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Attacke von München: Amoksyndrom oder tiefgründige soziale Krise?

27.07.2016, Lesezeit 9 Min.
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Der schreckliche Mord an neun Personen in München beginnt sich aufzuklären. David S., der mutmaßliche junge Schütze, leide an Amoksyndrom, wird nun erklärt.

Laut offiziellen Quellen liegt das zentrale Motiv des Mörders in einer psychischen Störung begründet und er verübte seine Taten in einem „Amokzustand“. Aber das erklärt weder die Umstände, die zu diesen Handlungen führten, noch die politischen und sozialen Auswirkungen in einer polarisierten Gesellschaft.

Das Fehlen von sicheren Informationen in den ersten Stunden nach der Schießerei hinderte die großen deutschen Medien keineswegs daran, wie üblich die Sprachrohre eines rassistischen Staates zu sein. Sie respektierten nicht den Schmerz der Familien der Opfer oder die Angst der gesamten Münchner Bevölkerung. Neuigkeiten über die tragischen Ereignisse am Nachmittag des 22. Juli wurden von den Nachrichtenunternehmen mit der Vorannahme verbreitet, dass es sich um ein islamistisches Attentat handele, oder dass der Täter ein Geflüchteter wäre. Dazu kamen alle möglichen anderen Ausdrücke, die – trotz vorangestelltem „angeblich“ oder „es ist nicht bestätigt, aber…“ – dazu dienen, die Stigmatisierung gegenüber Geflüchteten und Migrant*innen zu vertiefen. Selbst der „Terrorismus-Experte“ Joachim Krause bemerkte in einem Gespräch mit dem Radiosender DLF: „Ich habe ARD und ZDF geschaut, und das fand ich schlimm.“ Er machte damit diese beiden Fernsehsender für die „Hysterie“ verantwortlich, die danach die Bevölkerung ergriff.

Der Chor der Medien wurde von Politiker*innen begleitet. Der bayrische Chef der aufsteigenden rechtsextremen „Alternative für Deutschland“, Pertr Bystron, erklärte auf Facebook: “Es ist für die Regierenden an der Zeit, sich einzugestehen, dass es ein Fehler war, über 1,5 Millionen Menschen völlig unkontrolliert ins Land zu lassen. Es ist Zeit, darüber zu diskutieren, wie wir die Migranten wieder zurück in ihre Heimatländer bekommen. Wir brauchen verstärkte Rückführung, statt aussichtslose Integrationsbemühungen.“

Was für ein starker Kontrast zu der immensen sozialen Solidarität, die sich in der Twitterkampagne #offenetuer äußerte. Unter diesem Schlafwort öffneten Menschen die Türen ihrer Wohnhäuser für diejenigen Menschen, die auf den Straßen gestrandet waren, weil der öffentliche Nahverkehr unmittelbar nach der Schießerei lahmgelegt wurde und das Chaos sich in der Stadt ausbreitete.

Amoksyndrom oder komplexes politisches und soziales Phänomen

Ab Samstag, als klar war, dass David S. keinerlei Bezug zum Islamismus hatte, wurde die psychiatrische Vergangenheit des Jugendlichen vollständig für die Schießerei verantwortlich gemacht. Laut der Süddeutschen Zeitung war David S. im Jahr 2015 zwei Monate in einer psychiatrischen Anstalt und führte seitdem ambulant seine Behandlung gegen Depression und Angstzustände fort, die in ihm soziale Phobien auslösten. Während der Hausdurchsuchung durch das SEK wurden Bücher über das sogenannte Amoksyndrom und Material über das Massaker von Winnenden gefunden, ein furchteinflößendes Attentat, bei dem in mehreren Schießereien rund um eine Schule in Baden-Württemberg 16 Personen starben, inklusive dem Selbstmordattentäter.

Amok wird seit 200 Jahren beobachtet, besonders in hochentwickelten Ländern. Es wird durch die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert als „zufällige, augenscheinlich unprovozierte Episode, die mit mörderischem oder zerstörerischem Verhalten eingeht, gefolgt von Amnesie und/oder Erschöpfung“. Selbst Allen Frances (*), US-amerikanischer Psychiater und Direktor des Diagnostic and Statistical Manual (DSM IV), lehnt allerdings in einem exklusiven Gespräch mit unserem La Izquierda Diario-Netzwerk, diese Erklärung der deutschen Regierung und der Medienkonzerne ab, die in einem Amoksyndrom die einzige Verantwortung für den Mordanschlag sehen. „Die Versuche, psychiatrische Erklärungen für diese Gewaltakte zu finden, verwirren üblicherweise mehr, als dass sie aufklären. Das Amoksyndrom beinhaltet einen plötzlichen Kontrollverlust und nicht die sorgfältige Planung einer bestimmten Attacke. Der Zugang zu Waffen, der von den Medien geschürte Trittbrettfahrer-Effekt, der Hass auf das Fremde und der religiöse oder politische Fanatismus sind viel bedeutendere Motivationen für Massenmorde.“

Auf die Frage, ob die Definition als Amok in diesen Fällen nicht nur als Vereinfachung für die Erklärung eines komplexen sozialen und politischen Phänomens dient, fügte Frances hinzu: „Die ineffektive Suche nach einer psychologischen Ursache ist beispielsweise Teil einer Strategie der National Rifle Association (NRA) der USA, um die Aufmerksamkeit von der Notwendigkeit von Waffenkontrollen abzulenken. Es erlaubt den Massenmedien, das Verbrechen weiterhin zu sensationalisieren und verneint die Notwendigkeit von Veränderungen in der Politik und im sozialen Umgang.“

Deutschland, soziale Polarisierung und der Aufstieg der extremen Rechten

Die offiziellen Quellen können auch nicht die Verbindung der Handlungen von David S. mit den Attentaten in Norwegen 2011 verschweigen. Sei es, weil David S. Material über dieses Massaker in seinem Zimmer aufbewahrte, oder weil der besagte Freitag, der 22. Juli, der fünfte Jahrestag dieses abscheulichen Anschlags war. Damals ermordete der ultrarechte Unternehmer Anders Breivik 77 Menschen – darunter vor allem Jugendliche, die an einem Sommercamp einer sozialdemokratischen Jugendorganisation teilnahmen. Zumindest teilweise ist dieser rechtsextreme Fanatismus augenscheinlich mit dem Amoklauf in München verbunden: Der junge Täter beschimpfte Türk*innen, bevor er das Feuer eröffnete, wie in einem Video zu sehen ist. Seine Opfer waren in der Mehrheit Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren mit Migrationshintergrund – türkisch, griechisch, kosovarisch. Ob das Zufall war oder Teil eines Plans, ist noch nicht bekannt.

Juan Duarte, Psychologe an der Universität von Buenos Aires, erklärt: „Man muss die soziale Situation bewerten, aus der diese Handlungen entstehen. Es gibt kein Verhalten außerhalb von sozialen und historischen Bedingungen. Offensichtlich versuchen Staat und Regierung solche Probleme so weit wie möglich zu individualisieren.“ In einer sozial polarisierten Gesellschaft, wo die Krise der Europäischen Union aus allen Poren dringt und die Saat für das Wachstum der extremen Rechten verstreut, müssen wir uns fragen, warum ein 18-jähriger Jugendlicher sich in einem psychischen Zustand befindet, der ihn dazu drängt, Menschen umzubringen, während er „Ich bin Deutscher, ich bin in Deutschland geboren“ schreit. Hat dies etwas mit damit zu tun, dass der Staat und ein Teil der Gesellschaft migrantische soziale Sektoren isoliert hat und sie sich immer noch als nicht-europäisch fühlen lässt, obwohl sie in Europa geboren wurden?

In einem Europa, dessen imperialistische Kriege hunderttausende Tote im Nahen Osten und in Afrika produzieren, welches humanitäre Krisen ungeheuren Ausmaßes erschafft und reaktionäre Phänomene wie ISIS schürt, wundert es nicht, dass der deutsche Staat nun auch – wie Frankreich unter Hollande – zu einer stärkeren internen Militarisierung voranschreitet.

Die Opfer werden weiterhin die Jugendlichen sein, vor allem die migrantischen, aber der Kurs wird noch repressiver werden. Peter Altmeier, Bundesminister für besondere Aufgaben der Merkel-Regierung, erklärte: „Wir tun alles, um unseren Lebensstil weiterleben zu dürfen und damit der Rechtsstaat die Oberhand behält. Die Terroristen dürfen ihr Ziel nicht erreichen“ – obwohl er wusste, dass es keinerlei Verbindung zwischen dem Schützen und terroristischen Organisationen gibt. Danach rief er dazu auf, ein zentrales Sicherheitsorgan zu schaffen, obwohl die Rolle gerade dieser Organisationen durch ihre Komplizenschaft in den Morden des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) zwischen 2001 und 2007 stark in Frage gestellt ist.

Wir müssen uns darauf vorbereiten, uns gegen die Verfolgung von Jugendlichen, vor allem von jugendlichen Migrant*innen und Geflüchteten, zu wehren. Die Bewegung gegen das reaktionäre Integrationsgesetz in Bayern versammelte vor einem Monat 1.500 Menschen auf der Straße. Diverse bundesweite Kollektive und Bündnisse, in denen Schüler*innen, Studierende und Arbeiter*innen, linke und antifaschistische Organisationen sich zusammenschließen, machen täglich Aktionen gegen Rassismus, Krieg und den Aufstieg der extremen Rechten. Das Bündnis Jugend gegen Rassismus – angestoßen unter anderem von der Revolutionär-Kommunistischen Jugend – organisierte Ende April einen bundesweiten Schul-, Uni- und Azubistreik und mobilisierte in zwölf Städten mehr als 8.000 Jugendliche. Ein neuer Aktionstag ist für den Schulbeginn im September geplant. Es ist notwendig, dass die mächtigen deutschen Gewerkschaften diese Aktionen unterstützen und dazu beitragen, dass die Arbeiter*innen der wichtigsten europäischen Macht dem Aufstieg der Rechten Einhalt gebieten. Denn dieser bedeutet Hass und Rassismus, sowie schlechtere Lebensbedingungen, sowohl für migrantische als auch für einheimische Arbeiter*innen. Er bedeutet die verzweifelte Situationen der Barbarei.

(*) Allen J. Frances ist ein US-amerikanischer Psychiater. Er war Leiter der psychiatrischen Abteilung in der Medizinfakultät der Duke University und Gründer und Redakteur der berühmten Journal of Personality Disorders und Journal of Psychiatric Practice. Außerdem überwachte er die vierte Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual (DSM-IV), die mittlerweile von einer fünften Auflage abgelöst wurde. Wir stehen diesem Handbuch äußerst kritisch gegenüber, unter anderem da in ihm eine Pathologisierung von sexuellen Identitäten vorgenommen wird; das und anderes lehnen wir auf das Schärfste ab. Allerdings hat sich auch Frances inzwischen vom DSM distanziert und ein Manifest dagegen veröffentlicht. Auf Spanisch haben wir eine Rezension dieses Buchs veröffentlicht.

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