Demonstrationen in Deutschland: „Das gesamte Regime wird rechtsradikaler“

14.02.2024, Lesezeit 10 Min.
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Foto: Klasse Gegen Klasse

In Deutschland gehen Millionen Menschen gegen die extreme Rechte auf die Straße. Inés Heider, Sozialarbeiterin und Aktivistin bei Klasse Gegen Klasse, spricht im Interview über die Mobilisierungen und die aktuelle politische Dynamik in Deutschland.

Dieser Artikel ist eine leicht überarbeitete Übersetzung eines Artikels, der zuerst am 22. Januar 2024 auf Französisch bei Révolution Permanente erschienen ist. Auf Englisch wurde der Artikel bei LeftVoice veröffentlicht. Er bezieht sich auf die Demonstrationen kurz nach den Veröffentlichungen durch Correctiv, aber ist dennoch weiterhin aktuell für eine Analyse der andauernden Mobilisierungen. 

Révolution Permanente: Seit Freitag, dem 19. Januar, haben laut Fridays for Future (FFF) und dem zivilgesellschaftlichen Bündnis Campact, zwei der Organisator:innen, mehr als 1,4 Millionen Menschen gegen die rechtsextreme Partei AfD demonstriert. Kannst du noch einmal auf das Ausmaß dieser Mobilisierung und ihren Ursprung eingehen?

Inés: Am Sonntag war die Mobilisierung in München so groß, dass sie wegen zu großer Menschenmengen abgebrochen werden musste. In Berlin marschierten über 350.000 Menschen bis vor den Bundestag. Neben den Demonstrationen in den großen Städten gab es auch in kleineren Städten erhebliche Mobilisierungen, und das ist nicht unbedeutend, insbesondere im Osten und in historischen Hochburgen der AfD. In den letzten Tagen haben sich die Anti-AfD-Demonstrationen vervielfacht und von Samstag bis Sonntag fanden über 100 Versammlungen statt.

Die meisten Organisationen der „Zivilgesellschaft“ und NGOs, aber auch Religionsvertreter:innen und sogar Bundesligatrainer:innen, sowie Jugendorganisationen und einige Regierungsmitglieder hatten zu den Demonstrationen aufgerufen. Die Gewerkschaften  versuchten ebenfalls zu mobilisieren, was ein Novum war, allerdings nicht von den Arbeitsplätzen aus. Diese breite Front mobilisierte mehr als 1,5 Millionen Menschen auf die Straße — eine Mobilisierung, die es in den letzten Jahren in Deutschland noch nicht gegeben hat. Zum Vergleich: Bei der vorherigen großen Mobilisierung dieser Art gegen die extreme Rechte im Jahr 2018, die vom Kollektiv „Unteilbar“ (einem Zusammenschluss von Organisationen der Zivilgesellschaft) initiiert wurde, waren 250.000 Menschen auf die Straße gegangen.

Das Ausmaß der Mobilisierung zeugte von dem Schock, den die Enthüllung des investigativen Mediums Correctiv am 10. Januar dieses Jahres ausgelöst hatte: Die AfD und militante Neonazis, aber auch Mitglieder der CDU/CSU hatten einen Plan initiiert, der im Falle einer Regierungsübernahme die Massenausweisung von mehreren Millionen Deutschen aufgrund ihrer Herkunft vorsieht, aber auch von Menschen, die ihnen helfen, insbesondere im Mittelmeerraum. Diese Enthüllung hat zutiefst empört, während die AfD zur zweitstärksten politischen Kraft des Landes geworden ist und in den Umfragen unaufhörlich steigt, wenige Monate vor drei wichtigen Landtagswahlen im Osten, wo die Wahlaussichten zugunsten der rechtsextremen Partei noch höher sind als im Rest des Landes.

Du erwähnst die Entstehung einer breiten „Bürgerfront“, die hinter dieser Demonstration steht. Am Wochenende konnte man Olaf Scholz in Potsdam demonstrieren sehen, aber auch die Außenministerin Annalena Baerbock und mehrere Regierungsmitglieder gingen auf die Straße, um den Rechtsextremen „Einhalt zu gebieten“. In den letzten Monaten war die Regierungskoalition jedoch die Speerspitze ernsthafter Angriffe auf die demokratischen Freiheiten, Ausländer:innen und Arbeiter:innen im Allgemeinen. Könntest du auf diese Angriffe zurückkommen?

Olaf Scholz und einige seiner Minister haben tatsächlich beschlossen, zu demonstrieren. Während die Regierungsorganisationen, insbesondere die Jugendorganisationen, an diesem Wochenende sehr präsent waren, scheint es mir, dass die Situation für die Regierung und insbesondere für die SPD uneinheitlich ist. Erstens, weil die meisten Demonstrant:innen auf die Straße gingen, oft mit Parolen zur Verteidigung der „Demokratie“, mehr gegen die extreme Rechte als zur Unterstützung der Regierung. Zweitens und vor allem, weil sich hinter den extremen Rechten das gesamte Regime radikalisiert. In den Demonstrationszügen am Wochenende wurde die Politik von Scholz scharf kritisiert. Immer mehr Menschen wird bewusst, dass die Regierung nichts anderes tut, als die Bedingungen für die aktuelle Entwicklung der extremen Rechten zu schaffen. Am Wochenende haben sogar Organisationen wie FFF die Politik der Regierung offen kritisiert. Eine Situation, die für die Grünen, die an der Regierungskoalition beteiligt sind, zu Schwierigkeiten führen könnte.

In den letzten Monaten hat die Regierung Scholz eine besonders harte Politik verfolgt, insbesondere in Bezug auf die Einwanderung. Ende November hatten Bund und Länder nach einer Konferenz eine Reihe von Maßnahmen zur Reduzierung der Migrationsströme und zur Verschärfung der Asylpolitik sowie die Verschärfung der Grenzkontrollen und die Erleichterung von Abschiebungen beschlossen. In diesem Sinne erklärte Olaf Scholz noch vor kurzem, dass er „in großem Stil abschieben“ wolle. Parallel dazu und vor dem Hintergrund der massiven Kriminalisierung der Unterstützung von und Solidarität mit Palästina haben sich seit dem 7. Oktober Demonstrationsverbote und verfassungswidrige Angriffe vervielfacht, die von allen Parteien des Regimes bis hin zur neoreformistischen Linken unterstützt werden. In den letzten Monaten wurden die Palästina- und die Migrationsfrage miteinander verknüpft, insbesondere vor dem Hintergrund einer starken Zunahme rassistischer Äußerungen, die sich gegen Ausländer:innen und vor allem gegen Muslim:innen richten.

Die AfD hat von diesem Kontext zweifellos profitiert. Dies gilt umso mehr, da die Inflation weiterhin an den Budgets für öffentliche Dienstleistungen nagt, insbesondere im Bildungs- und Gesundheitswesen, aber auch für prekär Beschäftigte. Es gibt eine bewusste Politik der Spaltung der Arbeiter:innen in einem schwierigen wirtschaftlichen Kontext, insbesondere vor dem Hintergrund des im Bundestag verabschiedeten Plans zur massiven Aufrüstung Deutschlands, zur Aufstockung der Polizeibudgets und zur Unterstützung der gegen Russland beschlossenen Sanktionen. In meiner Branche, dem Bildungswesen, wurde uns erklärt, dass es nicht möglich sei, die Löhne zu erhöhen, weil das Geld an Migrant:innen gezahlt werde. Die Demonstrationen an diesem Wochenende könnten jedoch über ihre Grenzen hinaus den Weg für ein anderes Szenario ebnen.

Welche Möglichkeiten eröffnen sich vor diesem Hintergrund und angesichts der Widersprüche, auf die du hinweist, durch die Demonstrationen der letzten Tage und insbesondere durch die Intervention für die radikale Linke?

In einer Reihe von Umfragen ist bereits ein Umschwung der öffentlichen Meinung zu beobachten. Die letzten Meinungsumfragen haben eine wachsende Opposition gegen das andauernde Massaker in Gaza und gegen Scholz’ Politik der bedingungslosen Unterstützung Israels gezeigt. In den letzten Tagen hat die AfD einen leichten Rückgang verzeichnet. Sogar die CDU/CSU sah sich gezwungen, nachdem einige ihrer Mitglieder durch die Enthüllungen von Correctiv in Frage gestellt wurden, ihren Kurs gegenüber der AfD zu ändern und sich offen gegen die rechtsextreme Partei zu positionieren. Eine Situation, die die Wahlaussichten der AfD für die Landtagswahlen erschweren könnte, wo doch die Organisation die CDU zum Regieren braucht, auch im Falle einer Minderheitsregierung.

Sicher ist, dass eine Mobilisierung dieses Ausmaßes in der Sequenz der erheblichen Verschärfung, die in den letzten Monaten vorherrschte, es ermöglicht, über andere Dinge zu diskutieren, insbesondere über die Art der Antwort auf die extreme Rechte. Viele Demonstrant:innen in den Protesten vertraten beispielsweise die Notwendigkeit, die AfD zu verbieten. Die Sorge ist zwar verständlich, aber diese Diskussionen gehen am Problem vorbei und erwecken den Eindruck, dass die von der AfD ausgehende Gefahr einfach verboten werden könnte, was die Illusionen in den Staat verstärkt. Während die Regierung in den letzten Monaten für schwere Angriffe verantwortlich war, müssen die Forderungen ausgeweitet werden und die Mobilisierungen an diesem Wochenende zum Ausgangspunkt einer breiteren Gegenwehr werden, insbesondere gegen antimuslimischen Rassismus, aber auch, weil es zusammenhängt, gegen den Völkermord in Gaza, und schließlich gegen die Regierung und die extreme Rechte. Dies ist noch nicht der Weg, den die Mobilisierung einzuschlagen scheint. Am Wochenende wurden Demonstrant:innen, die Palästina unterstützen, aus den Demonstrationszügen geworfen.

Die Frage nach der Intervention der Gewerkschaften muss ebenfalls gestellt werden. Die Führungen der Organisationen der Arbeiter:innenbewegung sollten versuchen, an den Arbeitsplätzen zu mobilisieren, Betriebsversammlungen einberufen, um den Rechtsruck des Regimes zu diskutieren, und versuchen, die Studierendenbewegung an den Universitäten anzusprechen. Das war der Kern unserer Intervention mit Klasse Gegen Klasse am Wochenende: Daran zu erinnern, dass keine Illusionen in die Regierung oder in eine Front von oben aufrechterhalten werden können und dass wir uns an der Basis organisieren müssen. Eine Notwendigkeit, die umso lebenswichtiger ist, da man die extreme Rechte nicht an der Seite derer bekämpft, die ihr den Boden bereiten und einige ihrer programmatischen Elemente übernehmen.

In den letzten Wochen und Monaten hat sich die Polarisierung, auf die du hinweist, insbesondere durch die Entstehung einer Bewegung bei den Landwirt:innen, aber auch durch Streikaufrufe bei den Eisenbahner:innen ausgedrückt. Kannst du auf diese Situation näher eingehen?

Es gibt einige Hinweise darauf, dass sich die soziale Lage in Deutschland verändern könnte. Das letzte Jahr brachte bereits die Rückkehr einer großen Anzahl von Streiks, um vor allem das zurückzugewinnen, was durch die Inflation verloren gegangen war. Die meisten von ihnen hatten leider nicht viel gewonnen, aber diese Kämpfe waren zweifellos ein Zeichen für die Rückkehr einer gewissen Form von sozialem Konflikt.

Aber auch auf diesem Gebiet kommt die Polarisierung zum Ausdruck. Die Bewegung der Landwirt:innen in den letzten Tagen war ein besonders lebhafter Ausdruck davon. Diese drückt zwar soziale Bestrebungen aus, war aber auch Anlass für Vereinnahmungsversuche, insbesondere von Finanzminister Christian Lindner (FDP), der sich bemühte, sie zu einer Plattform gegen Migrant:innen, Arbeitslose und die Klimabewegung zu machen. Es steht viel auf dem Spiel, diese Art von Anliegen mit denen der Arbeiter:innenbewegung zu verbinden, dass sich die Gewerkschaftsorganisationen des Themas annehmen, um der Rechten und der extremen Rechten den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In dieser Hinsicht sind die Aufrufe der IG Metall, aber auch und vor allem der Gewerkschaft der Lokführer (GDL), die Arbeitszeit zu verkürzen, ein Anknüpfungspunkt. Am Mittwoch beginnt bei der Deutschen Bahn ein historischer sechstägiger Streik, nachdem die Gewerkschaften das letzte Lohnangebot der Unternehmensleitung abgelehnt haben. Es gibt zweifellos eine neue Sorge um die Arbeit. Viele Arbeitnehmer:innen wollen nicht mehr 40 Stunden pro Woche für einen Hungerlohn arbeiten. Der Kampf gegen die extreme Rechte und die Regierung, die ihr als Vorwand dient, findet auch auf diesem Gebiet statt. Und auf diesem Feld braucht es einen allgemeinen Gegenschlag.

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