„Die ‚Unterkünfte‘ erinnern an Gefängnislager“

03.09.2016, Lesezeit 5 Min.
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Knapp 60.000 Geflüchtete stecken in Griechenland fest. Erste Verbindungen zur radikalen Linken. Ein Gespräch mit Manos Skoufoglou, führendes Mitglied des antikapitalistischen Bündnisses ANTARSYA in Athen.

Die Grenze zu Mazedonien und zum Rest der EU ist dicht. Aktuell sind 57.000 Geflüchtete in Griechenland gestrandet. Wie ist deren Situation?

Seit März, als das Abkommen zwischen der EU und der Türkei unterschrieben wurde, ist der Weg nach Europa blockiert. Die Regierung Griechenlands übernahm die Aufgabe, die EU gegen Refugees abzuschotten. Diese werden jetzt in der Türkei festgehalten – und die Erdogan-Regierung bekommt Geld, um sie in großen Lagern unterzubringen.

Geflüchtete aus der Türkei kommen inzwischen nicht mehr an. Aber Zehntausende Menschen bleiben jetzt auf unbestimmte Zeit hier. Ein paar hundert wohnen auf den Straßen und Plätzen. Einige tausend leben in selbstorganisierten besetzten Häusern. Die meisten sind aber in „Unterkünften“, die eher an Gefängnislager erinnern. Sie werden von der Armee oder von Nichtregierungsorganisationen betrieben, mit wenig Aufsicht. Die Bedingungen in diesen Lagern sind sehr unterschiedlich. In vielen Fällen dürfen Geflüchtete nicht raus und Unterstützer*innen nicht rein.

Vor kurzem kam die Meldung vom Tod einer jungen Frau im Lager in Diavata – sie wäre nicht gestorben, wenn es vor Ort eine*n Arzt*Ärztin gegeben hätte. Geflüchtetenkomitees haben sich in Ritsona und Larisa gegründet, und sie prangern die Lebensbedingungen an: Die Zelte stehen in der Sonne, das Essen reicht nicht und ist teilweise verdorben, die Toiletten sind kaputt und die Gegend ist voller Schlagen und Skorpione. Auch Meldungen über Malaria tauchen im ganzen Land auf.

In einem Land mit elf Millionen Einwohner*innen sollten Zehntausende Refugees zu versorgen sein. Wie werden diese Lebensbedingungen erklärt?

Die Regierung begründet das alles mit der Krise und den Austeritätsprogrammen der EU. Doch ist das überzeugend? In den 1920er Jahren – Griechenland war nach einem imperialistischen Krieg verheert – nahm das Land zwei Millionen Geflüchtete aus der Türkei auf. Damals betrug die Gesamtbevölkerung nur fünf Millionen. Es ist eine politische Entscheidung, die Menschen unter so schlimmen Bedingungen leben zu lassen. Es ist eine klare Strategie der EU, um sie von Europa fernzuhalten. Das ist der tiefe Rassismus der griechischen und europäischen Staaten.

Im Jahr 2015 sind Hunderttausende Geflüchtete durch Griechenland gezogen. Zum ersten Mal bleiben jetzt einige dort. Wie gelingt die Integration?

Es wird jetzt erst deutlich, dass Zehntausende hierbleiben werden, vielleicht für Jahre. Deswegen gibt es erste Anzeichen für Selbstorganisierung der Geflüchteten – schwierig, aber auch inspirierend. Es hat schon Versammlungen im Hafen von Piräus gegeben. In manchen Lagern haben die Bewohner*innen Komitees gewählt. Genauso beteiligen sie sich an der Verwaltung von besetzten Gebäuden, zusammen mit griechischen Unterstützer*innen.

Es hat auch zwei große Mobilisierungen in Athen gegeben: Im März demonstrierten 5.000 Geflüchtete durch die Stadtmitte. Das politische Bewusstsein unter den Geflüchteten wächst – auch wenn sie hauptsächlich aus Ländern kommen, in denen die politische Linke vor langer Zeit zerstört wurde. Zum Beispiel hatten wir ein Treffen in unserem Büro, dort haben Aktivisten aus Afghanistan Ausgaben des „Kommunistischen Manifestes“ in Urdu und Farsi im Bücherregel entdeckt. Sie haben Fotokopien gemacht und in die Lager gebracht.

Natürlich gibt es viele Konflikte unter den Geflüchteten: Die Kommunikation mit griechischen Aktivist*innen ist schwierig. Es wird kein einfacher Weg sein, bis sie sich in Gewerkschaften integrieren können. Aber durch die Solidaritätsbewegung ist ein erster Schritt getan.

Wie wirkt sich das auf das politische Klima aus?

Trotz der ausländer*innenfeindlichen Hetze in den Medien gibt es aktuell mehr Solidarität als Rassismus. Es hat einige Überfälle gegeben, vor allem in Dörfern und auf den Inseln. Doch die Partei „Goldene Morgenröte“ konnte bisher nicht besonders von der Situation profitieren.

Wie sind die Vorschläge der radikalen Linken?

Letzten Herbst hat sich ein Koordinierungskomitee der radikalen Arbeiter*innen- und Studierendengewerkschaften gegründet, um Solidarität zu organisieren. Dieses Komitee hat eine landesweite Demonstration gegen den Grenzzaun in Evros organisiert und auch fast alle Lager besucht, um Kontakt zu den Geflüchteten aufzunehmen. Wir wollen ein Ende jeglicher Diskriminierung und die Legalisierung von allen Menschen. Statt in Lagern auf dem Land sollten Geflüchtete in den Städten leben und arbeiten. Sie sollen auch in unsere Gewerkschaften eintreten und unsere Schulen besuchen. Für diese Forderungen wollen wir nicht nur Arbeiter*innen aus Griechenland gewinnen, sondern auch Geflüchtete selbst.

dieses Interview in der jungen Welt

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