Chile stimmt mit überwältigender Mehrheit dafür, Pinochets Verfassung zu begraben: Wie geht es weiter?

26.10.2020, Lesezeit 8 Min.
Übersetzung:
1

Der Sieg des "Apruebo" ("Ich stimme zu") bei der Volksabstimmung über einen verfassungsgebenden Prozess in Chile an diesem Sonntag ist eine große Niederlage für den rechten Flügel und die Regierung Piñera. Mit mehr als 78% der Stimmen entschied sich die überwältigende Mehrheit dafür, die gegenwärtige pinochetistische Verfassung und ihr neoliberales Erbe zu begraben. Das historische Plebiszit fand ein Jahr nach der sozialen Explosion statt, die alles in Frage stellte. Wie soll der Kampf nach dem Plebiszit weitergeführt werden?

Der Sieg des „Apruebo“ beim Verfassungsplebiszit an diesem Sonntag war überwältigend. Trotz der Pandemie erreichte die Beteiligung 50%. Bei der Volksabstimmung sollten sich die Chilen:innen entscheiden, ob sie der Ausarbeitung einer neuen Verfassung zustimmten, und die Art des Gremiums, das sie ausarbeiten soll, festlegen. Sie fand ein Jahr nach Beginn der sozialen Explosion statt, die die von Pinochets Diktatur geerbten neoliberalen Grundpfeiler in Frage stellte, und mit ihnen die Verfassung von 1980, die gestern zu begraben begonnen wurde.

Bei mehr als 99% der ausgezählten Stimmen bestätigte der Wahldienst, dass 78,27% der Bevölkerung (5.884.076 Stimmen) sich für die „Zustimmung“ zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung entschieden hatten, wobei in einigen Regionen und mehreren Volkskommunen mehr als 85% erreicht wurden. Was die Art des Gremiums anbelangt, das für die Ausarbeitung zuständig sein soll, so hat sich die Option „Verfassungskonvent“ mit 78,99% (5.644.418 Stimmen) gegenüber dem „gemischten Konvent“ durchgesetzt (bei letzterem Vorschlag handelte es sich um eine Kombination aus Delegierten, die durch Abstimmung gewählt wurden, und anderen vom derzeitigen Parlament).

Die Wahlbeteiligung war viel höher als in den Vorjahren, als sie stark zurückgegangen war, und erreichte mit 7.559.742 Wähler:innen 50,9% des Registers, was immer noch etwas niedriger ist, als einige frühere Umfragen gezeigt hatten.

Das Plebiszit hatte große Erwartungen und Hoffnungen auf Veränderungen geweckt, und in der Nacht feierten, nachdem die ersten Ergebnisse bekannt waren, Millionen von Menschen in ganz Chile auf den Straßen und Plätzen des Landes.

Das durchschlagende Ergebnis bedeutete eine Niederlage für die Rechte, die gespalten war, und insbesondere für die Regierung von Sebastian Piñera, der deutlich geschwächt aus dem Referendum herausging. Auf einer Pressekonferenz am Sonntagabend versuchte der Präsident zu vermeiden, dass das Ergebnis als Volksabstimmung über seine eigene Regierung angesehen wird, wie es die meisten im Land verstanden hatten. Heuchlerisch hielt er eine Rede, um zu versuchen, auf den Zug der Zustimmung aufzuspringen, und sagte, dass „dieser Triumph der Demokratie uns mit Freude und Hoffnung erfüllen“ sollte. Der Schlag gegen das neoliberale Erbe Pinochets bedeutete jedoch auch einen kräftigen Schlag gegen die Regierung, und so wurde es auch von denjenigen verstanden, die in den Straßen feierten.

Die alte Concertación (eine Koalition aus Mitte- und Mitte-Links-Parteien, die Chile viele Jahre nach dem Ende der Diktatur regierte) erklärte ihrerseits zusammen mit Teilen der Rechten und den großen Medien, dass es sich um eine „Feier der Demokratie“ handele, und forderte, dass dieser „staatsbürgerliche“ Weg die Probleme lösen solle, um das Land bald zur Normalität zurück zu bringen. Ihr Ziel ist es nun, dass sich, wie in den vergangenen 30 Jahren, nichts wirklich ändert, d.h. dass so viel wie möglich vom Erbe der Diktatur in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Arbeit, Prekarität, Repression und so weiter erhalten bleibt.

Wie ist die Volksabstimmung zustande gekommen und wo liegen ihre Grenzen?

Dieses Plebiszit ging aus dem so genannten „Abkommen für Frieden und eine neue Verfassung“ hervor, das vom Parlament im Einvernehmen mit der Regierung von Sebastian Pinera am 15. November 2019 verabschiedet wurde. Das Abkommen wurde als „parlamentarische Küche“ bekannt, weil die Menschen sahen, wie im Kongress verhandelt wurde, während die Straßen in Flammen standen. Es fand inmitten der sozialen Explosion statt, die am 18. Oktober aufgrund steigender U-Bahn-Preise während der Hauptverkehrszeit begann, die aber schnell den Angriff auf die Grundpfeiler des chilenischen Neoliberalismus zum Hauptmotto machte. Mit dem Slogan „Es geht nicht um 30 Pesos (der Erhöhung), sondern um 30 Jahre (des Neoliberalismus)“ stellten sie unter anderem die privatisierte Bildung und Gesundheit, die Prekarität der Arbeit und die Repression in Frage.

Diese „parlamentarische Küche“, an der die rechten Parteien und die Vertreter:innen der Mitte-Linken und des Neo-Reformismus wie die Kommunistische Partei und die Frente Amplio („Breite Front“) teilnahmen, hatte das Ziel, die Krise zu „kanalisieren“ und die Straßenproteste in einen verfassungsgebenden Prozess umzuleiten, der viele Beschränkungen in Bezug auf die Art und Weise, wie über tiefgreifende Veränderungen entschieden werden sollte, aufweist.

Die neue Verfassung und ihre Regeln müssen von „zwei Dritteln“ gebilligt werden, was bedeutet, dass eine neoliberale und klassisch rechte Minderheit ihr Veto gegen jede wichtige Reform durchsetzen kann; außerdem dürfen internationale Verträge nicht angetastet werden, die in ihrer großen Mehrheit die nationale Ausplünderung durch große multinationale Konzerne in Bereichen vom Bergbau bis zur Rentenversicherung zulassen; junge Menschen unter 18 Jahren, also diejenigen, die die enorme Massenrebellion, die das Land durchlebt hat, initiiert haben, werden nicht wählen oder gewählt werden können; Gewerkschaftsführer:innen oder Anführer:innen sozialer Organismen werden nicht kandidieren können, ohne auf diese Rolle zu verzichten. Außerdem wird der Verfassungskonvent nach den Regeln des derzeitigen parlamentarischen Wahlsystems gewählt, was den großen Parteien der Bosse zugute kommt.

Der verfassungsgebende Prozess wird zudem von den derzeitigen Verfassungsorganen überwacht (dem unbeliebten Kongress, dem Präsidenten und den diskreditierten Repressionskräften wie den Carabineros, die für eine brutale Repression verantwortlich sind). Mit anderen Worten: Die Verfassungsgebende Versammlung wird weder frei noch souverän sein, da sie nur einen neuen Verfassungstext entwerfen können, über nichts anderes entscheiden können und im Rahmen der Regierung Piñera und der derzeitigen Institutionen handeln werden.

Wie geht es weiter?

Pablo Torres, Herausgeber von La Izquierda Diario Chile, sagte nach der Verkündung der Ergebnisse: „Die Kraft des ‚Apruebo‘, die den Wunsch nach einem Ende der Pinochet-Verfassung zeigte, war überwältigend. Jetzt müssen wir das Erbe der Diktatur restlos beseitigen. Und dafür können wir weder den Parteien vertrauen, die in den vergangenen 30 Jahren das Regime stabilisiert haben, noch ihrem Konvent, der mit der Zwei-Drittel-Regel einer Minderheit ein Vetorecht einräumt und voller Fallen steckt (die Einhaltung internationaler Verträge, damit die multinationalen Konzerne weiter plündern; die Beteiligungsregel des derzeitigen Parlaments; die Straffreiheit der Verantwortlichen für die Repression; der Ausschluss der Jugend, die alles mit dem Springen über die Drehkreuze begonnen hat, usw.). Wir sind die immense Mehrheit“.

Dauno Tótoro, Anführer der Partei Revolutionärer Arbeiter:innen (PTR) Chiles, die dem „Kommando für eine freie und souveräne Verfassungsgebende Versammlung“ angehört, sagte: „Nur wenn wir unseren Kräften auf der Straße vertrauen, können wir der AFP [private Rentenversicherung] ein für alle Mal ein Ende setzen und angemessene Renten für unsere Rentner:innen erlangen. Nur so können wir Arbeit für alle erreichen, mit anständigen Gehältern entsprechend dem Mindestverbrauch eines Durchschnittshaushalts und ohne Prekarisierung. Nur so können wir eine kostenlose und qualitativ hochwertige öffentliche Gesundheit erreichen, nur so können wir die strategischen Ressourcen zum Wohle der arbeitenden Menschen und ihrer Bedürfnisse verstaatlichen. Für die Freiheit der Gefangenen, ein Ende der Straflosigkeit und für Bestrafung der politisch und materiell für die Repression Verantwortlichen. Raus mit Piñera und für eine wirklich freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung. Der Weg der Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse und der Massen ist der Schlüssel zur Verwirklichung unserer Bestrebungen und zur Beendigung all dieses Erbes der Diktatur.“ Er fuhr fort:

Die KP und die FA haben nicht die Absicht, dieses alte Regime und seine Parteien der Bosse zu konfrontieren. Deshalb suchen sie Allianzen mit der alten Concertación und setzen alles auf den „institutionellen Weg“, ohne die Fallen des „Friedensabkommens“-Prozesses anzuprangern, während sie aktiv demobilisieren und einen Waffenstillstand aufrechterhalten, der nur den Bossen dient.

Die Partei Revolutionärer Arbeiter:innen, die La Izquierda Diario Chile herausgibt, war Teil der überwältigenden Mehrheit, die für die Beendigung der Pinochet-Verfassung stimmte. Zugleich prangerte sie ihre Fallen an und forderte eine freie und souveräne Verfassungsgebende Versammlung ohne Piñera. Kürzlich gelang es ihnen, Tausende von Unterschriften im ganzen Land zu sammeln und ihre Legalität als Partei in Städten wie Santiago, Valparaiso, Antofagasta, Arica auszuweiten, um eine unabhängige politische Alternative der Arbeiter:innen vorzustellen, die in der Perspektive einer Regierung der Arbeiter:innen den ganzen Weg gegen dieses Regime und dieses System gehen will.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Spanisch bei La Izquierda Diario Chile.

Mehr zum Thema