Die Grenzen niederreißen!

10.10.2015, Lesezeit 4 Min.
1

„Die Arbeit der Europäischen Union repräsentiert Brüderlichkeit zwischen den Nationen“. Mit diesen Worten bekam die EU im Jahr 2012 den Friedensnobelpreis – für Jahrzehnte der „friedlichen Zusammenarbeit“, die aus Europa einen „Kontinent des Friedens“ statt des Kriegs gemacht hätten. Angesichts dessen, dass die verschiedenen Nationalstaaten der EU in jeden einzelnen der blutigsten Konflikte der Erde verwickelt sind ist das blanker Hohn.

Blöd, dass die Betroffenen dieser kriegerischen Auseinandersetzungen, die Betroffenen der jahrzehntelangen imperialistischen Ausbeutung in Afrika, Asien und Lateinamerika, nun etwas von der netten Atmosphäre des Friedens abhaben wollen. Plötzlich heißt es: „Das Boot ist voll“, oder, wie Sigmar Gabriel es etwas „politisch korrekter“ ausdrückt: „Es gibt Grenzen der Belastbarkeit auch unseres starken Landes.“

Die „Grenzen der Belastbarkeit“ für die Bevölkerung interessieren die zentralen imperialistischen Mächte in Europa reichlich wenig, wenn es um die Ausbeutung peripherer Länder geht. Stattdessen haben sie die südeuropäischen Länder mit einem ökonomischen Terrorregime namens „Austerität“ überzogen. „Grenzen der Belastbarkeit“ gibt es für die Herrschenden nur, wenn es um ihren eigenen Geldbeutel geht.

Profit und Repression

Das deutsche Kapital lechzt schon mit Eurozeichen in den Augen und Speichel in den Mundwinkeln danach, so viele wie möglich der hunderttausenden Menschen, die auf gefährlichsten Routen ihren Weg nach Deutschland gefunden haben, als billige Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt zu integrieren und dafür soziale Schranken wie den Mindestlohn oder das Verbot der Leiharbeit außer Kraft zu setzen. Unter den Bedingungen der Entrechtung, die Deutschland ihnen aufzwingt, kosten die Geflüchteten sehr viel Geld – wenn auch nur Peanuts im Vergleich zu den Profiten, die aus der Ausbeutung ihrer Herkunftsländer entstehen.

Und so wird das ohnehin schon extrem beschränkte Asylrecht in Deutschland weiter verschärft, Abschiebungen werden vereinfacht, in ganz Europa werden Grenzkontrollen wieder eingeführt, Internierungslager errichtet und sogar Mauern gebaut. Gleichzeitig werden kämpferische Geflüchtete, die nicht einsehen wollen, für jeden Brotkrumen „dankbar“ sein zu müssen, kriminalisiert, wenn sie für demokratische und soziale Rechte kämpfen.

In gewisser Weise hat Sigmar Gabriel Recht: Es ist eine „Grenze der Belastbarkeit“ erreicht. Aber diese Grenze betrifft die Fähigkeit der Europäischen Union, die widerstrebenden Interessen der europäischen Imperialismen auszugleichen und einen gemeinsamen politischen und ökonomischen Block zu bilden. Im Zweifelsfall, wenn die Profitmargen zu gering zu werden drohen, zerfällt der Traum von der „friedlichen“ EU in seine Bestandteile.

Falsche Alternativen

Rechte Kräfte setzen gegen die EU auf die Rückkehr zu starken Nationalstaaten. Auch Linke wenden sich gegen den imperialistischen Block. Doch welche Alternative wollen wir aufbauen?

Angesichts des Scheiterns des pro-europäischen Kurses der griechischen Linkspartei Syriza wenden sich viele Linke nun Gedankenspielen des Austritts aus dem Euro zu. Ein „Plan B“, der letztlich aber nichts anderes als die Rückkehr zu einem nationalen Kapitalismus und damit nur zu einer anderen Form der aktuellen Misere bedeutet. Ganz zu schweigen davon, dass er den nationalistischen Ambitionen der xenophoben Rechten in Europa in die Hände spielt. Wir stellen diesen beiden falschen Alternativen – Troika-Diktat oder nationaler Kapitalismus – die Perspektive eines ganz anderen Europas entgegen.

Europa der Arbeiter*innen

Wir kämpfen für ein Europa, das tatsächlich keine Grenzen mehr kennt. Ein Europa, das allen Menschen volle demokratische und soziale Rechte zugesteht. Ein Europa, das den Interessen der lohnabhängigen Bevölkerung mit den Geflüchteten als ihrem am meisten entrechteten Teil und nicht dem Profitinteresse der Konzerne dient.

Wir kämpfen für ein Europa der Arbeiter*innen, ein sozialistisches Europa – das einzige Europa, das wirklich offene Grenzen für alle garantieren kann. Der Weg dahin ist weit – doch der einzig realistische, im Gegensatz zur reaktionären Utopie, dass das Kapital Europa friedlich vereinigen könnte. Dafür müssen wir jetzt für eine internationalistische Perspektive kämpfen, die die Interessen der hunderttausenden Menschen, die aktuell Europa erreichen, mit den schon hier lebenden Ausgebeuteten und Unterdrückten vereint.

Workshops und Podiumsdiskussion zum 75. Todestag Leo Trotzkis

Samstag, 17. Oktober • Mehringhof, Berlin

Mehr zum Thema