Kann Judith Butlers Queerfeminismus eine Befreiung der Geschlechter erreichen?

26.11.2023, Lesezeit 25 Min.
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Wir stellen der queerfeministischen Theorie von Judith Butler eine revolutionäre Strategie gegen Unterdrückung gegenüber. Denn eine queere Befreiung im Kapitalismus ist nicht vollumfänglich möglich.

Die Unterdrückung von Frauen und LGBTQIA+ ist kein Phänomen der Vergangenheit. Das wird angesichts des aktuellen Anstiegs von patriarchaler Gewalt schnell klar. Sie hat katastrophale Auswirkungen auf das Leben von Milliarden von Menschen. Um die Unterdrückung von Frauen und Queers wirkungsvoll zu bekämpfen, müssen wir herausfinden, wo ihr Ursprung liegt. Eine mögliche Antwort bieten die Werke der:des amerikanischen Philosoph:in Judith Butler.

Butlers Fokus lag in den vergangenen Jahren auf der Auseinandersetzung mit Gewalt und Gewaltlosigkeit. Nun steht Butler wegen eines Essays im London Review of Books unter Beschuss, der auf den Kontext des Angriffs auf Israel vom 7. Oktober verwies und sich für ein Ende der Besatzung aussprach.

Doch es lohnt ein Blick zurück: Their queerfeministische Theorie wurde erstmals im 1990 erschienenen Buch Gender Trouble (dt. Das Unbehagen der Geschlechter, 1991)1 formuliert, welches auch außerhalb akademischer Kreise schnell großen Anklang fand und als Gründungsdokument der Queer Theory begriffen werden kann. Auch über 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung lohnt eine Auseinandersetzung.

Eine Theorie aus der Orientierungslosigkeit

Die späten 1980er und frühen 1990er Jahre waren für die internationale Linke von Schwäche und Orientierungslosigkeit geprägt. Maßgeblich dafür war die 1989 eingeleitete kapitalistische Restauration in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten. Dies gilt sowohl für die Strömungen, die sich positiv auf sie bezogen, als auch zu einem gewissen Grade für diejenigen, die ein oppositionelles Verhältnis zu ihr einnahmen. Der imperialistische Kapitalismus hatte scheinbar seine Alternativlosigkeit unter Beweis gestellt und konnte in eine Periode des stabilen Wachstums eintreten, wenngleich auch nur für eine begrenzte Zeit.

Doch wäre es verkürzt, die Geschichte des 20. Jahrhunderts ausschließlich als stetigen Niedergang der revolutionären Bewegung zu betrachten. In den späten 1960er Jahren formierte sich eine Studierendenbewegung, die – beeinflusst vom Marxismus – mit dem Ziel antrat, eine grundlegend andere Welt zu schaffen und Ausbeutung, imperialistischen Kriegen und dem reaktionären gesellschaftlichen Klima den Kampf anzusagen. Auch wenn die Bewegung teilweise sehr einflussreich wurde und es schaffte, sich mit Kämpfen der Arbeiter:innen zu verbinden, konnte sie letztlich keine Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse bewirken. Die meisten Aktiven verfielen in Passivität, gingen zum Reformismus oder individualistischen Terror über.

Gleichzeitig erstarkte allerdings die Frauen- und LGBTQIA+-Bewegung. Schon während der französischen Revolution forderten Feminist:innen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht nur für Männer; bereits vor dem ersten Weltkrieg traten queere Menschen – viele von ihnen überzeugte Sozialist:innen – für ein Ende der Unterdrückung ein. In den 1960er und 1970er Jahren jedoch konnte die Bewegung bedeutend wachsen, was mit dem Aufkommen neuer theoretischer Debatten einherging. Auf der einen Seite der feministischen Bewegung gab es Liberale wie Gloria Steinem und Betty Friedan, die gleiche Rechte und Chancen für Frauen innerhalb des bestehenden Systems anstrebten. Auf der anderen Seite argumentierten Sozialist:innen wie Angela Davis und Silvia Federici, dass Kapitalismus und Patriarchat untrennbar miteinander verbunden seien und Feminist:innen daher auch für die Überwindung des Kapitalismus kämpfen müssten.

Zum Verständnis von Butlers Positionen im Frühwerk ist es notwendig, sich den politischen Kontext näher anzusehen, in dem diese entstanden. In Folge der Niederlage des Iraks im Golfkrieg Anfang der 1990er Jahre waren die internationalen Finanzorganisationen in Sorge, dass es zu einer Gegenreaktion der von den imperialistischen Ausplünderungen am stärksten Betroffenen kommen könnte. Um diesen Ausbruch der Massen präventiv zu verhindern, „[sollten] nun Allianzen mit den sozialen Bewegungen und ihren Organisationen aufgebaut werden, um sie besser ins System zu integrieren.“2 Hauptakteure dieses von der Weltbank ausgerufenen Sozialprogramms stellten Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) dar; in der Folge wurden auch viele Feminist:innen „Teil einer Technokratie innerhalb der internationalen Organisationen, der Finanzinstitutionen, der Weltbank oder der tausenden von NGOs.“3 Einzelne Aktivist:innen und Organisationen profitierten von der finanziellen Unterstützung durch bürgerliche Staaten und supra-nationale Institutionen, etwa indem sie für „feministische“ Entwicklungsprogramme in halbkolonialen Ländern bezahlt wurden, und stellten sich so in den Dienst des Imperialismus. Dies wurde von unabhängigen Feminist:innen kritisiert. Darüber hinaus zersplitterte diese neoliberale Politik die feministische Bewegung, wobei sich „der Feminismus zunehmend vom Ziel der kollektiven Befreiung [entfernte] und […] einen immer stärker selbstbezogenen Diskurs [entwickelte], der sich auf eine Elite beschränkt[e], die die Anerkennung ihrer Diversität und die Integration in die Konsumkultur einfordert[e].“4 In jedem Prozess konnten poststrukturalistische und postmoderne Tendenzen an Einfluss gewinnen, in deren Tradition auch Butlers Theorie steht.

Dekonstruktion des Geschlechts bei Judith Butler

Butler knüpft an die Vorstellung an, dass Unterdrückung primär auf der Ebene des Diskurses zu verorten sei, sodass folglich eine Verschiebung des Diskurses auch zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse führe, die im Diskurs produziert und reproduziert werden. Weiterhin wurden diejenigen Kategorien, mit denen sich Menschen die Welt erschließen, nicht mehr als gegeben hingenommen, sondern als willkürlich offengelegt.

Dies wendet Butler nun auf Geschlecht und Sexualität an. Zweigeschlechtigkeit lehnt Butler ab, ebenso wie eine Unterscheidung von sex und gender, die von früheren Feminist:innen wie Simone de Beauvoir eingeführt wurde, um sozial gebildete und durchgesetzte Geschlechternormen als nicht biologisch determiniert zu kennzeichnen. Butler geht einen Schritt weiter; auch biologische Geschlechter seien keine natürlichen Kategorien, sondern im Diskurs sozial konstruiert. Frau-sein sei keine intrinsische Eigenschaft von Menschen, das Subjekt ‚Frau‘ entstehe erst im Diskurs, welcher von Machtverhältnissen durchzogen ist. Geschlecht und Körperlichkeit würden also erst erzeugt, wenn darüber auf eine bestimmte Weise gesprochen wird. Verschiedene Identitäten werden in Bezug aufeinander als über- beziehungsweise unterlegen konstruiert. Die Einordnung der Menschen in die hegemoniale Geschlechterbinarität, von Butler „heterosexuelle Matrix“ genannt, werde meist nicht durch direkten Zwang erreicht, sondern durch die ständige Wiederholung von bestimmten Verhaltensweisen:

In welchem Sinne ist die Geschlechtsidentität ein Akt? Ähnlich wie auch andere rituelle gesellschaftliche Inszenierungen erfordert auch das Drama der Geschlechtsidentität eine wiederholte Darbietung.5

Dazu gehören Formen des Begehrens und der Art, sich zu kleiden und zu sprechen, aber auch persönliche Vorlieben. Diese Wiederholung von bestimmten Handlungen, die als ungeschriebene Regeln bezeichnet werden können, wird unter dem Begriff Performativität gefasst. Die performative Konstruktion von Identitäten führt notwendigerweise zum Ausschluss. In der Identitätsbildung würden trotz ungemeiner Macht des herrschenden Diskurses auch immer wieder unkonventionelle Identitäten entstehen, die dann wiederum vom herrschenden Diskurs marginalisiert würden. Auch die zu dieser Zeit dominante feministische Strömung würde durch ihre Konstruktion eines Subjekts „Frau“ zum Ausschluss führen, da dieses nicht alle unter dem Begriff zusammengefassten Menschen repräsentieren könne.

Bei Butler gibt es keine Unterscheidung zwischen Inhalt und Form von Unterdrückung. Unterdrückung liegt für Butler darin, dass im Diskurs bestimmte Identitäten und ihnen zugeschriebene Normen geschaffen werden und sich ein System der Reglementierung bildet. Wie kann die Abwertung und Marginalisierung von bestimmten Subjekten nun aufgebrochen werden? Butlers Antwort ist die Subversion. Eine gewisse Emanzipation könne durch eine performative Veränderung, die Infragestellung der herrschenden Normen im individuellen Verhalten und damit einer Verschiebung des Diskurses erreicht werden. Durch die Parodie von Geschlecht, die Wiederholung von Akten auf eine Art und Weise, die die Regeln des herrschenden Diskurses missachtet, wie beispielsweise von Drag Queens praktiziert, können deren Konstruiertheit sichtbar gemacht und neue inklusivere Kategorien geschaffen werden. Laut Butler nimmt „[d]ie parodistische Vervielfältigung der Identitäten […] der hegemonialen Kultur und ihren Kritikern den Anspruch auf naturalisierte oder wesenhafte geschlechtlich bestimmte Identitäten. Obgleich die Bedeutungen der Geschlechtsidentität, die diese parodistischen Stile aufgreifen, eindeutig zur hegemonialen frauenverachtenden Kultur gehören, werden sie durch ihre parodistische Re-Kontextualisierung entnaturalisiert und in Bewegung gebracht.“6 Auch die positive Umdeutung von im herrschenden Diskurs als „minderwertig“ gebrandmarkten Identitäten könne ein subversiver Akt sein. Das Potenzial für subversive Handlungen und die Verschiebung der Machtverhältnisse ergibt sich nicht aus der gesellschaftlichen Stellung von Menschen, sondern daraus, ob sie den diskursiven Prozess der Identitätsbildung und Subjektivierung durchschaut haben und sich so bewusst daran beteiligen können. Eine vollständige Überwindung von Machtverhältnissen und eine Praktik der Subjektivierung, die niemanden ausschließt, ist nach Butler unmöglich.

Hieraus lässt sich eine gewisse Kompatibilität der Queer Theory, wie Butler sie vertritt, mit reformistischen Politikansätzen erklären. Diese setzen ebenfalls auf die größtmögliche Ausschöpfung der vom liberal-demokratischen Rahmen vorgegebenen Möglichkeiten sowie auf die Einbeziehung von mehr Menschen in den demokratischen Prozess. Wenn auf eine Abschaffung von Macht nicht zu hoffen ist, dann sei es der einzige Weg, sie in Bewegung zu bringen und gegenüber jenen zu öffnen, die bisher von ihr ausgeschlossen wurden. Wie wir noch sehen werden, schlägt sich diese theoretische Nähe auch in Butlers eigener Parteinahme nieder.

Ein historisch-materialistisches Verständnis von Unterdrückung

Butler liegt mit der Ablehnung eines Essentialismus richtig. Sexuelle und geschlechtliche Identitäten sind keine ewigen Tatsachen, sondern Ausdruck von sozialen Verhältnissen, die einem stetigen Wandel unterworfen sind. In einer fortschrittlichen Gesellschaft wird die Einordnung von Menschen in geschlechtliche Kategorien wahrscheinlich verschwinden. Allerdings kann Butlers Theorie nicht ausreichend erklären, warum bestimmte Konstrukte, Herrschaftsverhältnisse und Formen der Unterdrückung zu bestimmten Zeiten auftreten und durchgesetzt werden können. Daraus folgt auch, dass they keine überzeugende Perspektiven aufzeigen kann, wie sie zu überwinden sind. Die verschiedenen Formen, die Unterdrückung im Diskurs annimmt, sind Ausdruck des Entwicklungsstandes der Produktions- und Klassenverhältnisse. Diese sind objektiv bestimmbar und bestehen unabhängig davon, auf welche Art und Weise sie gedeutet werden. Die sozialen Verhältnisse sind nicht identisch mit der Ideologie, in der diese Verhältnisse in einer verzerrten und verdinglichten Form widergespiegelt werden. Ideologiekritik ist notwendig, kann aber nur Hand in Hand mit dem Aufbau von materiellen Kräften, die in der Lage sind, eine Umwälzung der sozialen Verhältnisse zu erreichen, gehen. Butler erkennt dies jedoch nicht an, für them sind Produktion und Klasse, wie alles andere auch, diskursiv konstruiert. Den Diskurs setzt they als etwas Absolutes und nicht als etwas, das von den objektiven Verhältnissen und Entwicklungen, in dem er stattfindet, strukturiert wird.

Die marxistische Feministin Andrea D’Atri stellt in ihrem Buch Brot und Rosen heraus:

Butlers politische Überlegungen finden im von [them] nicht benannten Rahmen des kapitalistischen Systems statt. Bei [them] ist Ausbeutung das Unaussprechliche und Produktion lediglich symbolisch. Dieser unaussprechliche Kapitalismus ist die unhinterfragbare Grenze von Butlers politischer Vorstellungskraft, das ’nicht Gesagte‘ und damit das nicht Dekonstruierbare.7

Die Art, wie Menschen sich zueinander in Beziehung setzen und wie sie sich definieren, steht in direktem Verhältnis dazu, wie sie im Stoffwechsel mit der Natur, das heißt in ihrer Bearbeitung der vorgefundenen Bedingungen, das Überleben und Zusammenleben organisieren. Die Produktion ist nicht einfach ein Teilaspekt der Gesellschaft, sondern strukturiert sie in all ihren Facetten. So war etwa im Mittelalter der Familienherd die hauptsächliche ökonomische Einheit. Da Menschen vor allem in Familieneinheiten für den eigenen Bedarf produzierten, bestand keine Trennung zwischen der produktiven und reproduktiven Sphäre, zwischen Sexualität und Fortpflanzung. Durch das Aufkommen des Kapitalismus, die Trennung von Arbeits- und Privatleben, hat sich dies geändert; es eröffnete sich die Möglichkeit für sexuelle Beziehungen, die nicht der Fortpflanzung dienten. Selbstverständlich gab es in der Geschichte schon immer Formen von gleichgeschlechtlichen sexuellen Beziehungen und Menschen, die außerhalb der Geschlechterbinarität standen. Die Möglichkeit für – im modernen Sinne – queere Identitäten eröffnete sich jedoch erst mit der kapitalistischen Ausprägung der Arbeitsteilung. Gleichzeitig ist der Kapitalismus aber weiterhin auf das Bestehen der Kleinfamilie und damit der Geschlechterbinarität angewiesen. Daraus ergibt sich die Sanktionierung von alternativen Lebensformen, die dieses Modell in Frage stellen. Die Unterdrückung von Frauen und queeren Menschen, die Ideologie einer angeblichen „Minderwertigkeit“, dient der Kapitalakkumulation, da so Menschen in unbezahlte Reproduktionsarbeit und prekäre Arbeitsverhältnisse gezwungen werden und durch die Spaltung der Klasse einem kollektiven Kampf aller Arbeiter:innen entgegengewirkt wird. Sie ist fester Bestandteil des Kapitalismus, auch wenn die Art, auf die sie sich ausdrückt, sich ständig verändert. So sind heute mehr Frauen und queere Menschen denn je in der Öffentlichkeit, der Politik und Führungsetagen repräsentiert. Dieser Umstand verschleiert aber, dass die meisten von ihnen immer noch zu durchschnittlich schlechteren Konditionen ausgebeutet werden, den Großteil der Reproduktionsarbeit leisten müssen, häufiger von ökonomischer Abhängigkeit von Partner:innen und Familien sowie Gewalt betroffen sind und deshalb trotz formaler Gleichheit vor dem Recht, die in einigen Ländern besteht, nicht selbstbestimmt leben können.

Die menschliche Existenz befindet sich im Widerspruch zwischen Freiheit und Notwendigkeit. Dieses Verhältnis ist aber nicht statisch, sondern abhängig von der historischen Entwicklung. Die Natur, die die Menschen bearbeiten müssen, um zu überleben, setzt ihrer Freiheit Grenzen, da sich aus ihr bestimmte Zwänge, wie Menschen (zusammen)leben, ergeben. Gleichzeitig ist der Mensch aber in der Lage, sich die Natur für seine Zwecke zu eigen zu machen, zu verändern und damit auch sein eigenes Leben und die Gesellschaft zu gestalten. Wenn die Mittel der Naturbearbeitung weit genug fortgeschritten sind und kollektiv rational verwaltet werden, sodass menschliche Bedürfnisse ohne großen Aufwand befriedigt werden können, ist eine Emanzipation von Notwendigkeiten, die von bestimmten Produktionsverhältnissen auferlegt werden, möglich. Der Kapitalismus hat mit der Entwicklung der Produktivkräfte zwar die Voraussetzung für eine Emanzipation des Menschen, den Übertritt in die Sphäre der Freiheit geschaffen; dieser Übergang kann aber nicht im Rahmen des Kapitalismus geschehen. Denn ihm sind zahlreiche Zwänge inhärent, die die freie Auslebung von menschlichen Vorlieben und Bedürfnissen sowie die bewusste Kontrolle über die Produktion verhindern. In diesem Widerspruch ist auch die Theorie Butlers zu verorten. They setzt auf eine größtmögliche Ausreizung der im Kapitalismus vorgefundenen Spielräume für die Verschiebung von Machtverhältnissen, Subversion und Ausdifferenzierung von sozialen Kategorien. Eine vollumfängliche Befreiung scheint – aufgrund eines abstrakten Wesens aller menschlichen Beziehungen – unmöglich. Jedoch ist diese nicht absolut, sondern nur relativ unmöglich: Nämlich dann, wenn der Rahmen des Kapitalismus nicht überwunden wird. Und genau diesen Rahmen nimmt they als gegeben hin.

Ein gemeinsamer Kampf der Arbeiter:innenklasse 

Es lässt sich also feststellen, dass unsere Freiheit als queere Personen untrennbar mit den materiellen Verhältnissen, die der Kapitalismus schafft, verbunden ist. Hierzu schreibt unsere Genossin Virginia Guitzel:

Die Emanzipation basiert auf den ständigen Auseinandersetzungen zwischen den sozialen Klassen und dem Kampf zwischen ihnen, der auf dem Streben nach Profit durch Ausbeutung entsteht. Die sexuelle/geschlechtliche Befreiung ist mit der Befreiung der Arbeiter:innen aus der Lohnsklaverei verbunden. Sie wird von Millionen von Menschen herbeigesehnt, deren freie Sexualität und Geschlechtsidentität unterdrückt sind. Es ist ein Kampf, der die Widersprüche innerhalb eines Wirtschaftssystems zum Ausdruck bringt, das die Unterdrückung verschiedener Gruppen verlangt, um die kapitalistische Hegemonie zu sichern.8

Arbeiter:innen und Unterdrückte haben demnach ein gemeinsames Interesse. Bei der Betrachtung weiter Teile der Linken in Deutschland, aber auch weltweit, fällt auf, dass diesem gemeinsamen Interesse keine allzu große Relevanz eingeräumt wird. Auch bei Butler spielt es keine besondere Rolle, insofern die Arbeiter:innenklasse als politisches Subjekt nicht existent ist. Butler selbst geht in Gender Trouble so weit zu behaupten, dass „die juristischen Strukturen von Sprache und Politik das zeitgenössische Feld der Macht bilden“. Der Prozess der Kapitalakkumulation und die Herrschaft der kapitalistischen Klasse, die wir als Marxist:innen für bestimmend erachten, sind in deren Analyse nicht von Bedeutung.

Die Arbeiter:innenklasse umfasst die Mehrheit der Bevölkerung, sie ist offen queerer und multiethnischer denn je. Eben jene Klassenzugehörigkeit macht einen Unterschied. Nicht alle Queers sitzen im gleichen Boot, denn auch ein schwuler Vermieter, bleibt ein Vermieter. Alice Weidel ist queer – auch wenn sie das selbst nicht sagen möchte –, dennoch vertritt sie nicht die Interessen der Mehrheit der queeren Menschen und der Arbeiter:innen. Nicht nur für die Analyse, sondern auch für die Strategie müssen wir uns bewusst machen, dass jeder Fortschritt ein Resultat von Kämpfen ist. Die größten Druckmittel liegen in den Händen der Arbeiter:innen. Gesundheitsarbeiter:innen könnten etwa für die Rechte von trans Patient:innen streiken. An diesem Beispiel können wir das gemeinsame Interesse besonders gut erkennen: Beschäftigte im Gesundheitswesen haben genauso wenig Interesse an der Sparpolitik und den Reformen von Lauterbach wie wir als queere Personen, die in Therapie gehen und auf Operationen warten müssen.

Das Beispiel vom historischen Kampf der Gruppe Lesbians and Gays Support the Miners, welches weltweit bekannt ist, bestätigt nur zu gut, dass die Vereinigung von Arbeiter:innen mit unterdrückten Sektoren möglich ist. In Großbritannien kämpften queere Aktivist:innen im Jahr 1984 gemeinsam mit den streikenden Arbeiter:innen im Bergbau gegen den Staat – allen Spaltungsversuchen zum Trotz. Auch aktuell sehen wir diese Versuche, selbst aus der Linken heraus, wenn etwa Sahra Wagenknecht die Rechte und Interessen von trans Personen als diejenigen einer „skurrilen Minderheit“ bezeichnet und gegen die Arbeiter:innen auszuspielen versucht.

Reform oder Revolution

Interessanter ist an dieser Stelle allerdings eine Diskussion mit der institutionellen und reformorientierten Linken, wozu Parteien wie DIE LINKE, Syriza und Podemos in Europa sowie die Regierungen von Gabriel Boric in Chile und Lula da Silva in Brasilien gezählt werden können. So riefen 2015 beispielsweise 300 Intellektuelle, darunter auch Butler, zur Wahl von Syriza auf. Boric inszenierte sich gar als „die erste feministische Regierung Chiles“. In Wirklichkeit war das Projekt nur alter Wein in neuen Schläuchen. Die Regierung ist seit Amtsantritt nach rechts gerückt:

 Die Boric-Regierung hat eine völlig demoralisierende Rolle gespielt, indem sie jedem Druck der Rechten im Parlament nachgab, ihre eigenen Reformen beschränkte und Zugeständnisse machte, die sogar von der Rechten und dem Großkapital gefeiert wurden, wie z.B. die flexible 40-Stunden-Woche. Sie trieb zudem repressive und autoritäre Maßnahmen voran, wie z.B. die Militarisierung der Nordgrenze und des Mapuche-Gebiets und die Verabschiedung von Strafgesetzen. Und das, während die Auswirkungen der internationalen Krise die arbeitenden Familien mit Arbeitslosigkeit, sinkenden Löhnen und Inflation hart treffen.

Darüber hinaus wurde dieser von den traditionellen Parteien völlig kontrollierte Verfassungsprozess mit einer Reihe von Beschränkungen versehen, die vor allem den Rechten zugutekommen. Die Regierungsprojekte der reformistischen Linken sind allesamt gescheitert, sodass ihre teils progressiven Versprechungen nicht nachhaltig umgesetzt wurden. Reformen bewirken keine Befreiung, da sie zurückgenommen werden können, wie etwa die Angriffe auf existierende Gesetze in den USA zeigen. Mit linksreformistischen Regierungen und Parteien werden wir keine Befreiung aus der Unterdrückung erleben. Diese reformistische Linke verbleibt letztlich stets im institutionellen Rahmen des Kapitalismus, insofern sie lediglich auf Reformen setzt oder auf mehr Sitze in den Parlamenten abzielt. Stattdessen brauchen wir eine Linke, die auf eine Arbeiter:innenregierung hinarbeitet und in der gegenwärtigen Situation eine konsequente sozialistische Opposition bildet. Wir müssen eine revolutionäre Partei aufbauen, die nicht für das geringere Übel, sondern den Sozialismus kämpft. Diese Unterscheidung ist auch angesichts dessen wichtig, dass beispielsweise die Linkspartei in Deutschland nicht nur immer weiter nach rechts rückt, sondern von Beginn an auf die Mitverwaltung des bestehenden Systems ausgerichtet war. Daher braucht es diese revolutionäre Kraft, die sich gegen jede sexistische und rassistische Spaltung stellt und dabei zugleich die Zentralität der Arbeiter:innenklasse anerkennt.

An dieser Stelle lohnt es sich abermals, auf Butler zurückzukommen. Denn Butler selbst vertritt diese Logik des geringen Übels. They gab etwa öffentlich an, für Hillary Clinton zu stimmen, auch wenn they ihren liberalen Feminismus und ihre Außenpolitik kritisch beurteile. Letzten Endes bedeutet eine Stimme für das geringere Übel aber nicht, das Übel stoppen zu können. Es sind die bürgerlichen Kräfte, zu deren Wahl Butler aufrief, die für die gegenwärtige Situation in den USA die Verantwortung tragen.

Queere Befreiung und Sozialismus

Doch wie würde unser Leben und queere Befreiung im Sozialismus eigentlich aussehen, warum sollten wir als Queers, als Arbeiter:innen und Studierende für den Sozialismus kämpfen?

In einem Essay über Butlers Theorien und die Grundlagen für einen queeren Marxismus schreibt Rosa Lee, Autorin beim Viewpoint Magazine:

Wir müssen die soziale und zeitliche Natur nicht nur des Geschlechts, sondern auch des geschlechtlichen Körpers in den Blick nehmen. Wir müssen unser intimes Verständnis dieser Art von Selbsttransformation, dieser Arbeit des Selbst, in unsere Theorie einbeziehen. Gesellschaftstheorie kann nicht losgelöst von den praktischen Kämpfen, den Freundeskreisen und den Allianzen existieren, auf die wir uns so oft verlassen. […] Wir sollten das Projekt des Übergangs zum Kommunismus in unserer Zeit – die Vergemeinschaftung – als einen Übergang zu einem neuen kommunistischen Selbst, zu neuen Formen des Seins und der Beziehung zueinander betrachten.9

Die Schlussfolgerung, welche sich in diesem Zitat ausdrückt, dass wir zu einem neuen sozialistischen Zusammenleben und Menschen kommen wollen, ist richtig. Tatsächlich beschäftigen sich Marxist:innen seit mehr als 100 Jahren mit der Dekonstruktion beziehungsweise der Rolle von Geschlechtern in unserer Gesellschaft. So schrieb Alexander A. Bogdanov 1907 in seinem Buch Roter Stern, einer Utopie über eine kommunistische Gesellschaft, die auf einem fremden Planeten entdeckt wird:

Scharen von großäugigen Kindern unbekannten Geschlechts – Jungen und Mädchen tragen die gleiche Kleidung. Auch bei den Erwachsenen lassen sich Männer und Frauen schwer an der Kleidung unterscheiden – im Wesentlichen ist sie gleich.

Eine wissenschaftliche und politische Auseinandersetzung finden wir etwa bei Leo Trotzki. Es waren die Bolschewiki, die Abtreibungen und Scheidungen legalisierten sowie die Homosexualität entkriminalisierten. Zudem begann der Staat, die vormals unbezahlte Arbeit von Frauen über öffentliche Kantinen und Kindertagesstätten zu bewerkstelligen. In Verratene Revolution konstatiert Trotzki dazu:

Die Revolution machte einen heldenhaften Versuch, den sogenannten ‚Familienherd‘ zu zerstören, das heißt, jene veraltete, beengende und starre Einrichtung, in der die Frauen der werktätigen Klassen von der Kindheit bis zum Tode wahre Zwangsarbeit leisten müssen. An die Stelle der Familie als geschlossener Kleinbetrieb sollte, so war es gedacht, ein vollendetes System öffentlicher Pflege und Dienste treten: Geburtshäuser, Krippen, Kindergärten, Schulen, öffentliche Kantinen, öffentliche Waschanstalten, Kliniken, Krankenhäuser, Sanatorien, Sportvereine, Kinos, Theater und so weiter. Die völlige Aufnahme der wirtschaftlichen Funktionen der Familie durch Einrichtungen der sozialistischen Gesellschaft, die die gesamte Generation in Solidarität und gegenseitigem Beistand eint, sollte der Frau und dadurch auch dem Ehepaar wirkliche Befreiung aus den tausendjährigen Fesseln bringen.10

Während wir als revolutionäre Feminist:innen für eine sozialistische Revolution und Gesellschaft kämpfen, vertritt Butler die Vision eines demokratischen Sozialismus, wie ihn beispielsweise Bernie Sanders verkörpert. In diesem Fall bedeutet Sozialismus aber nicht die Zerschlagung des bürgerlichen Staates und die Übernahme der Macht durch Arbeiter:innenräte, sondern eine Besitznahme des kapitalistischen Staates durch linke Kräfte. Durch einen Reformprozess soll der Staat dann seinen Klassencharakter verlieren. Wie wir an den Beispielen aus Chile, Griechenland, Brasilien und weiteren sehen können, ist dies aber eine strategische Sackgasse.

Für eine revolutionäre Strategie

Daraus resultierend können wir zusammenfassen: Nur die Arbeiter:innenklasse kann in diesem Prozess der Befreiung der Arbeiter:innen und aller Unterdrückten die führende Rolle spielen. Denn Klasse ist nicht einfach eine andere Form der Unterdrückung, sondern vielmehr eine Rolle in der kapitalistischen Produktion. Aus dieser strategischen Position heraus entsteht die Kraft, die grundlegenden Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft umstürzen zu können.

Um uns auf kommende revolutionäre Situationen vorzubereiten, müssen wir das enorme Potenzial der Einheit zwischen der Frauenbewegung, der Schwarzen Bewegung, der Jugend und unterdrückten Gruppen wie der LGBTIAQ+-Bewegung und den indigenen Völkern mit der Arbeiter:innenbewegung erkennen. Wir müssen die Gewerkschaften und Studierendenorganisationen von den herrschenden Bürokratien zurückerobern, um sie zu Instrumenten des Kampfes zu machen. Wir wollen dabei an die Erfolge, Niederlagen und Erfahrungen von Sozialist:innen aus vorherigen Generationen anknüpfen und von ihnen lernen. Unser Kampf für queere Befreiung ist geprägt von den Erfahrungen der deutschen Homosexuellenbewegung, der Rebellion der 68er bis hin zu den Mobilisierungen und Diskussionen der Gegenwart.

Die Befreiung von queeren Menschen erfordert einen unermüdlichen Kampf gegen alle Herrschaftsstrukturen – soziale Klassen, die Polizei und den kapitalistischen Staat – als Beitrag zum Aufbau einer neuen Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die durch Beziehungen zwischen frei assoziierten Arbeiter:innen definiert ist – der Kommunismus. Dies ist unsere Perspektive für die strukturelle Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus und der patriarchalen Unterdrückung. Doch dass wir den Kommunismus wollen, bedeutet auch, dass wir im Hier und Jetzt an der Universität, in den Betrieben und an Schulen Kämpfe führen müssen, um Angriffe auf unsere materielle Situation sowie unsere Rechte zurückzuweisen und Erfahrungen und Kräfte zu sammeln. Wir organisieren uns an den Universitäten für eine revolutionäre Jugend, die an der Seite der Arbeiter:innenklasse kämpft. Wir wollen mit Klasse Gegen Klasse, RIO (Revolutionäre internationalistische Organisation), Waffen der Kritik und KGK Workers einen Beitrag zum Aufbau einer revolutionären und feministischen Bewegung leisten, die den Kapitalismus und das Patriarchat aus den Angeln hebt.

Fußnoten

1. Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, Routledge, New York und London 1990. Deutsch: Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991.
2. Andrea D’Atri: Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalismus, Argument Verlag, Hamburg 2019, S. 205.
3. Ebd., S. 206.
4. Ebd., S. 207.
5. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 206.
6. Ebd., S. 203.
7. D’Atri: Brot und Rosen, S. 215 f.
8. Virginia Guitzel: Notes from Brazil, in: Jules Joanne Gleeson/Ellen O’Rourke (Hg.): Transgender Marxism, Pluto Press, London 2021, S. 116-132. Eigene Übersetzung.
9. Rosa Lee: Judith Butler’s Scientific Revolution: Foundations for a Transsexual Marxism, in: Jules Johanne Gleeson/Elle O’Rourke (Hg.): Transgender Marxism, Pluto Press, London 2021, S. 62-70. Eigene Übersetzung.
10. Leo Trotzki: Verratene Revolution, Mehring Verlag, Essen 2016, S. 169.

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