Argentinien: Sogar Ballet-Tänzer*innen leisten Widerstand gegen Entlassungen

08.02.2018, Lesezeit 6 Min.
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Nach dem “heißen Dezember” – als Tausende gegen die neoliberale Rentenreform der Regierung protestierten – führet der rechte Präsident Mauricio Macri seinen Kürzungskurs fort. Doch die Zustimmungsrate der Regierung sank um zehn bis 15 Punkte. Der Widerstand nimmt zu.

Noch im Oktober, als die rechte Regierungskoalition Cambiemos bei den Parlamentswahlen ihre Position befestigen konnte, sprachen linksliberale Journalist*innen von der “neuen Hegemonie” Macris. Trotz mehrerer Skandale – darunter der Mord an Santiago Maldonado oder das Auftauchen von Macri in den Panama Papers – schaffte er es, seine Macht in der Legislatur zu verstärken.

Kurz nach den Wahlen begann die Regierung jedoch, Pläne für tiefgehende Kürzungen öffentlich zu machen: Eine umfassende Rentenreform, ein Finanzausgleich mit den Provinzen zugunsten des Nationalstaats und eine Arbeitsmarktreform wie die Agenda 2010.

Die Inflationsrate des argentinischen Pesos ist hoch, das Wirtschaftswachstum ist schwach und die Staatsschulden nehmen zu. Durch die Senkung von Subventionen will Macri das Land für ausländisches Kapital attraktiver machen und den lang ersehnten „Investitionsregen“ anziehen.

Die Rentenreform sollte fünf Milliarden Euro bei Rentner*innen und Bezieher*innen von Kindergeld einsparen. Um das durchzusetzen, benötigte Cambiemos Verbündete. Nicht nur rechte Abgeordnete haben für die Kürzungen gestimmt: Auch von Abgeordneten des oppositionellen Peronismus kam Unterstützung.

Die Mitte-Links-Opposition unter der Ex-Präsidentin Cristina Kirchner (Teil des Peronismus) befand sich in einer Sackgasse. Ihr Ziel ist ein Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2019. Das kann Kirchner nur mit den Stimmen von linksliberalen und progressiven Arbeiter*innen und Jugendlichen erreichen – aber gleichzeitig benötigt sie die peronistischen Apparate, und diese paktieren gerade mit Macri. Das Resultat aus diesem Zwiespalt war eine rein verbale Ablehnung der Reformen, ohne jede Mobilisierung, die die Reform tatsächlich verhindert hätte.

Am 14. und 18. Dezember änderte die Arbeiter*innenklasse das politische Klima: Mit Straßensperren rund um das Parlament verhinderte sie die Abstimmungen über die Reform. Dabei hatten weder die Gewerkschaften noch der Kirchnerismus zum Streik aufgerufen. Die Polizei führte eine Gewaltorgie durch, um den Diebstahl an 17 Millionen Personen durchzusetzen. Das Ergebnis waren mehrere politische Gefangene sowie schwerverletzte Demonstrant*innen.

Seitdem geht der Wert der Regierung in Umfragen bergab – die Rentenreform war ein Pyrrhussieg. Macri vermag es nicht, die Spannungen zwischen den Klassen und innerhalb der herrschenden Klasse selbst abzubauen. Die Gewerkschaftsbürokratien sind durch die Unzufriedenheit ihrer Basis dazu gezwungen, etwas kämpferischer aufzutreten. Die Regierung wirft den Bürokrat*innen wiederum vor, eine korrupte Mafia zu sein. Jedoch, wie das bürgerliche Blatt Clarín warnt, darf sie nicht zu weit gehen mit der Delegitimierung der Gewerkschaftsbürokratien, da „es für den Trotzkismus keinen besseren Nährboden geben kann“.

Der nächste große Schritt Macris hin zum „Invesitionsregen“ ist die Arbeitsmarktreform. Denn die Löhne in Argentinien sind für lateinamerikanische Verhältnisse relativ hoch. Aufgrund der massenhaften Proteste im Dezember wird die Regierung wohl bis März warten, um diese durchzusetzen. Doch Entlassungen im öffentlichen Dienst und Angriffe gegen die Gewerkschaften laufen jetzt schon.

Widerstand im ganzen Land

Im Norden des Landes, in der ländlichen Provinz Jujuy, kam es zu Entlassungen in den Zuckerfabriken. Dadurch ist die Existenz von fast 500 Familien bedroht. An Heiligabend nahm die Polizei Streikende fest.

Im extremen Süden, in Santa Cruz, wurden über 800 Erdölarbeiter*innen entlassen, auch Betriebsräte wurden illegal gekündigt. 40 Arbeiter*innen traten tagelang in einen Hungerstreik. In der gleichen Provinz kämpfen 500 Minenarbeiter*innen um ihre Arbeitsplätze, mehrere junge Arbeiter sperrten sich letzte Woche in einem Schacht ein.

In der Provinz und der Stadt von Buenos Aires, in denen zusammen über ein Drittel der Bevölkerung lebt, gab es tausende Entlassungen im öffentlichen und im privaten Sektor.
Der Kultusminister Pablo Avelluto entschloß, die Finanzierung des Nationalballetts abzubrechen. Somit wurden 80 Tänzer*innen, Techniker und andere Angestellte entlassen, die das öffentliche Programm des „Tanzes für die Integration“ durchführten, dass Menschen ohne Zugang zu Kultur und Bildung die Möglichkeit gab, Tanzkurse zu nehmen und sich Vorstellungen anzusehen.

Die Sprengstofffabrik Fabricaciones Militares schloß von einem Tag auf den anderen und ließ 200 Arbeiter*innen auf der Straße. Neu hierbei ist, dass diese massive Solidarität von der Bevölkerung erhielten. Mehrere Tausend liefen auf einer Solidemo mit.

Im Krankenhaus Alejandro Posadas im Westen des Ballungsraums von Buenos Aires wurden 122 Angestellte gefeuert, wobei 600 weitere Entlassungen in Planung sind. Unter ihnen waren schwangere Krankenpflegerinnen, Angestellte mit über 15 Jahren im Betrieb und die einzige Technikerin für Krebspatient*innen. Trotz der Versuche seitens der Gewerkschaftsbürokratie, den Konflikt zu isolieren, führen die Entlassenen einen beispielhaften Arbeitskampf, mit Unterstützung der Patient*innen und linker Organisationen.

Bemerkenswert bei den Entlassungen ist, dass sie gezielt die Arbeiter*innen treffen, die gewerkschaftlich und politisch aktiv sind. Aber auch deswegen trifft fast jede Entlassung auf Widerstand. Seit Dezember hat sich etwas im Bewusstsein der Lohnabhängigen getan, und das steht im Zusammenhang mit der Legitimationskrise der Regierung.

Wie wird es weitergehen?

Die schwierige wirtschaftliche Situation, in der Argentinien steckt, wird die Regierung nicht ohne großen Widerstand lösen können. Die Arbeitsmarktreform muss früher oder später durchgesetzt werden, um auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu bleiben. Genauso geschah es im letzten Jahr in Frankreich und Brasilien. Dies ist jedoch eine kolossale Aufgabe. Die Gewerkschaftsbürokratie muss die Reformen mittragen, aber in diesem Fall wird ein weiteres Erstarken der trotzkistischen Linken befürchtet.

Die trotzkistische Linke steht vor einer nicht weniger kolossalen Aufgabe: zu verhindern, dass die Kosten der Krise auf die Arbeiter*innen abgewälzt werden. Den Angriffen des Kapitals müssen basisdemokratisch organisierte Kämpfe entgegengesetzt werden. Noch sind die Angriffe vereinzelt, aber bald wird es auch eine allgemeine Offensive geben. Die Arbeitskämpfe müssen verbunden werden. Wenn sich die Krise verschlimmert, muss klar sein, wer die nächsten Kürzungen stoppen kann: nicht der Peronismus und nicht die mafiösen Gewerkschaftsbürokrat*innen. Nur die organisierte Arbeiter*innenklasse kann eine Einheitsfront mit den Studierenden, den Frauen und der armen Bevölkerung anführen.

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