Chile: „Feministische“ Regierung blinkt links, biegt aber rechts ab

18.05.2022, Lesezeit 10 Min.
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Quelle: Wikimedia Commons

Eine Bilanz der ersten zwei Monate der Regierung von Gabriel Boric in Chile.

„Für die, die nicht hier sind, für die, die in Angst weiter gemacht haben, und für die, die kommen werden. Wir gedenken weiter, damit in Chile nie wieder Menschenrechte verletzt werden und die Täter nicht ungestraft bleiben.“ Diesen Anspruch formulierte Gabriel Boric, Chef der linksreformistischen Frente Amplio (FA, „Breite Front“), kurz vor der Präsidentschaftswahl in Chile im letzten Jahr. Boric wurde schließlich zum jüngsten Präsident Chiles gewählt. In seinem Wahlkampf gemeinsam mit der stalinistischen Kommunistischen Partei Chiles (KPCh) betonte er die Notwendigkeit, die chilenische Politik zu erneuern, das Erbe der Pinochet-Diktatur endlich hinter sich zu lassen und ganz nebenbei die extreme Rechte an der Wahlurne zu stoppen. Boric nahm sich vor, das „Erbe“ von Salvador Allende wieder aufzunehmen. Ihm gelang es so, große Erwartungen bei weiten Teilen der Arbeiter:innen, Studierenden und den armen Sektoren Chiles zu wecken. Heute, zwei Monate nach Amtsantritt seiner Regierung, ziehen wir eine erste Bilanz der Amtszeit.

Die erste „feministische“ Regierung Lateinamerikas: alter Wein in neuen Schläuchen

Etwas mehr als zwei Monate nach dem Amtsantritt von Gabriel Boric deutet wenig darauf hin, dass sich das politische und soziale Gefüge in Chile wesentlich verändert hat. Ausbeutung und Arbeitsplatzunsicherheit gehen weiter, Menschenrechtsverletzer:innen behalten ihre Posten, die Klassenzimmer zerfallen weiter, und die jungen Arbeiter:innen und Arbeitslosen, die für ihre Rechte kämpfen, sind wieder einmal in Trauer. Diesmal war eine Frau an der Reihe, die erste Journalistin, die unter der selbsternannten feministischen Regierung Chiles unter den mörderischen Kugeln einer Gruppe Deklassierter fiel. Francisca Sandoval Astudillo, eine junge Frau, Mutter und Journalistin, arbeitete für ein unabhängiges Medium und berichtete über den Marsch der Arbeiter:innen am 1. Mai im Rahmen des Internationalen Tages der Arbeit. Sie wurde durch eine Kugel im Gesicht schwer verletzt, als eine Art Stoßtrupp von deklassierten Sektoren und Drogenhändlern die Demonstrierenden mit Stöcken, Macheten und Pistolenschüssen angriff und dabei von der Polizei geschützt wurde. Ihr Angriff verursachte vier Verletzungen unterschiedlichen Grades. Am 12. Mai erlag Francisca ihren Verletzungen, die Boric und die Führung der KPCh auf die „Gewalt“ – im Allgemeinen – zurückführen.

Die Regierung Boric inszeniert sich als Architektin des Wandels, ohne etwas Substanzielles zu verändern. Sie schlägt lediglich kosmetische, unnütze oder ablenkende Reformen vor, um die sozialen und wirtschaftlichen Privilegien des transnationalen und chilenischen Kapitals aufrechtzuerhalten. Die Signale, die diese „fortschrittliche Regierung“ ausgesendet hat, stehen eher für institutionelle, politische und wirtschaftliche Kontinuität als für einen Bruch mit dem imperialistischen und lokalen Kapital, wie es die symbolträchtigsten Maßnahmen von Salvador Allende mit der Verstaatlichung der Kupferindustrie waren. So haben die Mitglieder von FA und PS (die Partei Allendes) innerhalb des Verfassungskonvents gegen eine umfassende Überarbeitung der Bergbaurechte abgestimmt, die auch eine Ausweitung des chilenischen Staatseigentums vorsah.

In diesem Kontext ist auch die Politik der KPCh zu betrachten, die es ablehnte, dass Arbeiter:innen erneut das Recht erhalten, als Notfallmaßnahme Geld aus den privaten Rentenfonds zu entnehmen, und damit eine Kehrtwende um 180 Grad vollzog. Camila Vallejo, eine weitere ehemalige Figur der KP aus der Studierendenbewegung und jetzige Sprecherin der Regierung, rechtfertigte die Ablehnung mit dem klassischen neoliberalen Argument, dass „wir die Entnahmen aus dem Rentenfonds als Notfallmaßnahmen verstanden und unterstützt haben, aber heute ist die Pandemie nicht in ihrem kritischsten Moment, und wir wollen nicht mit internen Maßnahmen dazu beitragen, dass die Wirtschaft überhitzt“. Dies widerspricht jedoch der bitteren Realität, die Millionen von Menschen aufgrund der steigenden Inflation (die bereits 9,4 Prozent erreicht hat), der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit und anderer Auswirkungen der Pandemie erleben.

Kriminalisierung, Repression und politische Verantwortung

Die Situation der Gefangenen des Aufstandes ist ebenfalls weiterhin ein Zankapfel. Mindestens 77 der rund 2.000 Personen, die im Zusammenhang mit den Unruhen ab Oktober 2019 festgenommen wurden – die meisten von ihnen junge Menschen ohne Vorstrafen –, sitzen wegen „Verbrechen“ in Untersuchungshaft, die von der Polizei selbst oder von Provokateur:innen (im Rahmen der Proteste) begangen wurden. Darunter fallen Vorwürfe wie das Werfen von Brandbomben, Randale, Brandstiftung oder Plünderungen.

Der fortschrittliche Boric hat sich jedoch bisher nicht für die Begnadigung politischer Gefangener eingesetzt, wozu er als Präsident das Recht hätte, und hält damit die Familien dieser jungen Menschen in Atem, obwohl er alle Möglichkeiten hat, diese Maßnahme durchzuführen. Er hat sich auf Gesten und Einladungen an die Familien der politischen Gefangenen beschränkt, und einige Regierungsmitglieder behaupten zwar, das Begnadigungsgesetz zu unterstützen, aber bisher handelt es sich dabei um Erklärungen des guten Willens ohne konkreten Inhalt. Im Gegenteil, die derzeitige Regierung ist, wie schon die neoliberale Regierung Piñeras, weiterhin Klägerin in den offenen Verfahren gegen die Demonstrierenden der Rebellion 2019. Um jeden Zweifel zu beseitigen, auf wessen Seite sich die Regierung stellt, behielt die Regierung Borics dieselben Staatsanwälte, die noch aus dem Innenministerium von Piñera stammen.

Als ob dies nicht genug wäre, ist die Situation im Verfassungskonvent, der ein direktes Produkt des Oktoberaufstandes und somit ein Stein im Schuh der Bourgeoisie ist, auch nicht besonders ermutigend. So lehnte beispielsweise die Justizkommission des Verfassungskonvents die Volksinitiative für die Freilassung der Gefangenen des Aufstands ab, die mit rund 17500 Unterschriften eingereicht worden war. Das Veto wurde durch das negative Votum von Abgeordneten der ehemaligen Regierungsparteien der Concertación und die Enthaltung eines Abgeordneten von Borics Regierungskoalition, Apruebo Dignidad, ermöglicht.

Gleichzeitig legt die Regierung eine harte Politik gegenüber den gegenwärtigen Demonstrationen an den Tag, einschließlich der Androhung von Repressionen und der Stigmatisierung von Studierenden und Arbeiter:innen, die auf die Straße gehen, um zu kämpfen. Ziel ist es, die Kämpfe zu isolieren und die radikalsten Sektoren, die vorderste Front, als „gewalttätige Leute, die der Rechten in die Hände spielen“ zu stigmatisieren, um ein Klima zu schaffen, das schrittweise Reformen begünstigt, die nichts am derzeitigen System der Ausbeutung und Ausplünderung ändern.

So wurde in diesen zwei Monaten der Regierung der Frente Amplio und der Kommunistischen Partei nicht nur die erste Journalistin in der postpinochetistischen Demokratie ermordet, sondern sie zeigt auch ihre „Verantwortung“ für die bürgerliche Institutionalität, indem sie die von Piñera durchgeführte Militarisierung der Grenzen aufrecht erhält – die den Streitkräften größere polizeiliche Befugnisse zur Unterdrückung von Migrant:innen einräumt. Die gleiche Verstärkung des Repressionsapparats wird genutzt, um kämpfende Arbeiter:innen eines Subunternehmens der Ölgesellschaft Enap im Süden des Landes zu räumen, denn „man muss sich um das Wohl der Bürger kümmern“ (Innenministerin Siches) und um Studierenden- und Schüler:innendemonstrationen zu unterdrücken, denn „wer keine Argumente hat, wirft mit Steinen“ (Camila Vallejo).

Am skandalösesten ist jedoch, dass die Regierung kaum zwei Monate nach Amtsantritt das Versprechen gebrochen hat, keine weitere Militarisierung und Repression im Süden des Landes gegen die Mapuche-Gemeinschaft durchzusetzen: Angesichts von Protesten der indigenen Mapuche erließ die Regierung Boric an diesem Montag einen militärischen Ausnahmezustand.

Und was nun?

Gabriel Boric und sein Kabinett halten an der neoliberalen Wirtschaftspolitik fest und vermeiden es, die Steuerausgaben zu erhöhen. Sie versuchen, den Arbeiter:innen zu signalisieren, dass einige „Reformen“ zugunsten des „Volkes“ durchgeführt werden, und wollen die Unzufriedenheit eindämmen, indem sie an die Geduld und das Engagement für das Programm appellieren.

Ihr Handlungsspielraum wird jedoch durch die wachsende Unzufriedenheit, die ihre Politik in der Bevölkerung hervorruft, eingeschränkt, und sie muss sich um die Unterstützung der politischen Sektoren bemühen, die mit der Wirtschaft und dem neoliberalen Establishment verbunden sind. Letztere wirken immer mehr auf die Exekutive ein, die sich „gezwungen“ sieht, sich der von diesen Sektoren geforderten Sparpolitik zu unterwerfen, und die mit der Möglichkeit einer weiteren Einschränkung des verfassungsgebenden Prozesses liebäugelt, um jegliche „Ecken und Kanten“ einzugrenzen, die der Elite Unbehagen bereiten könnten.

Millionen von Menschen machen heute die Erfahrung mit dem reformistischen Progressismus in Chile, der abgesehen von seinem feministischen und integrativen Narrativ nichts als Leid und Elend für Millionen von Menschen bedeutet. Der Triumph von Boric und seiner Koalition war das Ergebnis einer Ablenkung des Kampfes, der mit der sozialen Explosion im Oktober 2019 begonnen hatte, von der Straße und den Betrieben an die Wahlurnen. Es ist notwendig, diesen Weg wieder aufzunehmen, um der Ausbeutung und dem Elend, zu dem der Kapitalismus uns verdammt, ein für alle Mal ein Ende zu setzen.

Die Sekundärschüler:innen Chiles wollen nicht noch 30 Jahre warten. So wie sie gegen Piñera und Bachelet für ihre Forderungen auf die Straße gingen, tun sie es nach wie vor. Dafür bekommen sie die ganze polizeiliche Brutalität zu spüren, wie ebenso das Mapuche-Volk oder die outgesourcten Raffineriearbeiter:innen des staatlichen Konzerns Enap.

Heute sind es wieder die politischen Kinder der Concertación, die sich bereit erklärt haben, den bürgerlichen Staat zu verwalten. Sie sind nun die Verantwortlichen der Repression und der Toten durch Polizeigewalt. 2011 schrieb Camila Vallejo noch, dass die Lösung der großen Probleme der Massen nicht durch einen personellen Wechsel innerhalb der staatlichen Institutionen gelöst werden können, „sondern dass es immer diese demokratischen Institutionen waren, die das Problem waren.“ Heute haben sowohl die Frente Amplio als auch die KPCh die Seiten gewechselt. Jeder Protest, jeder Streik, jede Barrikade stellt die Regierung der Kontinuität von Boric und Co. in Frage, denn sie avancieren zur Verwalterin der kapitalistischen Misere. Die Regierung antwortet, wie Piñera oder Bachelet, mit Repression und Mord. Wie die Erfahrung in Chile zeigt, sobald linke Kräfte sich anschicken, eine bürgerliche Regierung zu verwalten, werden sie zum Handlanger des Kapitals. So ist es in Deutschland mit der Linkspartei gewesen, zum Beispiel in Berlin, oder im Spanischen Staat mit Juntas Podemos. Es ist an der Zeit, eine neue revolutionäre Alternative aufzustellen, die sich den Sturz der Herrschaft des Kapitals auf die Fahnen schreibt, hier und überall!

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