Bottrop und Essen: „Amokfahrt“, „Auto-Attacke“ oder rassistischer Anschlag?

03.01.2019, Lesezeit 5 Min.
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In der Silvesternacht wurden bei mehreren faschistischen Attentaten in Bottrop und Essen mindestens acht Personen verletzt. Bundesinnenminister Seehofer relativiert die Tat in einem wahrhaften "Trump-Moment". Das ist das Klima, in dem neue faschistische Täter*innen heranwachsen.

Als 2017 ein Nazi im US-amerikanischen Charlottesville mit seinem Auto in eine antifaschistische Demonstration raste und so die 32-jährige Heather Heyer ermordete, irritierte Präsident Donald Trump die Nation: Verschulden habe es „auf beiden Seiten“ gegeben und unter den Rechten seien „sehr anständige Leute“.

Nun lenkte ein Mann in der Silvesternacht erst in Bottrop und dann in Essen sein Auto vier Mal in Menschengruppen, die er für Migrant*innen hielt. Mindestens acht Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Nur durch Glück gab es keine Toten. Im anschließenden Polizeiverhör sprach er von „Kanaken“.

Dieser Fall weist einige Parallelen zu Charlottesville auf. Zum einen kopierte der Attentäter die Vorgehensweise. Sich ohne große Vorbereitung ein Fahrzeug zu nehmen und loszumorden, zeigt auch eine Ähnlichkeit zu den Anschlägen islamistischer Fundamentalisten in Nizza und am Berliner Breitscheidplatz.

Zum anderen hat nun Bundesinnenminister Horst Seehofer seinen Trump-Moment. Statt den faschistischen Terror zu benennen, lenkte er ab, indem er den Anschlag mit einer anderen Situation in Amberg in Verbindung brachte, die überhaupt nichts mit Bottrop zu tun hat. Dort sollen vier betrunkene Jugendliche wahllos Passant*innen geschlagen haben. Gewalttaten, wie sie in Deutschland häufiger von Betrunkenen begangen werden. Weil die vier aber aus Afghanistan, Syrien und dem Iran stammen, sagte Seehofer: „Das sind Gewaltexzesse, die wir nicht dulden können“ und gewalttätige Asylbewerber müssten das Land verlassen. Er kündigte an, einen Vorschlag zur weiteren Verschärfung der Abschiebepraxis in die Große Koalition einzubringen.

Der rechtsextreme Anschlag von Bottrop und Essen und die Prügelei in Amberg wurden auch von der Bundesregierung gleichgesetzt. Eine Sprecherin sagte: „Es gebe in Deutschland keinen Platz für Extremismus und Intoleranz, egal von welcher Seite ein solches Verhalten komme.“ Zwei Tage nach einem faschistischen Terroranschlag stellt sich die Regierung also hin und relativiert mehrfach versuchte Morde. Eine solche Aussage ist kein Zufall. Sie reiht sich ein in den jahrelangen Umgang der deutschen Behörden mit faschistischem Terror:

Das Oktoberfestattentat mit 13 Toten von 1980 wird in der offiziellen Version nach wie vor einem Einzeltäter zugeschrieben, obwohl die Beteiligung faschistischer Banden mit Verstrickungen in den Staatsapparat kaum zu leugnen ist. Ebenso die NSU-Morde, die hauptsächlich dem „Tätertrio“ Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe zugeschrieben werden. Während Ralf Wohlleben, der die Tatwaffe beschaffte, schon wieder auf freiem Fuß ist, werden die Verbindungen von Nazis und Geheimdiensten weiterhin vertuscht.

Die Reihe ließe sich fortsetzen: Der Todesschütze vom Münchner Olympiaeinkaufszentrum, der in der offiziellen Version kein faschistischer Terrorist, sondern ein gemobbter Amokläufer ist. Ebenso wird nun auch der Terrorist von Bottrop von Seehofer als Amokfahrer bezeichnet und in den Medien werden seine psychischen Störungen seziert.

Seehofer vertritt wie schon im Fall Maaßen die äußerst rechte Position des deutschen Staates. Mit seinem Diskurs, gewalttätige Geflüchtete abzuschieben, ist er für liberale Teile der Parteienlandschaft zu weit gegangen. Aber nur, weil er einen direkten Zusammenhang mit Bottrop konstruierte. Während von den Grünen diesmal Kritik an Seehofer kommt, hatte ihre Vorsitzende Annette Baerbock noch vor Kurzem gesagt: „Straffällige Asylbewerber, die unsere Rechtsordnung nicht akzeptieren und vollziehbar ausreisepflichtig sind, sollten bei der Abschiebung vorgezogen werden“.

Ihre Aussage, die von einer Grünen-Vorsitzenden vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen wäre, ist mittlerweile zum Mainstream selbst der liberalen Seite des Bürgertums geworden. Ebenso wie Seehofer setzt sie auf Abschiebungen und härtere juristische und polizeiliche Maßnahmen. Es ist der gleiche Polizeiapparat, in den sie ihr Vertrauen setzt, der an vielen Stellen Überschneidungen zu organisierten Faschist*innen aufweist. Das jüngste Beispiel ist der „NSU 2.0“. Polizist*innen aus Frankfurt, die Beleidigungen wie „miese Türkensau“ und Morddrohungen an die zweijährige Tochter einer Anwältin der Nebenklage im NSU-Prozess schickten. Eigentlich ein riesiger Skandal, der aber ohne größere Konsequenzen bleiben wird. Und nach Amberg scheinen sich erneut faschistische Straßenbanden als „Bürgerwehren“ zu formieren.

Es zeigt sich, wie selbstverständlich die faschistischen Zellen in Armee, Polizei und Geheimdienst in Deutschland mittlerweile hingenommen werden. Und der Anschlag in Bottrop und Essen zeigt, wie skrupellos Seehofer ähnlich wie zuvor schon in Chemnitz einmal mehr von rechter Gewalt ablenkt. Die Forderung nach härteren Abschiebungen, die er im gleichen Atemzug mit Bottrop und Essen erwähnt, dient dazu, die migrantische Arbeiter*innenklasse weiter zu disziplinieren. Heute sind es gewalttätige Betrunkene, die auf seine Zielscheibe geraten – Jugendliche, die kaum jemand verteidigen möchte. Morgen sind es größere Teile unserer Klasse, die als Anführer*innen von Streiks und Protesten als gewalttätig klassifiziert und abgeschoben werden können. Während die Migrant*innen nie eine vollständige Repräsentation in der deutschen Gesellschaft bekommen haben, rüstet der Staat weiter gegen sie. Es ist das Klima, in dem neue faschistische Täter*innen heranwachsen.

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