die Auswirkungen des Streiks zu spüren sind. Ein anderes Beispiel sind streikende Kindergärtner*innen, die von der Presse und im Bekanntenkreis angefeindet werden.

Die „Bild“ veröffentlichte 2014 die Büronummer des Chefs der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) Claus Weselsky. „Focus Online“ zeigte sein Wohnhaus und stellte den GDL-Chef an den medialen Pranger. Aber auch jenseits der Springerpresse passiert so etwas. In Berlin wurde den Beschäftigten des Botanischen Gartens im Streik betriebsintern und von Besucher*innen vorgeworfen, sie würden das historische botanische Erbe Berlins gefährden. Solche Vorwürfe treffen Gärtner*innen, die ihr Leben lang Pflanzen hegen und pflegen, ins Mark. Man appelliert an ihr Verantwortungsbewusstsein. Ja, es stimmt: Werden Pflanzenbestände während eines Streiks nicht mehr gegossen, sind sie in nur wenigen Tagen ein Fall für den Kompost. Und im Botanischen Garten Berlin wachsen Arten, die über 100 Jahre kultiviert wurden und damit unwiederbringlich verloren wären. Aber eben weil die Gärtner*innen so gut ausgebildet sind und Verantwortungsbewusstsein haben, sollten sie ja auch ordentlich bezahlt werden. Und die Unternehmen hätten jederzeit die Möglichkeit, Streiks abzuwenden oder zu beenden, indem sie die Forderungen der Streikenden erfüllen.

Noch etwas heftiger sind die Reaktionen bei Kämpfen an den Krankenhäusern. Denn dort stehen nicht Pflanzen, sondern die Gesundheit von Menschen auf dem Spiel. Deshalb gibt es die Möglichkeit von Notdienstvereinbarungen, die den Unternehmen eine Grundversorgung garantieren. Über eine solche Vereinbarung kann zum Beispiel geregelt werden, dass die Versorgung mit Trinkwasser auf den Krankenhausstationen gewährleistet oder dass der Krankentransport sichergestellt bleibt. Beim derzeitigen Arbeitskampf der Charitétochter Charité Facility Management (CFM) verweigert die Geschäftsführung jedoch eine Notdienstvereinbarung. Das liegt nicht an fehlendem Verantwortungsbewusstsein, sondern ist strategisches Kalkül.

Das mediale Dreckschmeißen auf Beschäftigte während Streiks ist gewöhnliches Handwerkszeug der Unternehmer*innen. Es wird genutzt, seit es Streiks gibt. So wie ein Installateur zur Rohrzange greift, um ein Rohr festzuziehen, so wird ein Unternehmer zu diesen Mitteln greifen, wenn er in Bedrängnis gerät. Umgekehrt bedeutet das, dass ein Unternehmen überhaupt nicht in Bedrängnis war, wenn diese Karte nicht gezogen wurde. Und das passiert häufiger, als man denkt. Tarifverträge werden geschlossen, ohne dass der Kampf überhaupt erst „schmutzig“ wurde. War das Unternehmen denn dann überhaupt unter Druck? Oder wollte man das nur Glauben machen, um schneller einen billigeren Kompromiss abzuschließen? Tarifverträge, die unter solchen Bedingungen – vielleicht sogar ganz ohne Streiks – entstehen, sorgen meist früher oder später wieder für Unzufriedenheit unter den Beschäftigten.

Gäbe es eine Notdienstvereinbarung, die sicherstellt, dass die Auswirkungen auf Kunden oder Patient*innen nicht gravierend sind, dann würde es dem Unternehmer auch nicht gelingen, die Öffentlichkeit gegen die Streikenden aufzubringen. Für den Kampf an der Charité kann das also bedeuten, dass der Senat, die Charité und die Geschäftsführung der CFM ganz bewusst keine Notdienstvereinbarung abschließen, um dann den Speer gegen die Beschäftigten zu richten. Damit nehmen die Verantwortlichen Mängel bei der Patientenversorgung billigend in Kauf. Nur deshalb lehnen die Geschäftsführer der CFM eine Notdienstvereinbarung ab. Notdienstvereinbarungen sind doch ein Instrument, das hauptsächlich den Unternehmen entgegenkommt, denn es erlaubt eine gewisse Weiterführung des Betriebs. Es gibt keinen Grund für die Bosse, die Vereinbarungen abzulehnen, außer eben jenes strategische Kalkül. Ziel der Unternehmen ist es, dass die Belegschaft vor den Anfeindungen der Bevölkerung zurückschreckt und sich spalten lässt. Und Spaltung ist eine der wenigen wirksamen Maßnahmen gegen Streik, also ein wichtiges Mittel der Unternehmen.

Was die Streikenden aktuell bei den Krankenhäusern wissen müssen: Sie sind nicht alleine. Tausende Beschäftigte wurden vom Berliner Senat in über 160 Tochterunternehmen ausgegründet und leiden unter exakt dem gleichen Lohndumping. Jede Eskalation der öffentlichen Debatte ist bei diesem Thema sinnvoll und führt am Ende zu mehr Sympathie für Beschäftige. Zumindest bei den Menschen, die dieses Spiel durchschauen. Außerdem ergeben sich aus der aktuellen Situation nie dagewesene Chancen: Die Corona-Pandemie richtet Aufmerksamkeit und Sympathie der Bürger*innen auf den Gesundheitssektor. Es ist daher an der Zeit, die Bevölkerung auch mit den schlechten Arbeitsbedingungen der Krankenhausbeschäftigten zu konfrontieren, eine schlechte Publicity durch die konservative Presse in Kauf zu nehmen und eine echte Diskussion und einen Meinungsbildungsprozess zu Ausgliederungen an Krankenhäusern in Gang zu setzen.

Die Hoheit in der Öffentlichkeit zu behalten, ist kein Selbstläufer. Aber wir sind dieser Konfrontation gewachsen! Im Kampf um die öffentliche Meinung lautet unser Handwerkszeug Öffentlichkeitsarbeit. Werden Beschäftigte zum Beispiel von der Springerpresse angegriffen, ist es die Aufgabe der Gewerkschaften, den Streik in der Öffentlichkeit aufzuarbeiten, die wahren Verursacher sichtbar zu machen und mit der linken Presse gegen diese Anfeindungen anzuschreiben. Auch wenn die konservative Presse durch ihre Macht ein bis zwei Wochen die öffentliche Meinung dominieren könnte, werden am Ende einer solchen Auseinandersetzung die Sympathien immer auf Seiten der Streikenden sein. Zumindest bei den Menschen, die bereit sind, sich mit der Situation ehrlich auseinanderzusetzen.

Deshalb ist es fast schon ein Naturgesetz, dass Streikende, die sich nicht mit ein paar Krümeln abspeisen lassen wollen, durch dieses Tal der Negativpresse wandern müssen, um dann aber am Ende wirklichen Erfolg zu haben. Stimmen, die Streikende überzeugen wollen, dass Streiks eher gemäßigt ausfallen sollen, weil man die Bevölkerung nicht verstimmen möchte, sollten in Frage gestellt werden. Stimmen, die bei der Öffentlichkeitsarbeit auf die Bremse treten, ebenfalls. Sie sagen damit ja indirekt, dass das Anschreiben gegen die konservative Presse ausbleiben soll. Für den Kampf an der Charité könnte das bedeuten, dass er nicht nur bundesweit sondern europaweit über Wochen von der Presse thematisiert werden wird, sofern man den Weg zum TVöD konsequent geht und sich nicht mit einem Haustarifvertrag, der die Armut nur legitimiert, begnügen will. Es könnte die härteste Auseinandersetzung seit Jahrzehnten werden, denn die Streikenden der CFM setzen eine neue Richtschnur, nicht nur für den eigenen Betrieb, sondern bundesweit. Unterstützen wir sie mit all unseren Kräften, wenn sie unweigerlich den Weg der Sozialpartnerschaft für ihre Ziele verlassen müssen!

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