Biologie oder soziales Konstrukt: Was ist Gender?

09.12.2023, Lesezeit 10 Min.
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Foto: Tabea Krug / Klasse Gegen Klasse

Die Queer Theory besagt, dass das Geschlecht sozial konstruiert sei – sowohl das „biologische” als auch Gender. Allerdings herrscht sehr viel Begriffsverwirrung, wenn wir von Gender, Gender Roles und Gender Expressions sprechen.

Sprache konstituiert keine Wirklichkeit, sondern macht sie greifbar und bildet sie ab. Sie ist elementar, um einerseits die herrschenden Ideen und materiellen Bedingungen zu benennen und auf sie zu referieren, und andererseits, um Erkenntnisse festzumachen. Wir können beispielsweise auf den Stein als „Stein” referieren, weil wir das materielle Ding „Stein” nennen. Was trivial klingt, ist der Grundstein menschlicher Kommunikation. Der Stein ist auch Stein, wenn er nicht „Stein” genannt beziehungsweise von uns niemals entdeckt worden wäre. Niemand würde auf den Gedanken kommen, der Begriff „Stein” würde den Stein als materielles Ding als Wirklichkeit konstituieren. Dessen Existenz besteht unabhängig von der Menschheit, das heißt, er braucht uns als Beobachter:in nicht. Das ist auch der zentrale Punkt: Um eine Beobachtung festzuhalten, braucht es die Sprache. Sie ist ein Werkzeug als Hilfsmittel für den Menschen zum Informationsaustausch.

Dass die Sprache jedoch auch als Machtmittel benutzt werden kann, zeigt ein nüchterner Blick in die Menschheitsgeschichte. Besonders in Hinblick auf Rassismus und Kolonialismus dient die Sprache nicht mehr dem reinen Informationsaustausch, sondern der sprachlichen Unterdrückung, der die materielle Unterdrückung vorausgeht. Das heißt: Afrikanische Sklav:innen wurden nicht durch die rassistische Sprache diskriminiert und unterdrückt, sondern durch politische und ökonomische Interessen der Sklav:innenhalter:innen. Hiernach ist die Erkenntnis wichtig, dass eine Reform der Sprache beziehungsweise eine innersprachliche Sanktion nichts an der materiellen Unterdrückung ändert. Sklav:innen wurden nicht befreit, weil sich die Sprache anpasste, sondern durch den politischen und sozialen Kampf der Individuen als Kollektiv. Die Sprache ist folglich  immer auch gegenwärtiger Ausdruck der herrschenden Idee und Klasse.

Einen Kampf um die Deutungshoheit der Sprache findet sich besonders in der Frage um Gender, Sex und Geschlecht. Wie wir bereits in einem anderen Artikel schrieben, hat die Queer Theory, maßgeblich geprägt von Judith Butler, die Sprache als Waffe erhoben, um die Wirklichkeit vermeintlich zu ändern. Das Geschlecht soll ein rein soziales Konstrukt sein und könne als solches auch dekonstruiert werden. Dabei geht es Butler und der Queer Theory nicht nur um das Gender, sondern auch das Sex (welches von ihnen als „biologisches Geschlecht” bezeichnet wird). Alles sei variabel und einem ständigen Wechselfluss unterworfen. Jede:r könne das Geschlecht selbst wählen, sich aneignen und sich entsprechend präsentieren. Dass das Geschlecht weitaus komplexer ist als das dichotome Bild einer Binarität, wurde mehrfach hinreichend dargelegt. Dabei gibt es nicht nur Schriften aus der Vergangenheit und anderen Kulturen, die  von mehr als zwei Geschlechtern ausgehen. Auch in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft wird trotz vehementem Widerstand der herrschenden  Ideologie selbst mindestens ein drittes Geschlecht anerkannt, das wahlweise mit „intersex” oder „nicht-binär” paraphrasiert wird. Anzumerken ist, dass es einen deutlichen Unterschied zwischen „intersex” und „nicht-binär” gibt: Bei intersexuellen Menschen handelt es sich um Personen, bei denen nicht klar ersichtlich ist, ob das Sex männliche oder weibliche primäre sexuelle Merkmale hat; bei nicht-binären Menschen handelt es sich um Personen, die sich nicht in das binäre Genderkonstrukt zwischen „Mann” und „Frau” einordnen können und/oder wollen.

Dass die Queer Theory und Judith Butler sowohl inner- als auch außerhalb des feministischen Diskurses Kritik erfahren, liegt an der durchaus radikalen Ideologie des Dekonstruktivismus. Die größte Kritik besteht bezüglich der  Einordnung des „biologischen Geschlechts” (Sex) als eine Entität, die dekonstruiert werden kann. Geschlechtsmerkmale allerdings kann man schlechterdings nicht dekonstruieren, ohne sie physisch zu „zerstören“. Dekonstruiert man Sex jedoch rein sprachlich, wird nicht die Wirklichkeit des Sex dekonstruiert, sondern der Sprache die Funktion als Referenzwerkzeug genommen. Dahinter liegt das strukturelle Problem der Theorie: Die Dekonstruktion hat unendliche Konstruktionen zur Folge, die selbst dekonstruiert werden müssen. Das hat fast schon dadaistischen Charakter, wenn die Thematik nicht so wichtig wäre.

Besonders im rechten Diskurs wird stets betont, dass gerade und ausschließlich Sex „biologisch determiniert”, das heißt wahr, weil erkennbar sei. Nun kann man, ohne der innewohnenden ideologischen Ordnung zuzustimmen, diese Erkenntnis durchaus bejahen und sagen, dass Sex biologisch determiniert ist, eben weil es erkennbar ist. Die Sprache kann diese Beobachtung nicht zunichtemachen. Doch was sehr viel wichtiger ist und besonders im feministischen Diskurs kaum beachtet wird: Auch Gender ist biologisch determiniert.

Gender als Geschlecht, Rolle oder Ausdruck?

Wenn vom biologischen Geschlecht gesprochen wird, wird gemeinhin Sex gemeint. Das heißt, das objektiv erkennbare Geschlecht, welches anhand primärer sexueller Merkmale bestimmbar ist. Dass selbst diese Einteilung ihre Schwierigkeit hat, liegt in dem Faktum begründet, dass es Menschen gibt, die diverse primäre sexuelle Merkmale nicht besitzen, dennoch einem bestimmten Sex untergeordnet werden. Rechte und queerfeindliche Personen verfolgen diesen Geschlechtsreduktionismus und argumentieren, einzig primäre sexuelle Merkmale geben Auskunft darüber, was für ein Geschlecht ein Mensch besitzt. Die Funktion der theoretisch möglichen Reproduktion als Bedingung zu wählen, schließt jedoch diejenigen Menschen aus, die beispielsweise ohne diese Merkmale geboren wurden – oder mit beiden. Dass diese Menschen nicht die Mehrheit sind, ist übrigens kein Argument dafür, die Binarität aufrechtzuerhalten. Würde man das tun, käme es einer Entmenschlichung gleich, wie man sie in diversen Diskursen auch immer wieder mitbekommt.

Doch Sex ist nur ein Teil des biologischen Geschlechts. Als materielles Wesen, das nach Kant zur Vernunft fähig ist, besitzt der Mensch mehr als nur primäre sexuelle Merkmale. Im Zentrum steht hierbei das Gehirn. Die Frage ist also: Wie ordnen wir Gender ein? Beziehungsweise ist Gender, wie es Queerfeminist:innen postulieren, sozial konstruiert? Bevor diese Frage beantwortet werden kann (respektive: der Versuch einer Antwort), ist es unabdingbar, drei Begriffe scharf zu trennen: Gender, Gender Roles und Gender Expressions. In (queer-)feministischen und linken Diskursen werden diese Begriffe austauschbar und synonym verwendet, was mitunter der Queer Theory und den poststrukturalistischen Elementen, die ihr durch Judith Butlers Positionen innewohnen, geschuldet ist, der eine Deutungshoheit definiert; um Gender allerdings in all seiner Dialektik verstehen zu können, braucht es diesen ersten Schritt der Unterscheidung.

Gender, Gender Role und Gender Expression haben dabei nicht denselben Rang, sodass eine Hierarchisierung notwendig ist. Um eine Gender Role und Gender Expression zu ermöglichen, braucht es das Gender, das diese Rolle und diesen Ausdruck zur Folge haben kann. Um Gender zu greifen, brauchen wir einen materialistischen Blick auf die Genderwissenschaft und deren fortlaufende Entwicklung. Es ist bekannt, dass diese Forschung noch am Anfang steht und es daher unredlich wäre, eine allgemeingültige Antwort zu formulieren. Essentiell ist dabei die Forschung, die sich mit transgeschlechtlichen Menschen beschäftigt, das heißt Menschen, bei denen es einen erkennbarer Unterschied zwischen Sex und Gender gibt. Trans Männer sind Männer, denen bei der Geburt Weiblichkeit, trans Frauen sind Frauen, denen bei der Geburt Männlichkeit als Geschlecht fremd zugeschrieben wurde. Dass es sich dabei nicht um eine im luftleeren Raum entstandene Laune handelt, wenn sich trans Menschen zu ihrer trans Identität bekennen beziehungsweise sie für sich selbst erkennen, lässt sich anhand verschiedener Studien darlegen.

Es gibt einen Unterschied zwischen dem Gehirn von cis und trans Menschen. Exemplarisch wollen wir auf  trans Frauen konzentrieren, die in einer Studie von Florian Kurth, Christian Gaser, Francisco J. Sánchez und Eileen Luders untersucht wurden. Veröffentlicht in 2022 wird der Schluss gezogen, dass die Anatomie des Gehirns von trans Frauen derjenigen von cis Frauen ähnelt. Das heißt freilich nicht, dass die Gehirne identisch sind, sondern vielmehr, dass eine klare Verlagerung erkennbar ist. Die Autor:innen konkludieren: „Trans Frauen sind bedeutend weiblicher als cis Männer, aber [auch] bedeutend weniger weiblich als cis Frauen.” Heißt das, dass trans Frauen keine Frauen sind? Nein, es bedeutet zweierlei: Erstens biologisch und ideologisch, dass das Geschlecht in kein binäres Konstrukt gesteckt werden kann, und zweitens biologisch und dialektisch, dass gerade bei trans Frauen dieses Ergebnis zu erwarten war, da es dieses Missverhältnis männlicher und weiblicher Hormone gibt. Doch da es sich hier nicht um eine tiefgehende Arbeit handelt, die darlegen soll, wie das Gehirn von trans Menschen funktioniert, bleibt zusammenfassend festzuhalten: Studien wie diese, in denen erkennbar ist, dass die Anatomie der Gehirne von trans Menschen sich von cis Menschen unterscheidet, deuten darauf hin, dass das Gender damit zusammenhängen muss.

Gender ist dabei mehreren Faktoren unterworfen, die wir nach wie vor noch nicht vollkommen verstehen; hierunter fallen etwa genetische und Umwelteinflüsse, die sich gegenseitig bedingen. Während die primären sexuellen Merkmale sich im Laufe des Lebens in der Regel kaum mehr verändern, ist die Entwicklung des Gehirns erst nach etwa 25 Jahren abgeschlossen. Zu meinen, dass bereits bei der Geburt das Gender klar ist, wäre dasselbe, als würde man sagen, die komplette Persönlichkeit eines Neugeborenen sei bereits entwickelt. Es zeigt aber auch, dass das Gender nicht sozial konstruiert, sondern denselben Faktoren unterworfen ist wie Sex. Damit ist es Teil des biologischen Geschlechts. Wichtig ist dabei die Hierarchisierung: Wenngleich Sex Teil des biologischen Geschlechts ist, ist es nicht der bestimmende Faktor – das ist das Gender. Das heißt: Trans Frauen sind Frauen, trans Männer sind Männer, cis Frauen sind Frauen, cis Männer sind Männer. Trans und cis stellen den Widerspruch oder die Übereinstimmung zum Sex dar, nicht zum Gender.

Was ist mit Gender Roles und Gender Expressions?

Da wir nun den Versuch einer Definition von Gender unternommen haben, geht es nun um die wichtigen sozialen Komponenten des Geschlechts: Rollen und Ausdrücke. Sind Gender Roles und Gender Expressions biologisch determiniert? Natürlich nicht. Sind sie sozial konstruiert? Ja, aber nicht im luftleeren Raum. Um sich dem Gender, dem biologischen Geschlecht, bewusst zu werden, spielen Gender Expressions eine Rolle.. Und dort müssen wir von einem weiten, teils noch unergründeten Spektrum sprechen, das niemals starr sein kann. Im Laufe der Menschheitsgeschichte wurden Geschlechter in unterschiedlichster Weise zum Ausdruck gebracht. Dinge, die vormals als „maskulin” oder „feminin” galten, werden heute so nicht mehr definiert, was jedoch nicht heißt, dass ihre Neubesetzung ausgeschlossen ist. Gerade in dieser Sphäre kommt die starke Reduktion auf „maskulin” und „feminin” an ihre Grenzen, wenn das Spiel so weit getrieben wird, dass alles, nun ja, fluide wird. Gender Expressions sind vom Wesen her fluide. Ähnlich ist es mit Gender Roles, die politisch, ökonomisch und gesellschaftlich entwickelt sind. Darunter fallen reaktionär-tradierte Bilder wie das der „Hausfrau” oder des „männlichen Industriearbeiters”. Diese Rollen sind nicht nur sozial konstruiert, sondern ökonomisch und ideologisch determiniert in dem Sinne, dass eine „Dekonstruktion“ dieser Rollen die „Dekonstruktion” des Systems bedarf. Und da wir sozialistische Feminist:innen sind, das heißt Revolutionär:innen, bedeutet das nicht weniger als eine revolutionäre Umgestaltung.

Aufgaben eines sozialistischen Feminismus

Dass es wichtig ist, Gender als biologisches Geschlecht zu begreifen und nicht als soziales Konstrukt, zeigt die Realität von jenen trans Menschen, die sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterziehen wollen. Wenn, so die Logik der Queer Theory, das Geschlecht
per se konstruiert sei, bräuchte es weder medizinische, juristische noch psychologische Maßnahmen, um trans Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, das Sex (teilweise) dem Gender anzupassen. Die Überwindung beziehungsweise Negation des Geschlechts mag nur auf den ersten Blick einen progressiven Charakter haben, denn die Wirklichkeit zu ignorieren wird nicht die dahinter liegenden Probleme und Schwierigkeiten auflösen. Sowohl der Poststrukturalismus als auch biologische Reduktionist:innen, die das Geschlecht primär im Sex verorten, erkennen entweder die Wirklichkeit, die sich hinter Gender befindet, nicht an oder sie ignorieren die Existenz davon vollkommen. Weder das eine noch das andere wird allerdings die materielle Wirklichkeit ändern können, die wir selbst heute noch nur beschränkt verstehen können.

Besonders als sozialistische Feminist:innen ist es wichtig und notwendig, sowohl dem Queerfeminismus als auch vulgärmaterialistischen Positionen eine konkrete und wissenschaftlich fundierte Perspektive zu präsentieren, die denselben dialektischen Entwicklungsprozessen untergeordnet ist wie alles andere auch. Dass die queere Befreiung nur durch die Befreiung der Arbeiter:innenklasse geschehen kann, bedeutet für uns jedoch nicht, diesen Aspekt als Nebenwiderspruch aufzufassen, der sich in einer Umwälzung der Gesellschaft von selbst auflösen würde. Das Verständnis der Thematik ist unabdingbar, um die queere Befreiung von idealistischem und postmodernem Ballast zu befreien, ohne jedoch in ein tradiert-binäres Bild der Geschlechter zurückzufallen. Das Gender ist ein fester Bestandteil des Menschen: biologisch determiniert, aber in permanenter Wechselbeziehung mit seiner Umgebung. Die Forschung ist noch am Anfang; daher verbietet es sich, eine allgemeingültige Antwort zu formulieren oder in den Abgründen des Postmodernismus zu verschwinden, wenn uns etwas unerklärlich erscheint.

Bedeutet diese Schlussfolgerung, dass wir die Existenz von queeren Menschen verneinen, die sich zu einer Geschlechtsidentität bekennen, die vom aktuellen Standpunkt aus wissenschaftlich schwer einzuordnen ist? Mitnichten. Den Spagat, den wir als Materialist:innen und sozialistische Feminist:innen nun machen müssen, ist die subjektive Erkenntnis mit der objektiven Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Der erste Schritt soll hiermit getan werden.

 

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