Die Geburt der Homosexuellen­bewegung und der Sozialismus in Deutschland

16.09.2023, Lesezeit 15 Min.
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Foto: Wellcome Library, London / Wikimedia Commons

An ihrem Anfang war die Homosexuellenbewegung in Deutschland eng mit dem Sozialismus verbunden. Aus Siegen und Niederlagen dieser Allianz gilt es zu lernen.

Zwar erwähnten Karl Marx und Friedrich Engels schon in manchen ihrer Schriften die Homosexualität neben Überlegungen zu Fragen des Geschlechts, der Sexualität oder Familie. Doch es sind die Positionen und Taten von Revolutionär:innen einige Jahre nach ihnen, die sich während der ersten Angriffe gegen LGBT-Personen in Europa zu organisieren begannen, die zuerst das Potenzial eines Bündnisses zwischen der LGBT-Bewegung und der revolutionären Linken aufzeigten.

Die Vorläufer der Homosexuellenbewegung in Europa und der Sozialismus

In Sexuality and Socialism (Sexualität und Sozialismus) zeichnet Sherry Wolf ein Porträt von Edward Carpenter, einem der ersten offen schwul lebenden Männer. Als englischer Sozialist, der in den 1870er Jahren einflussreich war und dem Anarchismus und englischen utopischen Sozialismus seiner Zeit entstammte, schrieb er bemerkenswerterweise über die Emanzipation der Frau und die Klassengesellschaft. Während Homosexualität illegal war, stellte Carpenter in seinen Schriften und öffentlichen Äußerungen eine Verbindung zwischen der repressiven Haltung der viktorianischen Epoche in Fragen der Sexualität und einem Wirtschaftssystem, das auf dem Wettbewerb fußt, her. Zusammen mit Karl Ulrichs verteidigte er die Auffassung, dass ein homosexuelles (oder „uranisches“, wie Ulrichs es damals nannte) Potenzial in jeder:m einzelnen vorzufinden sei.

Der deutsche Jurist Ulrichs ist der vielleicht bekannteste Vordenker der Homosexuellenbewegung. Sein Werk beinhaltet die größte Sammlung von Texten über die Homosexualität aus den 1860er Jahren. 1862 veröffentlichte er zum ersten Mal Schriften, die den Ausdruck „Urning“ gebrauchten. Dieses Konzept sollte schwule und lesbische Personen unter dem Begriff eines „dritten Geschlechts“ fassen, das bestimmt sein sollte durch das Vorhandensein eines weiblichen Geistes in einem männlichen Körper im Falle schwuler Männer und umgekehrt bei lesbischen Frauen. Ulrichs‘ Ideen mögen heute zwar überholt erscheinen und beruhten auf einer essentialistischen Vorstellung von Geschlecht und sexueller Orientierung, die psychologisch und biologisch vorbestimmt seien. Doch waren sie zu seiner  Zeit ein Fortschritt. Seine Vorstellungen blieben über Jahrzehnte einflussreich sowohl für die Anfänge der deutschen Homosexuellenbewegung als auch darüber hinaus in England und dem Rest Europas, vor allem wegen Ulrichs‘ Hartnäckigkeit: Trotz öffentlicher Angriffe und einer Zeit der Inhaftierung war er einer der ersten schwulen Männer, die ein öffentliches coming out vollzogen. Zudem schrieb er jahrzehntelang gegen anti-homosexuelle Gesetze an.

Ulrichs unterhielt einen regelmäßigen Briefwechsel mit Karl-Marie Benkert, einem deutschsprachigen Schriftsteller, der besser bekannt ist unter dem Pseudonym Karoly Maria Keterbeny und sich gleichfalls in den literarischen und philosophischen Kreisen von Karl Marx bewegte. Ihm wird nachgesagt, den Ausdruck „homosexuell“ erfunden zu haben. Im Jahr 1869 schrieb er einen offenen Brief an das preußische Justizministerium in Verteidigung der Rechte der Homosexuellen. Er war, wie Ulrichs, besorgt, dass ein Gesetz, das bis dahin in Preußen allein Gültigkeit besaß und männliche Homosexualität unter Strafe stellte, landesweite Gültigkeit im Norddeutschen Bund erlangen könnte. Er argumentierte in seinem Brief, dass die Französische Revolution und Napoleons Code civil in Frankreich bereits die Homosexualität entkriminalisiert hatte und ein Gesetz wie in Preußen ein Rückschritt in der Entwicklung Europas sei.

Der Kern seiner Argumentation bestand darin, dass die sexuelle Freiheit der Homosexuellen keinerlei Problem für die Gesellschaft als ganze darstellte. Er und manche seiner Zeitgenossen waren nämlich der Auffassung, dass Homosexualität angeboren und natürlich sei, im Gegensatz zur damals vorherrschenden Vorstellung von Homosexualität als einer „Perversion“. Seine Absicht war, die konservative Mehrheit und Institutionen davon zu überzeugen, dass keinerlei Gefahr einer „Ansteckung“ mit Homosexualität bestünde. Solche Sorgen klingen heute immer noch in LGBT-feindlicher Panikmache und entsprechenden Argumentationen an. Der zweite Teil seiner Argumentation zielte darauf, die Respektabilität homosexueller Persönlichkeiten in der Geschichte zu beweisen. So arbeitete er eine lange Liste historischer und literarischer Figuren aus, die homosexuell gewesen seien, von Shakespeare bis zu einigen englischen Königen, um das Justizministerium von jederlei Projekt zur Inhaftierung Homosexueller abzuhalten.

Diese Betonung der Respektabilität und der Wunsch, Konservative und Reaktionäre zu überzeugen, ist ein Motiv, das sich nicht nur bei den Vordenkern, sondern auch noch in den Anfängen der späteren Homosexuellenbewegung vorfand. Darüber hinaus kann man in den Beiträgen von Benkert oder Ulrichs auch bereits Anfänge von Überlegungen feststellen, die die Logik der „guten Sitten“ später einmal in Frage stellen würden. Auf Grundlage des damaligen Standes der Wissenschaften versuchten sie, die wissenschaftliche Inkohärenz der Vorurteile der bürgerlichen Moral aufzuzeigen. Nachdem er diese Inkohärenz bewiesen hatte, zeigte Benkert die sozialen Funktionen der Homosexuellenverfolgung auf: Weil ihre Verfolgung weder wissenschaftlich noch natürlich begründet war, musste es sich um ein soziales und politisches Phänomen handeln mit dem Ziel, der Gesellschaft Sündenböcke zu verschaffen.

In Deutschland entwickelten sich also die Anfänge dessen, was später das theoretische Fundament der Homosexuellenbewegung werden würde. Zur gleichen Zeit lief in England der Prozess gegen Oscar Wilde, der zum Ausdruck der Verfolgung schwuler Männer in Europa werden und die Notwendigkeit einer Bewegung für die Rechte der Homosexuellen aufzeigen würde.

Eduard Bernstein veröffentlichte in der SPD-Zeitung Neuer Weg einen Artikel zur Verteidigung von Oscar Wilde. Als Anführer und Theoretiker der SPD führte Bernstein in diesem langen Artikel in zwei Teilen eine materialistische Kritik der bürgerlichen Sexualnormen und der zugrunde liegenden Moral aus. Er erklärte seine Logik wie folgt:

Von so untergeordneter Bedeutung für den ökonomischen und politischen Kampf der Sozialdemokratie das Thema des Geschlechtslebens nun auch gehalten werden mag, so ist es darum doch nicht überflüssig, auch in Bezug auf diese Seite des sozialen Lebens einen Maßstab der Beurtheilung zu finden, der, statt auf mehr oder weniger willkürlichen Moralbegriffen, auf wissenschaftlicher Erkenntnis und Betrachtungsweise beruht. Die Partei ist heute stark genug, auf die Gestaltung des geschriebenen Rechts einzuwirken, sie hat durch ihre Redner und ihre Presse Einfluß auf die öffentliche Meinung auch über die Kreise ihrer Anhänger hinaus und damit eine gewisse Verantwortung für das, was heute schon geschieht. So soll denn in Nachstehendem ein Versuch gemacht werden, einer solchen wissenschaftlichen Betrachtungsweise des Problems den Weg zu ebnen.

In seinem Artikel plädiert er für ein historisches und soziales Verständnis der Sexualität im Gegensatz zur absoluten, idealistischen und psychiatrischen Vorstellung der Konservativen, die er als „reaktionär“ beschreibt. Diese Position war eine Neuheit in der damaligen Epoche und stellt die fortgeschrittenste Analyse der Sexualität und höchstentwickelte politische Positionierung der sozialistischen Bewegung zu jener Zeit dar.

Die Anfänge der Homosexuellenbewegung: das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee

Im Jahr 1871 trat das Gesetz, um das  sich Ulrichs und Benkert gesorgt hatten, ohne Debatte in Kraft und wurde Teil des Strafgesetzbuches des Deutschen Kaiserreichs. Es handelte sich dabei um den Paragraphen 175, der „widernatürliche Akte“ kriminalisierte, was in der damaligen Rechtsprechung jede Art sexueller Handlung zwischen zwei Männern bedeutete. Nach den Briefen Benkerts, Ulrichs‘ Bemühungen und dem Inkrafttreten des Gesetzes brauchte es über 20 weitere Jahre bis zum Beginn einer echten Homosexuellenbewegung in Deutschland.

Zwei Jahre nach Ulrichs‘ Tod gründete Magnus Hirschfeld im Jahr 1897 das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee. Der Mediziner und SPD-Aktivist führte während dessen Haft einen Briefwechsel mit Oscar Wilde. Er blieb die Hauptfigur des Komitees während dessen ganzem 35-jährigen Bestehens. Das Komitee setzte sich zum Ziel, die gesetzgebenden Organe für die Abschaffung des anti-homosexuellen Paragraphen des deutschen Strafgesetzes zu gewinnen. Außerdem wollten sie die Öffentlichkeit über die Homosexualität aufklären und die Homosexuellen selbst zum Kampf für ihre Rechte bewegen.

Um seine Ziele zu erreichen, konzentrierte sich das Komitee einerseits darauf, Abgeordnete durch Diskussionen, offene Briefe und wissenschaftliche Schriften zu überzeugen. Andererseits setzte es darauf, seine Vorstellungen einer großen Öffentlichkeit darzulegen, vor allem durch Konferenzen, öffentliche Reden, meistens von Hirschfeld gehalten, und durch die regelmäßige Herausgabe von Zeitschriften. Die Haupttätigkeit des Komitees bestand jedoch in einer Petition, für die es über mehrere Jahre Unterschriften einflussreicher Persönlichkeiten gegen den Paragraphen 175 sammelte.

Die SPD hat diese Petition von Anfang an mit angetrieben. August Bebel, ein Anführer der damaligen SPD, hielt 1898 eine Rede im Reichstag, um die anderen Abgeordneten zur Unterschrift zu bewegen. Außer aus den Reihen der SPD wurde Bebel daraufhin vom Rest der Abgeordneten ausgepfiffen. Dann zog Bebel das Gesetz ins Lächerliche, indem er erklärte, dass man mindestens „zwei neue Gefängnißanstalten zu bauen“ hätte, wenn die Polizei auch nur in Berlin das Gesetz ernsthaft durchsetzen würde, weil die Homosexualität „Tausende von Personen aus allen Gesellschaftskreisen“ betreffe. Bebel richtete sich damit gegen Gemeinplätze der bürgerlichen Moral, die damals annahm, Homosexualität sei ein seltenes und mysteriöses Phänomen, das nur einige wenige „abweichende“ Individuen beträfe.

Der letzte Teil der Tätigkeit des Komitees zu jener Zeit war die wissenschaftliche Forschung. Noch vor den Forschungen Kinseys, die später die allgemeine Referenz zur Kategorisierung sexueller Verhaltensweisen werden würden, unternahm Hirschfeld 1903 erste statistische Untersuchungen zur Homosexualität. Die Studie, die man heute nichtsdestotrotz für methodisch und inhaltlich fragwürdig halten kann, basierte auf einem Fragebogen, der 3.000 Studierenden der Universität Charlottenburg und 5.721 Metallarbeiter:innen geschickt wurde. Bei der Veröffentlichung der Studie legten ein protestantischer Pfarrer und sechs Studenten Beschwerde gegen Hirschfeld ein. Daraufhin wurde er zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er, laut dem Gericht, riskierte, „perverse Neigungen“ bei jungen Männern zu bestärken. Und das, obwohl keine:r der über 5.000 befragten Arbeiter:innen sich geschädigt fühlte, wie Hirschfelds Anwalt interessanterweise unterstrich.

Im Jahr 1905 stellt das Komitee in einer seiner Veröffentlichungen fest, dass es eine seiner wesentlichen Aufgaben erfüllt habe, nämlich die Frage der Homosexualität öffentlich sichtbar zu machen:

Eins ist erzielt und es ist nicht das geringste. Die Periode des Totschweigens, der Nichtbeachtung ist vorüber, endgültig vorbei, wir befinden uns mitten in der Periode der Diskussion. Die homosexuelle Frage ist eine wirkliche Frage geworden, die lebhaft erörtert wird und so lange erörtert werden wird, bis sie ihre Lösung in befriedigender Weise gefunden hat.1

Die bürgerliche Presse wandte sich in großem Stil dieser Frage zu, die nun in den größten Zeitungen des Landes diskutiert wurde. Das Komitee zählte 1908 mehr als 5.000 schwule Männer, die in irgendeiner Weise an den Aktivitäten des Komitees teilgehabt hatten. Im Reichstag lässt die SPD von ihrem Kampf gegen den Paragraphen 175 nicht ab und partizipiert an den Bemühungen des Komitees. Adolf Thiele, ein Abgeordneter der SPD, denunziert den Paragraphen als Beispiel von „pfäffischer Rohheit und Unduldsamkeit“, das „erinnert an die Zeit des Mittelalters, an jene Zeit, wo die Hexen verbrannt, die Ketzer gefoltert wurden und mit Rad und Galgen gegen Andersdenkende vorgegangen wurde“2.

Im Jahr der Reichstagswahl von 1907 schickte das Komitee erstmals Fragebögen an Kandidaten, in denen es Fragen zu deren Positionen zu Homosexuellenrechten stellte. 20 Antworten kamen zurück. Bei der nachfolgenden Wahl waren es schon 97 Antworten, von denen nur sechs die Forderungen des Komitees ablehnten. Von diesen 97 wurden 37 schließlich gewählt, davon 24 Mitglieder der SPD, die immer eine der stärksten Kräfte für die Rechte der Homosexuellen war.

Der Niedergang der SPD und der Zerfall der Homosexuellenbewegung

Der Erste Weltkrieg stellte den ersten großen Schlag gegen das Komitee dar. Die SPD ordnete sich der deutschen Bourgeoisie unter und entschied, einen reaktionären Krieg zu unterstützen, was den Bruch vieler Sozialist:innen, die bis dahin in der Partei gearbeitet hatten, vorbereitete. Genauso wenig entkam das Komitee dem Druck des erstarkenden Patriotismus. Ihre Schriften vermischten idealistische Friedensappelle mit patriotischen Texten zur Unterstützung der „deutschen Sache“ und mit „tiefem Mitgefühl mit unseren Brüdern, die an der Front sind“. Hunderte Aktive des Komitees und tausende Unterstützer:innen zogen in den Krieg, in dem viele von ihnen fielen.

1915 schrieb das Komitee in einer seiner Zeitschriften: „Vorbereitet müssen wir allerdings auf alle Eventualitäten sein und sind es. Notwendig ist es nur, daß das Komitee durchhalten kann und am Platze ist, wenn nach dem hoffentlich baldigen siegreichen Ende des Krieges die inneren Reformbestrebungen ihre Tätigkeit wieder aufnehmen, und damit auch der Kampf um die Befreiung der Homosexuellen wieder beginnt.“3

Ein frommer Wunsch, der sich trotz eines Aufschwungs der Aktivitäten des Komitees in den 1920er Jahren nicht erfüllte. Der Aufstieg der Nazis drängte die Fortschritte vom Anfang des Jahrhunderts zurück und das Komitee befand sich, ohnmächtig, bis zur endgültigen Flucht Hirschfelds vor der Verfolgung der Nazis im Niedergang. Der Paragraph 175 wurde erst viel später nach einem neuen Aufleben des LGBT-Bewegung schließlich aufgehoben: 1968 in der DDR und 1994 in der BRD.

Für die SPD bedeutete der Erste Weltkrieg einen endgültigen Bruch mit revolutionären Vorstellungen. Die Idee einer schrittweisen Veränderung der Gesellschaft, genährt durch die Institutionen der bürgerlichen Demokratie, war jedoch schon in der Art und Weise angelegt, wie die von Bernstein geführte SPD den Kampf um sexuelle Befreiung betrachtet hatte: trotz richtiger Reden im Reichstag und einer zu ihrer Zeit ungekannten Analyse der Sexualität sind diese Konzepte nie bis ins Bewusstsein der Arbeiter:innen der SPD-Basis vorgedrungen. Das öffnete die Tore für manche homophoben Auswüchse im Herzen der SPD, die in ihren Veröffentlichungen (wie auch andere linke Kräfte) versuchte, die Homosexualität mancher hoher Nazifunktionäre im Kampf gegen den Nationalsozialismus einzusetzen.

Nach dem Verrat der SPD zu Kriegsbeginn wurde die Fackel des revolutionären Kampfes für die sexuelle Befreiung von der bolschewistischen Partei wieder aufgenommen. 1917, zwei Monate nach der Revolution, wurde Russland das erste Land der Welt, das Homosexualität entkriminalisierte.

Dieser Artikel erschien zuerst bei unserer französischen Schwesterorganisation Révolution Permanente.

Fußnoten

1. o.A.: Jahresbericht 1904-1905, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen unter besonderer Berücksichtigung der Homosexualität, Jahrgang 7, Band 2 (1905), S. 949-1067, hier: S. 952.
2. Adolf Thiele: 177. Sitzung des Deutschen Reichstags, in: Deutsches Reich, Reichstag: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. Band 8, Norddeutsche Buchdruckerei und Verlagsanstalt, Berlin 1905, S. 5811-5843, hier: S. 5827.
3. o.A.: Das W.-.h. Komitee zur Kriegszeit, in: Vierteljahresberichte des Wissenschaftlich-humanitären Komitees während der Kriegszeit, Band 15 (April 1915), S. 3-35, hier: S. 34.

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