Die Angst vor Trotzki ist eine Angst vor den Massen

14.03.2019, Lesezeit 20 Min.
Gastbeitrag
Übersetzung:

Der Literaturkritiker Warren Montag, Professor am Occidental College in Los Angeles, gehörte zu den Hunderten von Intellektuellen, die einen Protestbrief gegen die Netflix-Reihe "Trotzki" unterschrieben haben. In diesem Essay erklärt er, wie traditionelle antisemitische Klischees stets gegen Leo Trotzki verwendet wurden und nun vom Putin-Regime aufgewärmt werden.

1
Konstantin Khabensky in Trotsky. (Sreda Production Company

Halis Yildirim sprach mit dem Literaturkritiker Warren Montag über die Netflix-Serie „Trotzki“.

HY: Sie haben den Protestbrief unterzeichnet, in dem die Netflix-Serie „Trotzki“ verurteilt wird. Warum hielten Sie eine solche Stellungnahme für notwendig? Ein wichtiger Aspekt wird in der Erklärung hervorgehoben: „Trotzki“ wurde eindeutig als Reaktion auf das hundertjährige Jubiläum der Russischen Revolution produziert und verbreitet, ein Ereignis, das die Serie als nationale Tragödie darstellt. Aber warum liegt der Fokus auf Trotzki, statt auf Lenin oder gar Stalin? Außerdem wird überdeutlich, dass der Schwerpunkt der Serie auf Trotzki an den heutzutage in Russland und Osteuropa weit verbreiteten Antisemitismus appelliert. Auf diese Weise wird Stalin, bei all seinen Fehlern, als jemand gesehen, der Russland vor jüdischem Einfluss, vielleicht sogar Herrschaft, gerettet hat, durch seine Säuberungen jüdischer Bolschewiki und durch die Anordnung der Ermordung Trotzkis. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Antisemitismus in „Trotzki“ und der negativen Repräsentation von Sozialismus und Kommunismus in der Serie?

Warren Montag: Bei der Auseinandersetzung mit der Netflix-Serie „Trotzki“, die so breit als Ausdruck der politischen Orientierung der Putin-Regierung verurteilt wird, ist es nützlich sich an Louis Althussers Diktum zu erinnern, dass „weder Amnesie, noch Ekel, noch Ironie, auch nur den Hauch einer Kritik erzeugen.“1 Dies soll nicht suggerieren, dass es uns eine Kritik erlaubt, den Ekel und die Empörung zu vermeiden oder zu überwinden, die viele von uns beim Ansehen der Serie empfanden. Im Gegenteil, diese Affekte deuten auf die visuellen und diskursiven Eigenschaften von „Trotzki“ hin: Insbesondere der Antisemitismus, in dem die Serie schwelgt (durch die bewusst herausfordernde Art, in möglichst vielen Szenen eine Variante des Wortes „zhid“ (Bezeichnung für eine Jüd*in, Anfang des 20. Jahrhunderts recht unverfänglich, im modernen Russisch nur noch als abwertender Begriff verwendet, A.d.Ü.) einzuarbeiten) und durch den Antikommunismus, den sie in Form einer Allegorie inszeniert, die so plump und absurd ist, dass Trotzkis Attentäter „Jacson“ zum moralischen Zentrum der Serie wird. Es wäre jedoch ein Fehler, „Trotzki“ anzuprangern und dann zu vergessen – vor allem mit der Begründung, dass Antisemitismus und Antikommunismus auf frühere historische Erscheinungsformen zurückführbar sind, als ob es sich einfach um Iterationen bereits existierender, und damit bekannter ideologischer Gebilde, handeln würde. Im Gegenteil, es ist sowohl politisch als auch theoretisch unerlässlich, zu verstehen, was genau auf die Vergangenheit zurückzuführen ist, wie „Trotzki“ eine Mutation in oder, genauer gesagt, eine Neukombinierung der Ideen „Jude“ und „Kommunist“ verspottet, eine Neukombinierung, die das Ausmaß ihrer Vereinigung durch die Vermittlung eines dritten Begriffs offenbart: die Massen. Die Veränderungen an diesen ideologischen Gebilden sind strategisch und taktisch notwendige Antworten auf die Risiken, Bedrohungen und Möglichkeiten, die mit den gegenwärtigen historischen Umständen verbunden sind. Um den Antisemitismus und Antikommunismus der Gegenwart zu bekämpfen, müssen wir verstehen, wie sie sich verändert haben und die Schwächen und Angreifbarkeiten ihrer gegenwärtigen Formen erfassen. Wir müssen zudem die Wirksamkeit unserer eigenen Strategie und Taktik bestimmen, sei es im Diskurs oder anderswo.

In dem Ausmaß, in dem sich die Serie auf frühere faschistische Vorstellungen des Jüdischen Bolschewismus stützt, entwickelt und transformiert sie diese auch. „Trotzki“ trägt bei jeder narrativen Wendung etwas zum Bild des Juden/Kommunisten als Feind der Familie, Kirche und Nation bei, und zwar so, als wäre das Beigetragene anfänglich tatsächlich verborgen oder unbemerkt und schließlich aufgedeckt; darüber hinaus versucht die Serie überraschenderweise, etwa die wechselseitigen Beziehungen zwischen Antisemitismus und den wesentlichen Merkmalen der Juden herzustellen. Die brutalen und groben Darstellungen des Antisemitismus, die sie immer wieder, manchmal mit einer vagen Geste der Missbilligung, zeigt, werden allmählich als die Antwort der „kleinen Leute“ auf Aspekte der Kultur und des Verhaltens der imaginären Juden der Serie verstanden. Und wie könnte man derartige Juden nicht hassen? Einige sind Pfandleiher, die sich mit ihren angeblichen Konkurrenten verschwören, um – so wird es dargestellt – ihre verzweifelte christliche Kundschaft zu betrügen. Andere sind arrogante Intellektuelle, die stolz auf ihre Fähigkeit sind, unwiderlegbare Kritik an christlichen Idealen zu üben. Wieder andere sind politische Anführer, die Schmeicheleien und Appelle an Gleichheit und Gerechtigkeit benutzen, um an Macht über die Massen zu gewinnen, die so zu Instrumenten werden, die die Juden nutzen, um die traditionelle Gesellschaft zerstören, zu der sie nie gehören werden. Die kleinen Leute haben Recht sie zu hassen, und wenn ihr Hass zu bedauerlichen Taten führen, liegt die Schuld bei den Juden, die diesen Hass geweckt haben. Schlimmer noch, die Juden, die die Serie bevölkern, werden vor allem von Neid und einem unerbittlichen Hass auf diejenigen, die sie hassen, angetrieben, was bedeutet, dass je größer der Hass der Massen auf sie wird, desto größer wird auch die Bosartigkeit, mit dem die Juden diesen Hass zurückzahlen werden. Die Serie stellt den Antagonismus zwischen Juden und Antisemiten in das Zentrum der politischen Welt; er wird zur treibenden Kraft, der sich immer weiter ausbreitenden Konfliktspirale. Diese Argumentationslinie hat sich als außergewöhnlich effektiv erwiesen; die rechtsextreme Alternative für Deutschland zum Beispiel hat sie an ihre eigene islamfeindliche Agitation angepasst, indem sie einfach das Wort „Jude“ durch „Muslim“ ersetzt.

Der Jude (d.h. jeder jüdische männliche Charakter in der Serie – Frauen und Kinder aus Trotzkis Familie sind seine Opfer) wird auf diese Weise dazu gebracht, immer mehr böswillige Handlungen gegen die nicht-jüdische Welt zu begehen. Zuerst nehmen diese Handlungen nur kleinliche Formen an: eine Kultur der kleinen Geschäfte und Geldverleihaktionen, die es den Juden ermöglichen, die anderen zu betrügen, oder vielleicht auch nur die Ausdrücke von Verachtung, wie im Falle von Trotzkis Vater, kaum mehr als ein Flüstern unter Bauern auf dem Marktplatz. Aber bald wird klar, dass Juden (wie Marx, Luxemburg und Trotzki) den Sozialismus und den Kommunismus erfinden, um es ihnen zu ermöglichen, das politische Leben zu infiltrieren, indem sie das Vertrauen und die Bewunderung der nicht-jüdischen Massen gewinnen, und so sowohl deren Aggressionen durch das Predigen von Gleichheit zu neutralisieren, als auch sie zum Zwecke der mutwilligen, apokalyptischen Zerstörung zu missbrauchen.

Aber hier stößt die Serie auf eine Art Sackgasse, da die Widersprüche, die dem imaginären Juden innewohnen, und von dem Trotzki die Inkarnation ist, unüberwindbar werden. Glaubt der Jude wirklich an die kommunistischen Lehren, die er erfunden hat und weiterhin predigt? In diesem Fall würde er eine Fusion von Pharisäer und Zelot darstellen, intellektuell überentwickelt und von seiner eigenen Überlegenheit überzeugt, aber zugleich einzigartig angetrieben von einer Verpflichtung zu einem Gerechtigkeitsbegriff, der nichts Geringeres erfordert als die Zerstörung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die Juden, die Jesus als Messias abgelehnt haben, sind zu einer Nation von Möchtegern-Messiassen geworden, von denen jeder einzelne sich davon überzeugt hat, der Auserwählte zu sein, wie ein „Licht der Völker“, um die ganze Menschheit in eine neue Welt zu führen. Diese Messiasse sind insofern gefährlich, da sie eher sterben würden, als die Wahrheit der christlichen Ordnung zu akzeptieren, die sie nur durch ihre selbst auferlegte Blindheit nicht sehen können. Wenn, wie Trotzki, der Jude die Massen für seine Vision gewinnen und sie dazu bringen kann, die Sache der russischen Nation zugunsten des proletarischen Internationalismus und der Weltrevolution aufzugeben, wäre das Ergebnis das Ende der Gesellschaft. Die Serie suggeriert in einer Szene sogar, dass die bekannte Abwesenheit von Patriotismus und nationalem Gefühl unter Juden das Ergebnis einer geheimen jüdischen Internationalen ist, für die die Dritte Internationale mit ihrer Kabale jüdischer Revolutionsführer (Bela Kun, Luxemburg, Jogiches, Trotzki, Sinowjew, Radek) als Tarnung dient. Ein einziger rechtschaffener Mensch wie Jacson kann das Kommen des Antichristen und das Ende der Welt verhindern, wie das „Katechon“ des Neuen Testaments, so wie Carl Schmitt es verstand.

Gleichzeitig präsentiert uns die Serie eine weitere, in gewisser Weise weniger gefährliche Figur des Juden. Dies ist der Jude als rationaler Akteur und Nutzenmaximierer, der zwar verachtenswert, aber vorhersehbar und damit kontrollierbar ist. Parvus ist die Verkörperung dieses Typs. Er sieht und handelt als Gentleman und fühlt sich unter anderen Gentlemen wohl. Er ist in der sozialistischen Bewegung weniger aus Überzeugung aktiv, sondern vielmehr, weil er finanzielle Möglichkeiten in ihr sieht. Sein Ziel, so suggeriert die Serie, ist es nicht nur, Russland zu ruinieren, indem er den Anschein einer Insolvenz der Banken erweckt und eine Panik provoziert, sondern auch, die revolutionäre Bewegung selbst zu neutralisieren, indem er Geld zur Schaffung von Wettbewerb und nicht zur Zusammenarbeit zwischen ihren verschiedenen Fraktionen einsetzt. So abscheulich er auch ist, er ist im schlimmsten Fall ein Parasit und nicht der Todesengel, repräsentiert durch den bewaffneten Propheten.

Der Unterschied zwischen den zwei Arten von Juden zeigt sich in einem Motiv, das nicht so trivial oder belanglos ist, wie es scheint. Die Serie zeigt ein obsessives Interesse an Namen, Pseudonymen und Namensänderungen. Nichtjüdische Charaktere haben Freude daran, Juden mit den jüdischen Nachnamen anzusprechen, die sie gegen russische Namen ausgetauscht haben, oder daran, die jiddische Aussprache ihrer „richtigen“ Nachnamen zu imitieren. Der Gefängnischef, dessen Name Trotzki als seinen eigenen annimmt, geht sogar so weit, Lev in Leyba zu übersetzen und spricht Bronstein als Bronshtayn aus, wie man es im Jiddischen tut. Die Serie deutet darauf hin, dass Trotzkis späteres Annehmen des Namens seines Peinigers das Ergebnis einer Identifikation mit dem Angreifer ist, und der Anerkennung dafür, dass der christliche Trotzki ihn so gesehen hat, wie er wirklich ist, ohne jede Täuschung. Gleichzeitig ist Trotzkis Entscheidung, seinen Namen zu verändern, durch mehr als nur die Notwendigkeit motiviert, seine Entdeckung zu verhindern. So ist es zum Teil auch eine Geste der Solidarität, mit der er sich von dem abwendet, was ihn von den Massen unterscheidet, die er führen will, das heißt, es handelt sich um einen Akt der Assimilation. In der Serie können die Juden jedoch nur so tun oder scheinen, als würden sie sich assimilieren: Sie tun dies, wie Trotzki, um Zugang zu den Massen zu erhalten, die sie ablehnen würden, wenn bekannt wäre, dass sie Juden sind, oder wie Parvus (dessen echter Name Gelfand ist, wie sein nichtjüdischer Freund ihn nachdrücklich erinnert), um sich unbemerkt mit den Reichen und Mächtigen zu verbünden. Der Jude kann nur so scheinen, als wäre er wie die anderen; in Wirklichkeit hat er sich getarnt, um die Massen zu erreichen und sie für Zwecke zu benutzen, die ihren Interessen nicht entsprechen. Es erübrigt sich zu sagen, dass die Serie die Vorstellung undenkbar macht, dass eine revolutionäre Massenbewegung aktiv mobilisiert werden könnte, wenn schon nicht, um den Antisemitismus und alle anderen Formen der nationalen Unterdrückung und des Rassismus zu beenden, dann zumindest um ihren Einfluss stark einzuschränken. Eine solche Möglichkeit zuzulassen, würde bedeuten, die herrschende Klasse ihrer Behauptung zu berauben, wonach der geschlossene Kreislauf, mit dem der populäre Antisemitismus jüdischen Neid und Hass hervorruft, nur durch die Unterwerfung sowohl der Massen als auch der Juden durch Russlands natürliche Herrscher unterbrochen werden kann. Trotzki bemerkte mit Verachtung, dass Stalin anfing, die Geburtsnamen der jüdischen Bolschewiki (vor allem der „Troika“: Trotzki, Sinowjew und Kamenjew) anstelle der russischen Gruppennamen, unter denen sie bekannt waren, zu verwenden, nachdem sie verhaftet und wegen verschiedener Verschwörungen angeklagt wurden, die an den seit der Revolution schwindenden Antisemitismus der Massen appellierten und ihn verstärken, eben gerade um die Unterstützung der Massen für die Liquidierung der alten Bolschewiki zu mobilisieren.2 Auf die gleiche Weise zeigte Winston Churchill, der bereits seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht hatte, dass Juden – natürlich nicht alle Juden (er billigte die Zionisten), aber die bösartigen jüdischen Massen, deren Neid und Hass sie in Scharen in die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen getrieben hatte – einen Fanatismus zeigten, der eindeutig in ihrem Judentum verwurzelt war. Das perfekte Exemplar dieses Typus war niemand Geringeres als „der Oger Europas“, den Churchill als „Leo Trotzki, alias Bronstein“ erkannte.3

Das bedeutet nicht, dass die Serie, durch ihre Leugnungen und Ausflüchte, nicht auch auf einige der wichtigsten Abschnitte von Trotzkis eigener „Geschichte der Russischen Revolution“ verweist, allerdings ohne sie direkt zu kennzeichnen. Genau das sind die Elemente, die am stärksten nicht nur die oft bizarre Darstellung der revolutionären Ereignisse selbst bedrohen, sondern auch die Normen, die die acht Folgen in die historische Gegenwart einschreiben wollen.

Eine der wichtigsten Lektionen, die Trotzki aus der Erfahrung von 1917 und ihren Folgen – d.h. aus den beiden Revolutionen und der Herausforderung, eine neue, vorher nie dagewesene Gesellschaftsordnung zu schaffen – gezogen hat, betraf die Macht der Massen. Wenn ich mich in diesem Zusammenhang auf „Macht“ beziehe, meine ich damit nicht nur die Dichte und Beständigkeit, die es ihnen ermöglichte, die reaktionären Kräfte auf der Straße und auf dem Schlachtfeld zu überwinden, sondern vor allem die kollektive Intelligenz, die dieser Macht innewohnt (bei der sich die Serie sehr bemüht, dies unvorstellbar zu machen). Er argumentierte, dass einer der größten Unterschiede zwischen den Bolschewiki und der Sozialdemokratie, in der Praxis und in der Theorie, die Fähigkeit der Bolschewiki sei, „von den Massen zu lernen“: Die Sozialdemokratie brannte darauf,

die Volksmassen zu belehren, zu bevormunden, ihnen Wohltaten zu erweisen, [war] aber völlig unfähig […], sie anzuhören, zu begreifen und von ihnen zu lernen. Ohne dieses aber gibt es keine revolutionäre Politik.4

Die Ideen, die durch ihr tägliches Handeln und ihre Akte des Kampfes und des Widerstands entstanden sind, haben sie „weitaus effektiver“ gemacht als den erfolgreichsten offiziellen Parteiredner. Trotzki beschreibt

jene molekulare Agitation, die namenlose Arbeiter, Matrosen, Soldaten führten, Gesinnungsgenossen einzeln werbend, letzte Zweifel vernichtend, letzte Schwankungen überwindend. Die Monate fieberhaften politischen Lebens hatten zahlreiche untere Kader geschaffen, Hunderte und Tausende urwüchsiger Menschen erzogen, die gewohnt waren, die Politik von unten zu beobachten, nicht von oben, und die gerade darum Tatsachen und Menschen mit einer Treffsicherheit einschätzten, wie sie Rednern akademischen Schlages längst nicht immer gegeben ist.5

Aber gröblichst irrt, wer glaubt, die Masse sei blind und leichtgläubig. Wo es sie am Nerv trifft, nimmt sie mit tausend Augen und Ohren Tatsachen und Vermutungen wahr, überprüft auf ihrem Rücken Gerüchte, wählt die einen aus, verwirft die anderen. Wo Versionen, die Massenbewegungen betreffen, auseinandergehen, erweist sich als der Wahrheit am nächsten jene, die die Masse selbst sich zu eigen gemacht hat.6

Die Erfolge und Siege der Bolschewiki und die damit einhergehenden Verschiebungen und Veränderungen der Theorie, die sie verständlich und wiederholbar machten, sind aus ihrem Vertrauen in „die Initiative und Selbständigkeit der Massen“ entstanden.

Des Weiteren war Trotzki, wie Lenin, ein scharfer Kritiker des russischen Chauvinismus (d.h. seines Rassismus, Antisemitismus und antimuslimischer Gesinnungen), besonders wenn sich dieser Chauvinismus als Internationalismus oder Universalismus verkleidete: „Das Bestreben einer herrschenden Nation, den Status quo aufrechtzuerhalten, wird nicht selten in die Farbe des Übernationalismus getaucht, wie das Bestreben eines siegreichen Landes, das Geraubte festzuhalten, leicht die Form Von Pazifismus annimmt. So fühlt sich Macdonald vor Gandhi als Internationalist.“7 Selbst nach der Februarrevolution führten die ersten Sowjets, die in Gebieten, die stark von nicht-russischen Minderheiten bevölkert waren, „nicht selten einen Kampf gegen den defensiven ukrainischen oder muselmanischen Nationalismus und deckten“ die russische Unterdrückung.8 Trotzki erkannte, dass Russland „nicht als nationaler Staat, sondern als Staat von Nationalitäten“ entstanden war, deren Sprachen, Religionen und Kulturen zugunsten Russlands unterdrückt und marginalisiert wurden.9 Jede Schwächung der staatlichen Bürokratie führte zu einer Revolte gegen die Unterwerfung der Nationen. Lenin und Trotzki erkannten – im Gegensatz zu den Befürwortern des abstrakten Antinationalismus, der auf einer historisierten Auffassung der Nationen-Form als zugehörig zur kapitalistischen Epoche basierte – dass die bolschewistische Partei verpflichtet war,

jeglicher Art von nationaler Unterdrückung, auch der gewaltsamen Festhaltung irgendeiner Nationalität in den Grenzen des Gesamtstaates, unversöhnlichen Widerstand zu leisten. Nur dadurch konnte das russische Proletariat allmählich das Vertrauen der unterdrückten Völker gewinnen.10

Letztere aufzufordern, ihre Forderungen nach nationaler Befreiung zu vertagen oder aufzugeben oder lediglich „formale Gleichheit“ zu akzeptieren, würde ein riesiges Bevölkerungssegment demoralisieren und demobilisieren, denn „die Revolution [ist] gerade deshalb Revolution, weil sie sich nicht mit Almosen und Ratenzahlungen begnügt.“11 Als die unterdrückten Nationalitäten die Revolution als eine russische Angelegenheit sahen, die wenig mit den Formen der Ausbeutung und Unterdrückung zu tun hatten, mit denen sie konfrontiert waren, war die Unterstützung gering. Doch sobald klar wurde, dass die nationalen Feindschaften eng mit Klassenwidersprüchen verbunden waren, nahm die Unterstützung für die Revolution dramatisch zu. Trotzki gab sich nicht damit zufrieden, dem Partikularismus (das Bestreben von Bevölkerungsteilen oder Teilstaaten, ihre Eigeninteressen durchzusetzen, A.d.Ü.) den Universalismus entgegenzusetzen, sondern zog vielmehr eine Linie der Abgrenzung innerhalb des Universalismus selbst. Auf der einen Seite ein Universalismus, der sich von der nationalen und kulturellen Vielfalt bedroht fühlt und der die unterdrückten Völker verpflichtet, ihre spezifische Unterdrückung nicht mehr zu bekämpfen. Auf der anderen Seite ein Universalismus, der jeden Schritt des Weges zusammen kämpft mit jenen, denen die Fähigkeit, ihre nationalen Kulturen auszudrücken und zu entwickeln, verweigert wurde und für die die nationale Befreiung ein wesentlicher Bestandteil der sozialistischen Revolution ist.

Wir denken oft an Trotzki im Exil, den Propheten, der in der Wüste von Niederlage und Konterrevolution schreit, in fast vollständiger Einsamkeit, verlassen und missachtet. Aber „Trotzki“, das absurde Melodram, das ihn und die Erinnerung an 1917 begraben sollte, ruft das hervor, was Isaac Deutscher so treffend den „bewaffneten Propheten“ nannte. Das ist der Trotzki, dessen scheinbar teuflische Macht, wie selbst die Serie zeigen muss, nicht wirklich seine eigene ist: Er ist nichts ohne die aufständischen Massen. Er führt sie nicht an, sondern wird von ihnen mitgeführt, erhoben durch jedes ihrer Worte und Schreie, durch jeden Stimmungswechsel, ihre Hoffnungen und Ängste. Er hört sie, wie es niemand außer Lenin konnte, und wenn er zu ihnen zu sprechen scheint, sind die Worte, die er spricht, ihre eigenen, nicht seine, als ob er ihr Übersetzer wäre, oder vielleicht genauer gesagt, ein Schreiber, der ihnen die Angebote und Mahnungen, die Jubel der Zustimmung und die wütenden Rufe der Opposition vorliest, die aus unzähligen Treffen, Debatten und Demonstrationen entstanden, ohne einen einzelnen Autor oder Ursprung. Aus diesem Grund muss Trotzki (oder Trotzki, alias Bronstein) exhumiert und reanimiert werden, um getötet und wieder begraben zu werden, als ob es nicht genügt, ihn einmal zu töten: Die Angst vor Trotzki ist eine Angst vor den Massen.

Halis Yildirim ist Philosoph und promovierte an der LMU München. Seine Forschungsgebiete sind die Geschichtskonzeption von Hegel, Gramsci und Benjamin sowie der Völkermord an den Armenier*innen.

Fußnoten

1 Louis Althusser, „For Marx“ (London: Penguin, 1969), S. 139.
2 Leo Trotzki, Thermidor und Antisemitismus.
3 Winston Churchill, „Zionism versus Bolshevism,“ llustrated Sunday Herald (London), February 8, 1920, S. 5; Churchill, „The Ogre of Europe,“ Great Contemporaries (London: Odhams Press, 1947), S. 152–58.
4 Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Bd. 1, Kap. 12.
5 Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Bd. 2, Kap. 17.
6 Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Bd. 2, Kap. 2.
7 Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Bd. 2, Kap. 16.
8 Ebd.
9 Ebd.
10 Ebd.
11 Ebd.

Mehr zum Thema