Chile: Warum wurde Piñera noch nicht gestürzt?

08.11.2019, Lesezeit 10 Min.
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Seit mehr als zwei Wochen mobilisieren sich Millionen von Menschen in ganz Chile und fordern den Rücktritt des Präsidenten. Warum wurde Piñera noch nicht gestürzt? Eine Debatte über die Gründe und die Vorschläge, um den Kampf fortzusetzen, bis wir gewinnen.

Wir präsentieren hier einen von der Partei Revolutionärer Arbeiter*innen (PTR) veröffentlichten Debattenbeitrag über den Stand des Aufstands in Chile, die massiven Mobilisierungen und die Kombination von Repression und Verhandlungen, die es Piñera ermöglichen, an der Macht zu bleiben, obwohl er der am stärksten diskreditierte Präsident seit der Rückkehr der Demokratie ist. Die PTR ist Teil der Trotzkistischen Fraktion für die Vierte Internationale (FT-CI) und ist die Schwesterorganisation von RIO in Chile.

Laut verschiedenen Statistiken ist Piñera der Präsident mit der geringsten Zustimmung seit der Rückkehr der Demokratie. Nur 13% der chilenischen Bevölkerung befürwortet seine Regierung.

Die Reaktion der Regierung auf die Proteste gegen die Fahrpreiserhöhung der U-Bahn – Morde, Verhaftungen, Folter, Vergewaltigungen von Dutzenden von Frauen durch Polizei- und Militärpersonal, Notstand und Ausgangssperre – sorgte für den Sturz der Popularität des Präsidenten ins Bodenlose.

Niemand glaubt ihm mehr, weder seinen Kabinettsumbildungen noch seiner „Sozialagenda“, noch sonst etwas. Die Massen wollen, dass er zurücktritt, und dass alle Mörder vor Gericht gestellt und bestraft werden.

Also warum wurde der Präsident noch nicht gestürzt, wenn es Tag für Tag Millionen von uns gibt, die sich mobilisieren, um unsere Ablehnung auszudrücken?

Erstens, weil das Regime, in dem wir leben, äußerst antidemokratisch ist. Die Massen haben deutlich gemacht, wie satt sie es haben, das Erbe der Diktatur zu tragen, zu dem unter anderem ein Präsident und ein Nationalkongress gehören, die zugunsten der Mächtigen regieren, auch wenn ihre Unterstützung in den Keller stürzt. „Es sind keine 30 Pesos, es sind dreißig Jahre“.

Aber wie kann es sein, dass wir, wenn wir Millionen sind, die all dies ablehnen, es noch nicht geschafft haben, Piñera aus dem Präsidentenpalast herauszuwerfen?

Wir müssen es klar und deutlich sagen: In den ersten Tagen des Massenaufstands in Chile wurde die Piñera-Regierung durch die Repression der „Sicherheitskräfte“ mit Tausenden von Militärs auf den Straßen gestützt; als klar war, dass Millionen von Menschen sich weiter mobilisierten und nicht nur den Kopf des Präsidenten forderten, sondern auch das gesamte Pinochet-Regime als Ganzes in Schach hielten, waren es die Parteien der früheren Mitte-Links-Regierung der Concertación, die als erste die Rettung der rechten Regierung durch die aktuelle Politik des „sozialen Dialogs“ und der „Sozialpolitik“ geplant haben. Mit der Zustimmung der Parteien des Regimes legte Piñera eine Reihe von Ankündigungen vor, die von Millionen von Menschen als einfache Krümel abgelehnt wurden, die in keiner Weise die tiefen strukturellen Probleme der Werktätigen und der Massensektoren lösen.

Zu diesem heuchlerischen Chor von „sozialem Dialog“ und „Engagement für die Menschen“ gesellen sich auch Großunternehmer*innen, die davon sprechen, „die Hände in die Tasche zu stecken, bis es wehtut“, wie es der Präsident des Unternehmerverbandes der Produktion und des Handels (CPC), Alfonso Swett, ausdrückte; oder der Milliardär Andrónico Luksic, der Gehälter von 500.000 chilenischen Pesos (umgerechnet ca. 600 Euro) in seinem Unternehmen Quiñenco verspricht, während er gleichzeitig tausende Arbeiter*innen als Leiharbeiter*innen und in Tochterfirmen beschäftigt; oder der derzeitige Präsident der Ultraport-Gruppe, Richard von Appen – eine Familie, die für das Brechen von Hafenarbeiterstreiks und die Aufrechterhaltung einer Linie völliger Unnachgiebigkeit bekannt ist -, der in den traditionellen Medien erscheint und unter anderem von „Sorge um seine Arbeiter“ spricht.

Aber nicht nur diese Sektoren haben sich der Falle des Regimes des „sozialen Dialogs“ angeschlossen, das müssen wir sehr nachdrücklich sagen. Diese Politik der Regierung von Piñera hat auch in einigen Organisationen wie der Kommunistischen Partei (KP) oder dem reformistsichen Bündnis Frente Amplio (FA) ein Echo gefunden. Beim „Tisch der Sozialen Einheit“, den sie leiten, treffen sich mächtige Organisationen wie der Gewerkschaftsverband CUT, die NGO No+AFP, der Studierendenverband Confech und die Lehrer*innengewerkschaft, die ebenfalls von diesen Parteien geleitet werden, und die sich weigern, den Kampf bis zum Ende zu führen.

Warum ist das so wichtig? Weil es der Mobilisierung von Millionen bisher nicht gelungen ist, die Regierung zu vertreiben. Aber was würde passieren, wenn in unseren Tagen des Kampfes – abgesehen von der massiven Mobilisierung in Richtung des Präsidentenpalastes – alle Häfen, Minen, Lehrer*innen, Beamt*innen und im Allgemeinen alle strategischen Sektoren der Wirtschaft sowie die Fakultäten und Sekundarschulen wirklich streiken und lahmgelegt würden? Aber nicht einen Tag allein, auch nicht um über Krümel zu verhandeln, sondern mit einem kontinuierlichen Kampfplan, bis die Regierung fällt. Wenn wir die strategischen Sektoren der Wirtschaft treffen, hätten sie keinen Spielraum, um mit der „Normalität“ der kapitalistischen Geschäfte fortzufahren.

Wichtige Gewerkschaftsorganisationen wie die CUT, die Hafenarbeiter*innengewerkschaft, die Minengewerkschaft, die Lehrer*innengewerkschaft, die Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes ANEF und andere haben erklärt, dass sie einen Generalstreik vorbereiten, um eine verfassungsgebende Versammlung zu fordern, und haben die Einrichtung eines „Streikkomitees“ angekündigt. Aber dies ist nach wie vor eine geschlossene Instanz der Gewerkschaftsführungen und keine Instanz, um den Generalstreik aus der Basis heraus zu organisieren. Doch das wäre der einzige Weg, den Streik an jedem Arbeitsplatz zu gewährleisten. Es ist unerlässlich, Streikkomitees mit Basisdelegierten voranzutreiben, die sich territorial abstimmen, mit Versammlungen in jedem Arbeitsplatz, die die Basisdelegierten für ein großes nationales Streikkomitee wählen. An den Arbeitsplätzen müssen diese Streikkomitees von der Basis gebildet werden, um eine Koordination zwischen Fabriken und Betrieben ermöglichen. Es ist der einzige Weg, einen Generalstreik durchzuführen, der auf den Trümmern dieses Regimes eine freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung durchsetzen kann. Nur von der Basis aus werden wir in der Lage sein, Millionen von Arbeiter*innen zu organisieren, egal ob gewerkschaftlich oder nicht gewerkschaftlich organisiert, Festangestellte oder Leiharbeiter*innen, chilenisch oder ausländisch, sodass wir eine große Kraft werden, die das Land lähmt und sich den Großunternehmer*innen stellt.

Dies geschieht jedoch nicht. Dafür sind die KP und die FA, die den Tisch der Sozialen Einheit anführen, verantwortlich. Denn ihre Politik ist nicht die, dass wir Millionen auf den Straßen sind, damit die Regierung fällt. Sie sprechen mit uns über ein Amtsenthebungsverfahren, aber das ist eine Falle: Kann jemand glauben, dass der Senat Piñera entlassen wird? Die Volksabstimmung ist auch eine Falle. Die Straße hat bereits gesagt, Piñera raus! Wir wollen nicht, dass unser Kampf sich in den institutionellen Fallen des von der Diktatur übernommenen Regimes verfängt. Dort wird gegen unsere grundlegenden Forderungen gestimmt werden. Kann jemand glauben, dass es eine demokratische verfassungsgebende Versammlung geben wird, während Piñera in der Regierung bleibt und die Mörder der Massen ungestraft herumlaufen? Ganz offensichtlich nicht. Sie versuchen nur, unseren Kampf abzulenken. Es muss darum gehen, bis zum Ende zu kämpfen, um Piñera abzusetzen.

Aus all diesen Gründen beinhaltete der Aufruf zum landesweiten Streik vom Mittwoch vergangener Woche nicht den Slogan „Piñera raus!“, den Millionen auf den Straßen gerufen haben. Diese Forderung wurde auch nicht in die Gründungserklärung des „Streikkomitees“ aufgenommen. Wer hat das entschieden? Die Bürokrat*innen, die diese Organisationen leiten, verantworten sich nicht vor der Basis der Arbeiter*innen und Studierenden, sondern entscheiden hinter verschlossenen Türen.

Wir haben auch gesehen, wie wichtige Sektoren der Frente Amplio in Verhandlungen mit der Regierung getreten sind, wodurch sie ihre Kontinuität anerkennen, anstatt zu verlangen, dass sie zurücktritt. Im Gegensatz zu ihnen schrien Millionen von uns auf den Straßen, dass unsere Toten nicht verhandelt werden. In erster Linie muss Piñera raus, und alle politisch und materiell Verantwortlichen für die Morde und Foltern dieser Tage müssen vor Gericht gestellt und bestraft werden.

Die Kommunistische Partei ihrerseits spielt ein trügerisches Spiel. Sie ist nicht in den Dialog mit der Regierung gegangen, aber sie fordert, dass die Regierung mit dem Tisch der Sozialen Einheit verhandelt…. unter der Leitung der KP selbst und der FA. Nein, es geht darum, Piñera rauszuwerfen und nicht Bedingungen dafür zu stellen, dass er uns noch ein paar mehr Krümel zuwirft.

Unser Appell gilt auch allen Sympathisant*innen der Frente Amplio und der KP, nicht zuzulassen, dass ihre Führungen das Mandat der Bevölkerung verraten, die millionenfach verlangt, dass Piñera geht, und dass sie nicht mit einer mörderischen Regierung verhandeln.

Also, was sollen wir tun?

Von der Partei Revolutionärer Arbeiter*innen (PTR) und der Tageszeitung La Izquierda Diario haben wir einen klaren Vorschlag eingebracht: den Generalstreik bis zum Sturz von Piñera und zur Durchsetzung einer echten freien und souveränen verfassungsgebenden Versammlung auf den Trümmern des von der Diktatur geerbten Regimes. Eine solche Versammlung muss ohne jegliche Einschränkungen Sofortmaßnahmen angesichts der Krise ergreifen und die Forderungen nach Löhnen, Bildung, Gesundheit oder Renten, die Forderungen der Frauenbewegung und des Mapuche-Volkes erfüllen, neben anderen Forderungen.

Aber, wie gesagt, es gibt Feinde auf diesem Weg. Deshalb fordern wir, dass nicht einige Bürokrat*innen hinter verschlossenen Türen über das Schicksal unseres Kampfes entscheiden, sondern aus der Basis Versammlungen an allen Orten der Arbeit und des Studiums organisiert werden, in denen wir darüber abstimmen, wie unser Kampf weitergeht. Das ist Teil des Wegs, die Gewerkschaften und Studierendenorganisationen aus den Händen der Bürokratie zurückzuerobern. Wir fordern auch Koordinatoren, die die verschiedenen kämpfenden Sektoren zusammenbringen, um mehr Stärke zu haben und starke Pole zu bilden, um den „Tisch der sozialen Einheit“ dazu zu zwingen, einen Generalstreik zu organisieren, der die Regierung stürzen kann.

In diesem Sinne sind wir gemeinsam mit Tausenden von Genoss*innen vorangeschritten, im Cordón Centro oder im Krankenhaus Barros Luco de Santiago, im Notfall- und Rettungsausschuss von Antofagasta oder in Valparaíso, wo es uns gelungen ist, dass der „Tisch der Sozialen Einheit“ als Versammlung funktioniert. Es sind großartige Beispiele dafür, die wir im ganzen Land verallgemeinern müssen, um besser zu kämpfen und einen stärkeren Generalstreik vom Tisch der Sozialen Einheit zu fordern.

Aus seiner Entwicklung muss die Kraft erwachsen, die Geschichte zu verändern und die Maßnahmen zu verteidigen, die die Verfassungsgebende Versammlung entscheidet, welche von den Kapitalist*innen und ihren Repressionsapparaten bekämpft werden wird.

Dieser Artikel bei La Izquierda Diario.

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