Corona: Was bleibt von der Pandemie?

02.05.2023, Lesezeit 10 Min.
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Foto: Pordee_Aomboon / Shutterstock.com

Die Pandemie gilt in Deutschland offiziell als beendet. Doch gerade für Risikogruppen besteht weiterhin eine erhöhte Gefahr, während die Regierung ihren Schutz nicht ernst nimmt.

Die Pandemie ist vorbei! Am 29. März 2023, knapp drei Jahre nach Ausbruch der Pandemie in der BRD, erklärte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) für beendet. Die (statistisch erfassten) Neuinfektionen würden kontinuierlich sinken und auch auf den Intensivstationen beruhige sich die Lage. Seit Karsamstag, dem 8. April 2023, wurden auch die letzten Maßnahmen aufgehoben. Nachdem man in Läden, dem Nah- und Fernverkehr und in den Bildungsstätten keine Maske mehr tragen musste, die Impfzentren und Teststationen geschlossen wurden, wird man nun auch in Krankenhäusern und Pflegeheimen von der Maske befreit.

Es wirkt dabei nur konsequent, dass zum 1. Juni 2023 auch die Corona-Warn-App (CWA) in den sogenannten „Ruhemodus“ versetzt wird. Somit ist es den Nutzer:innen nicht mehr möglich, andere vor einer Infektion zu warnen oder selbst Informationen zu bekommen, ob man in vergangenen Tagen Kontakt zu Infizierten hatte. Begründet wird das mit einer „gewachsene[n] Immunität der Bevölkerung, einer[r] stabilen Infektionslage“ und der Rückkehr zum „öffentlichen Leben“. Die aktuellen Daten scheinen der Entscheidung durchaus recht zu geben: die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei 10,8. (Stand: 29. April).

Anders als jedoch seit Monaten betont wird, dass die Pandemie ein Ende findet und die aktuellen Omikron-Mutationen vergleichsweise harmlos seien, besteht überhaupt kein Grund der Annahme, diesem Narrativ zu folgen. Weiterhin sterben in Deutschland mehr als 500 Menschen pro Woche an oder mit Covid. Das administrativ herbeigewünschte Ende geht auf eine schleichende Akzeptanz der pandemischen Lage zurück.

Nicht nur stehen die offiziellen Zahlen in einem krassen Widerspruch zur Realität; es findet auch ein Gaslighting statt, das auf Kosten vulnerabler Personen der Risikogruppe (darunter Menschen mit einem schwachen Immunsystem oder ältere Personen) ausgetragen wird. Das Ende der Pandemie wird mit einem faktisch sozialdarwinistischen Argument untermauert, wonach die vermeintlich „starken“, sprich „gesunden“ und „immunstarken“ der Gesellschaft nichts zu befürchten hätten und die vermeintlich „schwachen“, sprich „kranken“ und „immunschwachen“ der Gesellschaft ohnehin keine Chance hätten.

Zwar wird nicht in Worten gesagt, doch durch Taten untermauert. Das Mantra, man müsse mit dem Virus leben und es sei Teil der „neuen Normalität“, bedeutet nichts anderes, als dass man die Langzeitfolgen und den Tod von Teilen der Risikogruppe in Kauf nimmt. Die Situation wie zu Beginn der Pandemie ist natürlich eine andere, so wäre es falsch, noch von einer „Ausnahmesituation“ auszugehen.

Der aktuelle Stand der Pandemie erlaubt einen anderen Umgang. Zwangsmaßnahmen wie Abstandspflichten im Freien oder (nächtliche) Ausgangssperren waren und sind eine falsche Antwort darauf. Dennoch ist es wichtig, die Pandemie als Teil der derzeitigen Normalität zu begreifen, unter der besonders vulnerable Personen nach wie vor zu leiden haben.

Lauterbach frohlockte, man habe die „Pandemie erfolgreich bewältigt“ und gehe mit einer „guten Bilanz“ raus. Seit Ausbruch der Pandemie infizierten sich in der BRD mehr als 38 Millionen Menschen, wovon über 171.411 starben. Aktuell gibt es 37.223 Infizierte, wovon 1.281 in einem kritischen Zustand sind, das heißt, sie werden mehrheitlich invasiv beatmet. (Stand: 29. April). Das ist die von Lauterbach und der Bundesregierung propagierte „gute Bilanz“. Es muss dabei betont werden, dass es sich hierbei um offiziell statistisch ermittelte Fälle handelt. In diese Statistiken fallen weder Infizierte, die einen asymptomatischen Verlauf hatten, einen falschen negativen Antigen-Tests oder sich überhaupt nicht testeten. Die Zahl der Verstorbenen greift nur diejenigen auf, die in der Obhut von Ärzt:innen versterben. Infizierte, die zuhause starben oder nicht mit dem Wissen, infiziert gewesen zu sein, fallen nicht in die Statistik. Die offiziellen Zahlen sind konservative Werte.

Dass die Dunkelziffer weitaus höher ist, wurde zuletzt im Sommer 2022 betont, als die Omikron-Variante sich ausbreitete. Thomas Lehr, Professor für Pharmazie der Universität des Saarlandes, geht von einem Faktor 2 bis 3 aus. Das heißt: die offiziellen Zahlen sind mindestens doppelt- bis dreifach so hoch. Ein Studie von Christina Maaß, von der die Universität Hamburg am 27. Oktober 2022 berichtete, geht davon aus, dass die eigentliche Zahl 73 Prozent über der Offiziellen liegt.

Die Gefahr der Neuinfektion

Es ist also ersichtlich, dass sich die offiziellen Zahlen von der Realität stark unterscheiden. Diese Erkenntnis ist auch mit Hinblick auf die Folgen und Langzeitfolgen einer Infektion wichtig. Welche Folgen eine unmittelbare Infektion mit dem Virus auslöst, ist hinreichend bekannt. Lange Zeit ging man davon aus, dass eine Infektion die Immunität stärkt, weshalb während der Zeit von Impfzertifikaten der sogenannte „Genesen-Status“ mit dem Impfzertifikat gleichgesetzt wurde.

Drei Jahre seit Ausbruch der Pandemie ist es mittlerweile Normalität, dass man sich mehrmals infiziert, besonders dann, wenn man schützende Maßnahmen immer weiter zurückgeschraubt hat. Dass permanente Neuinfektionen das Immunsystem permanent stärken, ist jedoch ein Trugschluss. Die Vermutung, dass Neuinfektionen das Immunsystem eher schwächen, wurde schon relativ früh geäußert, allerdings fehlten damals Daten und es fehlten noch weitere Untersuchungen des Virus. Am 10. November 2022 wurde zu diesem Feld eine Studie veröffentlicht, die die Vermutung nun bestätigt. Das Risiko, einen schweren Verlauf zu bekommen oder LongCovid zu entwickeln, steigt mit jeder Neuinfektion.

Symptome von LongCovid sind unter anderem Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Schlafstörungen und Atemwegsprobleme. Dabei spiele es eine untergeordnete Rolle, ob jemand geimpft sei oder nicht. Patient:innen, die sich einmal reinfzierten, haben ein doppeltes Risiko, daran zu sterben, und ein Dreifaches, hospitalisiert zu werden als Einmalinfizierte. Angesichts der Tatsache, dass neue Mutationen und Varianten immer ansteckender und die Immunantwort immer besser umgehen, kann also nicht davon ausgegangen werden, dass man sich auch nur ansatzweise am Ende der Pandemie befindet.

In der BRD dominiert die Variante Omikron XBB.1.5: 72,1 Prozent aller Infektionen gehen auf sie zurück (Stand: 26. März). Von einigen Wissenschaftler:innen wurde die Variante „Kraken“ getauft, da XBB.1.5 sich wahnsinnig schnell verbreitet. Ob sie gefährlicher ist als andere Varianten von Omikron, wird indes verneint. Übersetzt man die Verneinung in Neuinfektionen und Todesfälle, bedeutet das: im Jahr 2023 gibt es bis dato etwa eine Millionen Neuinfektionen und knapp 10.000 Tote. Eine gute Bilanz, wie Lauterbach betonen würde. Dass die Pandemie nicht linear verläuft, das heißt, dass nun jede weitere neue Variante ungefährlicher sein wird, ist ein fataler Trugschluss. Nur weil die aktuellen Omikron-Subvarianten für immunstarke Personen weniger gefährlich wirkt, heißt das nicht, dass das so bleibt. Denn während Lauterbach und die Bundesregierung das administrative Ende der Pandemie einläuten, wurde in Indien eine neue Variante von XBB.1.5 entdeckt: XBB1.16., „Arcturus“ getauft. In Indien lässt XBB.1.16. die Neuinfektionen innerhalb von zwei Wochen um 281 Prozent steigen, die Todesfälle stiegen im gleichen Zeitraum um 17 Prozent. Es soll sich dabei um eine noch ansteckendere Variante als die ohnehin schon sehr ansteckende „Kraken“-Variante handeln. Dass sie mittlerweile auch in der BRD auftaucht, ist angesichts fallender Maßnahmen nicht verwunderlich.

LongCovid und PostCovid

Langzeitfolgen einer Infektion werden indes kaum beachtet. Zwar stellte der Deutsche Bundestag am 12. Mai 2022 einen kleinen Betrag von 10 Millionen Euro zur Verfügung, um PostCovid und ME/CFS zu untersuchen. Angesichts der Tatsache, dass die Pandemie bis dahin schon zwei Jahre dauerte, hatten Patient:innen, die sich in diesem Zeitraum infizierten und PostCovid entwickelten, kaum Möglichkeiten der Hinwendung und Therapie. Dabei ist es mehr als notwendig, sich ernsthaft mit Langzeitfolgen zu beschäftigen.

Bei ME/CFS handelt es sich um eine schwere immunologische Erkrankung, das ein eigenständiges komplexes Krankheitsbild darstellt. Dass eine Coronainfektion ME/CFS auslösen kann, ist mittlerweile hinreichend bekannt. Doch auch Langzeitfolgen, die keine ME/CFS auslösen, können Symptome und Krankheiten nach sich ziehen, die nach wie vor kaum untersucht sind. Konservativ geschätzt geht man davon aus, dass etwa 10 Prozent aller Infizierten Langzeitfolgen entwickeln. Der Unterschied zwischen LongCovid und PostCovid liegt in der Dauer der Erkrankung: Beschwerden, die weniger als drei Monate dauern, werden LongCovid genannt.

Treten sie länger als drei Monate und wiederkehrend auf, handelt es sich um PostCovid. Die Beschwerden sind wie bei ME/CFS sehr komplex: neben chronischen Lungenerkrankungen kann es zu Müdigkeit, Sprachstörungen bis hin zur Entwicklungen beziehungsweise Verschärfung von psychischen Erkrankungen (darunter unter anderem klinischen Depressionen und Gedächtnisstörungen) führen. Patient:innen, die unter diesen Langzeitfolgen leiden, werden komplett unsichtbar gemacht. Es ist völlig unklar, wie lange die Erkrankung anhält und ob es in naher Zukunft Möglichkeiten gibt, sie therapeutisch oder medikamentös zu behandeln. Dafür bedarf es großangelegter Studien und Untersuchungen, die aber angesichts des administrativen Endes der Pandemie wohl kaum eine vollumfängliche Finanzierung erhalten wird.

Was bleibt

Für viele vulnerable Personen der Risikogruppen bleibt eine große Gefahr bestehen. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wird für diese Personen erschwert, wenn es für beispielsweise keine Möglichkeit gibt, kostenlose Masken in geschlossenen Räumen zu bekommen. Doch selbst wenn eine Infektion vermeintlich unproblematisch verläuft, bleibt die Gefahr im Raum, Langzeitfolgen zu entwickeln. Ältere Menschen, Immunschwache und psychisch Erkrankte haben dabei ein stark erhöhtes Risiko. Doch auch Menschen mit einem guten Immunsystem sind vor PostCovid nicht gefeit: die Zahl von Menschen, die vor einer Infektion beispielsweise sportlich sehr aktiv waren oder keine physischen oder psychischen Einschränkungen im Leben hatten wurden von einer Infektion vollkommen niedergeschlagen.

Anstelle dringend notwendiger Maßnahmen tritt die Eigenverantwortung, die alles andere als solidarisch ist. Wie soll man sich und andere schützen, wenn man trotz nachgewiesener Coronainfektion arbeiten gehen muss? Masken zu tragen ist, trotz fallengelassener Maskenpflicht, ein wichtiges Mittel um Ansteckungen zu vermeiden, doch viel wichtiger wäre die Einführung kostenloser PCR-Tests in Schulen, Unis und Betrieben sowie angemessenen Gesundheitsschutz. Um diesen Gesundheitsschutz zu gewährleisten, braucht es eine Lohnfortzahlung für Menschen, die sich aufgrund einer Infektion isolieren, sowie die Verstaatlichung von Krankenhäusern und Pharmakonzerne unter Arbeiter:innenkontrolle, damit die Forschung und Versorgung nicht nach Profitinteressen, sondern nach den medizinischen Notwendigkeiten gestaltet wird. Um Langzeitfolgen einer Infektion besser zu verstehen, braucht es einerseits für die Forschung des Virus und potenzieller Mutationen als auch für die Entwicklung von Therapien für Patient:innen, die unter Langzeitfolgen leiden.

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