99 Jahre nach der Oktoberrevolution: „Atlas des Kommunismus“ im Gorki Theater

15.10.2016, Lesezeit 6 Min.
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Mai-Phuong Kollath, Jana Schlosser, Monika Zimmering, Tucké Royale, Matilda Florczyk in "Atlas des Kommunismus" von Lola Arias und Ensemble, Regie Lola Arias, Bühne Jo Schramm, Kostüme Karoline Bierner, Video Mikko Gaestel, Musik Jens Friebe, Dramaturgie Aljoscha Begrich

Lola Arias und Ensemble wollen mit persönlichen Geschichten den Blick auf „den Kommunismus“ weg von Hass auf die DDR und Stalin lenken. Am Ende stehen spannende Geschichten und gute Musik – nur die politische Aussage ist im Produktionsprozess verloren gegangen.

Am Maxim Gorki Theater in Berlin feierte vergangenen Samstag „Atlas des Kommunismus“ Premiere. Im Rahmen des zweiwöchigen Festivals „uniting backgrounds – Theater zur Demokratie“ präsentiert Lola Arias ihre neueste Produktion. Die argentinische Schriftstellerin und Regisseurin ist dafür bekannt, autobiographische Geschichten mit Laiendarsteller*innen auf die Bühne zu bringen im Stile von Rimini Protokoll. So beschäftigte sie sich zum Beispiel mit dem Leben von Menschen nach der argentinischen Militärdiktatur in „Mi vida después“. Auch das Ensemble von „Atlas“ hat mehrheitlich keine Bühnenerfahrung.

Gemeinsam mit sieben Frauen und einem sich als queer bezeichnenden Mann zwischen 9 und 85 Jahren nimmt sie das Publikum mit auf eine Reise durch die Geschichte des Kommunismus seit 1937. Ehemalige Stasimitarbeiterin trifft auf Punkerin, Aktivistin vom Oranienplatz trifft auf vietnamesische Gastarbeiterin. Die Inszenierung ist ein rein autobiographisches Werk. Wenn Monika Zimmering auf der Bühne erzählt, wie sie die Pressekonferenz von Günter Schabowski zur Öffnung der Mauer simultan übersetzt, weiß man: Das, was dort vorne passiert, ist echt. Die 73-Jährige verlor nach dem Mauerfall ihren Job. Sie fühlte sich, als lebe sie in einem fremden Land, ohne umgezogen zu sein.

Subjektive Perspektive auf die DDR statt Kommunismus

Mithilfe von Originalfotos der Spieler*innen werden ihre Geschichten greifbar gemacht. Mai-Phoung Kollath kam als vietnamische Gastarbeiterin in die DDR – und war stolz ihr Land repräsentieren zu dürfen. Das Leben zwischen dem Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen und der Großküche, wo sie arbeiten musste, hatte wenig zu tun mit ihrer Vorstellung von Sozialismus.

Auch die Videoprojektion auf einen zerrissenen Vorhang, der die Bühne wie Berlin mit einer Mauer teilt, bietet einen schönen Rahmen. Nur ist es leider beinahe das gleiche Bühnenbild wie bei „Denial“ von Yael Ronen, was vor wenigen Wochen im Gorki Premiere hatte.

Durch die naive neunjährige Matilda Florcyzk, die laut eigener Aussage bis zur Produktion „noch nie das Wort Kommunismus gehört“ hat, werden die Meinungen und Aussagen laufend hinterfragt, Kommunismus nach Brecht als „das einfache, das schwer zu machen ist“ bezeichnet. Und immer wieder fragt Matilda Salomea Genin nach ihrem Leben. Sie ist im Alter von fünf Jahren mit ihrer Familie aus Deutschland geflohen, weil sie Jüdin ist: „Aber woher wussten das denn die anderen Kinder?“ In Melbourne wird sie Teil der Kommunistischen Jugend und versucht über Jahre verzweifelt in die DDR zu immigrieren. Sie beginnt für die Stasi zu arbeiten und ist davon überzeugt, dass das ihr Beitrag zum Klassenkampf ist.

„Atlas“ bleibt aber eine subjektive Perspektive auf die DDR, nicht auf den Kommunismus. So wird zwar erwähnt, dass Salomea irgendwann begriff, dass sie „einen Polizeistaat mit aufgebaut hat“, aber das wirkt eher wie eine beiläufige Information. Ihr gegenüber steht die 52 Jahre alte ehemalige Punkerin Jana Schlosser, die anderthalb Jahre im Knast saß, weil ihre Band „Namenlos“ mit Songs wie „Nazis wieder in Ostberlin“, den sie live auf der Bühne performt, nicht in die DDR passte.

Lola Arias versucht durch Emotionen und Erinnerungen ein Thema greifbar zu machen, das für die meisten Jugendlichen nur im Geschichtsunterricht existiert. Das Wort „Kommunismus“ soll mit neuen, durchaus auch positiven, Assoziationen besetzt werden, so wünscht es sich auch Tucké Royale. Aufgewachsen in Quedlinburg, zwischen „Spitzengardinen und Neonazis“ in den 80ern, konnte er diese Gesellschaft nicht akzeptieren. Es gab keinen Platz für LGBTI* und Zecken. Wenn man in beide unbeliebten Kategorien gehörte, war die Jugend nicht besonders einfach.

„Ich will alles aus mir holen“

Helena Simon hat die DDR nicht selbst erlebt – ihre Geschichte hat fast nichts mit der Tradition des Stalinismus gemeinsam. Zwar erzählt sie vom SDAJ-Sommercamp, doch eigentlich versucht sie zu zeigen, worum es heute geht. Sie spricht vom Schulstreik und vom Oranienplatz, von Polizeirepression und von Schulabbruch. Dennoch gelingt es der Inszenierung nicht, weiter zu gehen, als vage Aussagen, dass der Kommunismus ja eine gute Idee ist und vielleicht ja doch auch praktisch funktionieren könnte.

Theoretischen Inhalt gibt es nicht. Der Leninkopf, der am Rande der Bühne liegt, wirkt als hätte man ihn aus Versehen dort liegen lassen. Dafür schafft es aber Ruth Reinicke, einen der emotionalen Höhepunkte zu zeichnen, der den aktuellen Bezug auf unerwarteter Weise zeigt: „Ich will alles aus mir holen, meine Angst, meine Lust, meine Scheiße, mein Blut. Ich will Tag und Nacht sein. Ich will über die Grenze gehen.“ Ruth Reinicke, Schauspielerin im Maxim-Gorki-Ensemble, spielt die Uraufführung von „Die Übergangsgesellschaft“ von 1988 im Gorki nach. Schon damals war sie im Gorki-Ensemble und stand auf dieser Bühne. Während Ruth Reinicke jetzt dort auf dem Tisch steht, gucken sich im Publikum die Menschen um. Auf einmal gibt es einen Bezug von dem, was dort auf der Bühne passiert und uns. Die Stühle, in denen wir sitzen, die Räume durch die wir gingen. Das Maxim Gorki Theater ist selbst zum Anknüpfungspunkt für das Publikum geworden.

Die damals kritische Inszenierung mit hitzigen Publikumsgesprächen wurde heute abgelöst. Es gab zwar einen politischen Inhalt, doch er verbirgt sich hinter dem Stück. Es ist kein „Atlas“ des Kommunismus, es ist eine Collage der DDR, in denen die dunklen Seiten angetastet wurden, aber bewusst ausgespart – niemand möchte vor hunderten Menschen gerne über die eigenen psychischen Probleme sprechen müssen. Aber Lola Arias hat es geschafft eine Perspektive auf die Bühne zu bringen, die sonst mit Absicht vergessen wird. Sie hat einen Abend geschaffen, an dem Frauen und LGBT* über sich und ihre Perspektive sprechen dürfen – und ihnen wurde zugehört.

 

Atlas des Kommunismus im Maxim Gorki Theater, weitere Vorstellungen:

15.10. 19:30

16.10. 19:30

23.10. 20:00

14.11. 19:30

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