Der Spiegel greift jüdischen Studierenden an

02.03.2024, Lesezeit 7 Min.
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Nachdem eine angeblich seriöse Zeitschrift versucht, einen jüdischen Studenten zu demütigen, erhält dieser Dutzende von Hassbotschaften, darunter auch Morddrohungen.

Als Studierende der Freien Universität (FU) Berlin vor drei Wochen eine Kundgebung für Palästina abhielten, gab es einen Medienrummel: Die 85 Demonstrierenden wurden von 85 Journalist:innen umringt. Es gab unzählige, oft absurd diffamierende Berichte, aber ein siebenminütiges Video von Spiegel TV, das über 350.000 Mal angesehen wurde, sticht heraus.

Der Spiegel, angeblich eine der seriöseren Nachrichtenpublikationen in Deutschland, verdient eine Art Preis für den irreführendsten und hasserfülltesten Bericht über die FU-Kundgebung. Schon der Titel des Videos enthält eine Lüge: Sie nennen es einen „Protest gegen Juden“, während sie absichtlich mindestens drei jüdische Studierende ignorieren, die das Mikrofon ergriffen, um gegen den Völkermord zu sprechen, die jüdischen Studierenden, die den Protest mitorganisiert haben, und die vielen, die teilgenommen haben.

Anstatt über die Geschehnisse zu berichten, eröffnete Der Spiegel sein Video mit einem minutenlangen Versuch, einen jüdischen Studierenden zu demütigen. Sie erzählen:

Der Versammlungsleiter nennt sich HP Loveshaft, bezeichnet sich als trans, legt Wert auf die Pronomen ‚es/er‘.

Der Bildschirm zeigt HPs Instagram-Account und zoomt auf ein Bild in einem Badeanzug. Niemand sonst in dem Video wird einer Betrachtung ihrer Geschlechter oder Pronomen unterzogen, und es werden auch keine intimen Fotos gezeigt.

Obwohl sie so viel Zeit damit verbracht haben, HPs persönliche Geschichte zu durchleuchten, haben die Reporter:innen es versäumt, seine jüdische Herkunft zu erwähnen – obwohl er sich selbst mehrmals als Jude bezeichnet hat und seine Kippa deutlich sichtbar ist. Sie behaupten, er stehe den Mainstream-Medien feindselig gegenüber – während HP in Wirklichkeit die Reporter:innen aufforderte, ein paar Schritte zurückzutreten und Platz für die Kundgebungsteilnehmenden zu machen. Der recht bombastische Stil wird jedem bekannt vorkommen, der mit Drag-Shows bekannt ist.

Durch die Veröffentlichung von HPs Instagram-Account veranlasste Der Spiegel rechte Provokateur:innen, Dutzende von Hassbotschaften und sogar Morddrohungen an einen jüdischen Studenten zu senden. Er wurde als „dreckiger Hund“ und „Transenbengel“ bezeichnet, neben vielen anderen Beleidigungen. Mehrere äußerten den Wunsch, er möge nie nach Deutschland gekommen sein, um das Land wieder judenrein zu machen. In mehreren Nachrichten werden Morddrohungen ausgesprochen, in denen die Hoffnung formuliert wird, dass HP „auf offener Straße zu Tode geprügelt“ wird oder dass sie „ihn mental, finanziell, sozial, auf allen Ebenen ficken werden“.

Die deutschen Medien, die uneingeschränkte Unterstützung für die israelische Regierung fordern, haben jüdische Aktivist:innen unerbittlich angegriffen. Die transfeindliche Kampagne des Spiegel, die persönliche Informationen einschließt, um zu Belästigungen zu ermutigen, stellt jedoch einen neuen Tiefpunkt dar.

Die Darstellung von Jüd:innen als unzüchtig, wollüstig und mit unklarem Geschlecht ist typisch für antisemitische Karikaturen – ein regelmäßiges Motiv der Zeichnungen von Philipp Rupprecht in der Nazizeitung Der Stürmer. Es ist nicht klar, ob Der Spiegel bewusst auf diese antisemitischen Klischees Bezug genommen hat oder ob es sich um eine unbewusste Voreingenommenheit rechter Reporter:innen handelt. Ich habe bei Spiegel TV nachgefragt, ob es dort einen „Antisemitismus-Beauftragten“ gibt – ich werde diesen Artikel aktualisieren, falls sie sich melden.

Während der Kundgebung am 8. Februar wurde Udi Raz, eine jüdische Studierende der FU und bekannte Aktivistin der Jüdischen Stimme, von der Polizei festgenommen, weil sie angeblich den Universitätspräsidenten beleidigt haben soll. Der Spiegel hat diese polizeiliche Einschüchterung jüdischer Studierender ignoriert. Stattdessen verbreitet er nur die Behauptung, dass rechtsgerichtete jüdische Studierende von Pro-Palästina-Aktivist:innen eingeschüchtert würden. Obwohl diese Behauptung seit Monaten wiederholt wird, hat die Öffentlichkeit nicht einen einzigen Beweis gesehen – kein:e Journalist:in hat einen Screenshot einer Drohnachricht oder Ähnlichem verlangt.

Bizarrerweise stammt der einzige Beweis, den Der Spiegel mit seinen Zuschauer:innen teilt, von einem früheren Vorfall und zeigt deutlich, wie ein pro-zionistischer Student palästinasolidarische Aktivist:innen angreift, die sich von der Gewalt nicht provozieren lassen und friedlich bleiben. In einem Off-Kommentar erklärt ein rechter Student, dass der junge Mann, der den Angriff verübt hat, andere Menschen verteidigt habe – was allerdings aus unerfindlichen Gründen nicht auf Video festgehalten wurde. Auch HP ist in diesem Video als Opfer der Gewalt gut zu erkennen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Der Spiegel unbestätigte Behauptungen über die Einschüchterung jüdischer Studierender veröffentlicht hat – und dass das Magazin damit schamlos jüdische Studierende einschüchtert und zur Zielscheibe macht. HP musste aufgrund der Belästigungen sein Instagram-Profil auf privat umstellen. Dieses Schüren rassistischer und transfeindlicher Hetze und Angriffe wird auch unzählige Andere treffen, die bereits mit schrecklicher Gewalt konfrontiert sind.

Dieses deutsche Magazin behauptet, jüdische Studierende zu verteidigen – aber nur, wenn sie sich perfekt an die Politik der deutschen Regierung anpassen. Jüd:innen, die es wagen, einen Völkermord zu kritisieren, der in ihrem Namen verübt wird, werden unsichtbar gemacht, verleumdet und schikaniert. Die Dichotomie ist beunruhigend. Für den Spiegel gibt es „gute Juden“, die Schutz verdienen, solange sie geschlechtskonform und patriotisch gegenüber „ihrem“ Heimatland sind. „Schlechte Juden“, die die Geschlechtertrennung infrage stellen und den zionistischen Kolonialismus ablehnen, sind dagegen Freiwild. In einer beunruhigenden Annäherung an die Behauptung von Nazi-Chef Hermann Göring wird ihr Jüdischsein infrage gestellt: „Ich entscheide, wer ein Jude ist!“ Es ist bemerkenswert, dass rechtsgerichtete, nicht-jüdische Deutsche, die die israelische Regierung unterstützen, regelmäßig aufgefordert werden, für jüdische Menschen zu sprechen – während tatsächliche Jüd:innen, die aus der Reihe tanzen, zum Schweigen gebracht werden.

Während Der Spiegel sich gerne als linksliberales Magazin mit einer langen Geschichte der Verteidigung der Demokratie präsentiert, weisen Historiker:innen darauf hin, dass der Gründer des Magazins, Rudolf Augstein, beträchtliche Ressourcen für die Rehabilitierung ehemaliger Nazis einsetzte. So lud er beispielsweise Rudolf Diels, einstiger Leiter der Gestapo, ein, eine achtteilige Serie für das Magazin zu schreiben, in der die Geschichte der Nazi-Geheimpolizei beschönigt wurde. In jüngster Zeit hat Der Spiegel zahlreiche rassistische Titelseiten veröffentlicht, auf denen vor den Gefahren von Migrant:innen gewarnt wird – oft unter Verwendung der gleichen Ästhetik wie auf antisemitischen Plakaten von vor einem Jahrhundert.

In ihrem Eifer, Israels rechte Regierung zu verteidigen, kennen deutsche Medien keine Grenzen, wenn es darum geht, kritische Jüd:innen anzugreifen. Die Familie des israelischen Regisseurs Yuval Abraham musste nach einer Kampagne rechter Medien, die ihm Antisemitismus vorwarfen, aus ihrem Haus fliehen. Dennoch sticht dieses Video des Spiegel durch die Verwendung von verachtenswerten antisemitischen Stereotypen besonders hervor.

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