50 Jahre nach Putsch in Chile: Lehren aus dem „friedlichen Weg zum Sozialismus“
Am 11. September 1973 putschte der chilenische General Augusto Pinochet. Die Regierung von Salvador Allende, die einen "friedlichen Weg zum Sozialismus" versprach, weigerte sich die Arbeiter:innenräte zu bewaffnen, um den Putsch abzuwehren.
Fünfzig Jahre nach dem Putsch in Chile ist es wichtig, über einen der kritischsten Momente im Klassenkampf der Geschichte des Landes nachzudenken. Dies damalige Zeit war geprägt von der reformistischen Erfahrung, die von einem großen Teil der chilenischen Linken getragen wurde, einschließlich der Regierung der Unidad Popular (UP) von Salvador Allende. Die UP vertrat die These vom „chilenischen Weg zum Sozialismus“.
Es ist unerlässlich, aus dieser Geschichte Lehren zu ziehen und Position zu beziehen. Der „chilenische Weg zum Sozialismus“ strebte eine friedliche Überwindung des Kapitalismus an, ohne direkte Konfrontation mit dem Staat und seinen repressiven Kräften.
Die Wahl von Salvador Allende drückte zwar den Willen des Volkes aus, mittels Wahlen der kapitalistischen Politik und dem kapitalistischen Staat seine Interessen aufzuzwingen. Allerdings brodelte die politische und soziale Unruhe in der Bevölkerung unter der Oberfläche. Ständig gab es Wellen des Klassenkampfes.
Die Bildung der „Cordones Industriales“
Diese Zusammenstöße zwischen den Klassen begannen nicht mit dem Putsch vom September 1973. Vielmehr begannen sie wenige Tage nach der Wahl Allendes. Im November 1970 begannen die Bäuer:innen und Arbeiter:innen von Panguipulli mit der Besestzung von 24 Ländereien mit einer Fläche von mehr als 36.000 Hektar. Ihre Forderung war die sofortige Enteignung. Der Grundbesitz in der Region wurde dadurch de facto abgeschafft. Im Oktober 1971 wurde der staatseigene Forstkomplex gegründet. Im Jahr 1971 wurden auch die Textilfabriken Yarur und Progreso von den Beschäftigten unter Arbeiter:innenkontrolle gestellt. Sie prangerten an, dass die Eigentümer:innen Waren horteten und einen Boykott durchführten, um die Wirtschaft zu schädigen und damit das Ende der Regierung herbeiführen wollten.
Im Juni 1972 führte eine Reihe lokaler Kämpfe in Cerrillos und Maipú in Santiago zur Bildung eines „cordón industrial“ („Industriegürtel“), einer Organisationsform ähnlich der Arbeiter:innenräte, die als Embryos der Macht der Arbeiter:innen und der Massen fungierten und es der Arbeiter:innenklasse ermöglichten, sich in Aktionen zu vereinen und demokratische Entscheidungen an der Basis zu treffen. Sie forderten die Überführung der Unternehmen in gesellschaftliches Eigentum. Diese fungierten bis dahin als Monopole, die absichtlich Güter horteten, um künstliche Güterknappheit zu erzeugen und dafür ihre Produktivität herunterfuhren.
Später im Jahr 1972, entstanden in Santiago und anderen Regionen die „Cordones Industriales“ als territoriale Organisation von Arbeiter:innen aus verschiedenen Fabriken, die infolge des Aussperrungen der Bosse im Oktober besetzt worden waren. Sie erreichten eine direkte Koordinierung mit den Versorgungs- und Preisausschüsse in den Armenvierteln (Juntas de Abastecimientos y Precios), die in verschiedenen Vierteln der Hauptstadt geschlossene Betriebe beschlagnahmten und die Preise überwachten.
Die Vorbereitungen der Rechten auf den Putsch
Bei all diesen Zusammenstößen zwischen den Klassen war die Putschabsicht der Rechten und des Imperialismus offensichtlich. Sie starten mehrere Anläufe für einen Putsch, denen sich die Arbeiter:innenklasse und das arme Volk widersetzten. Dabei entstanden immer neue Organe der Massen, die versuchten die Knappheit und die Herausforderungen der Verwaltung der Produktion in der Landwirtschaft und den Fabriken zu lösen. Die Rolle der Regierung und der Kommunistischen Partei in dieser Entwicklung bestand darin, die Auseinandersetzungen zwischen den Klassen abzuschwächen und die Rolle des bürgerlichen Staates zu stärken.
Der 29. Juni war eine Generalprobe für einen Militärputsch, der als „Tanquetazo“ in die Geschichte einging. Er diente dazu, die Kräfte des Widerstands zu messen, über die die Regierung und ihre Anhängerschaft verfügen könnten. Die Putschisten waren in einem Panzerregiment organisiert und hatten die direkte und öffentliche Unterstützung der Rechten. 400 Soldaten mit einem Dutzend gepanzerter Fahrzeuge stürmten in das Zentrum von Santiago und umzingelten das Verteidigungsministerium. Allende stützte sich daraufhin auf den Oberbefehlshaber der Armee, Carlos Prats. Nach dieser Aktion im Juni verlor Prats die Unterstützung seiner Kolleg:innen in der Armee und trat im August im Wissen um den bevorstehenden Putsch zurück. Nach der Niederlage des Putsches vom Juni zog die KP Chiles jedoch eine andere Schlussfolgerung: „Die Pläne der Rechten, die Streitkräfte in ein Partisanenabenteuer zu verwickeln, waren gescheitert“. Gemäß ihrer Vision und Hypothese eines „friedlichen Weges“ war die Abwehr des Putschversuches der Beweis für „die Solidarität der Institutionen“, die nach ihrer Logik in der Lage waren, den Staatsstreich niederzuschlagen und die „Loyalität“ der Streitkräfte zu beweisen.
Die Gegenwehr der Arbeiter:innenbewegung
Die Arbeiter:innen hatten jedoch nicht das volle Vertrauen in die Streitkräfte, sondern organisierten den Widerstand. In den ersten Julitagen fand die massivste Bewegung von Betriebsübernahmen statt, mehr als 500 in wenigen Tagen. In vielen Versammlungen wurde beschlossen, die Produktion unter die Kontrolle der Arbeiter:innen zu bringen und die von der Exekutive ernannten Schlichter:innen zu vertreiben. Lastwagen wurden beschlagnahmt und für den Transport von Kolonnen von Arbeiter:innen und Anhänger:innen der Bewegung verwendet.
Im „Cordón San Joaquin“ forderten die Arbeiter:innen des Textilunternehmens „Sumar“ Waffen: „Wir wollen nicht mit nacktem Oberkörper ins Zentrum gehen“. Überall im Land wurden die Cordones reaktiviert. „Jede Fabrik hatte ihr eigenes Verteidigungskomitee, dem es gelang, Schilde, Helme, brennbares Material und Steine für Barrikaden zu sammeln. Es ist vielleicht der revolutionärste Moment in der Geschichte Chiles. Das heißt, der Moment in dem die unterdrückte Klasse die Macht der Kapitalist:innen mit ihren eigenen Methoden bekämpft. Im Juli erließ die Regierung von Allende das Rüstungskontrollgesetz, ein Mittel, um einer Reihe von konterrevolutionären Aktionen der herrschenden Klasse einen legalen Deckmantel zu geben. Arbeitsplätze wurden gestürmt, die Räumlichkeiten der CUT (Gewerkschaftsbund der chilenischen Arbeiter:innen) und der Linken wurden angegriffen. Die Bevölkerung und die Arbeiter:innen wurden durch die Waffen der Armee eingeschüchtert. Dies führte Ende Juli zu einem weiteren Streik der LKW-Fahrer:innen (die auf der Seite der Unternehmen und der Armee standen, Anm. d. Übersetzers). Die Reaktion der Arbeiter:innen besaß die selbe Dynamik wie in früheren Gelegenheiten: Betriebe wurden zunehmend besetzt und die Kontrolle über den Vertrieb und den Handel wurde verstärkt.
Die Rolle der Streitkräfte wurde immer deutlicher als ein Instrument im Dienste der Konterrevolution. All diese Ereignisse zeigen, dass der Putsch nicht vom Himmel fiel. Der chilenische Weg zum Sozialismus konnte nicht „friedlich“ oder außerhalb der Dynamik des Klassenkampfes mit Zusammenstößen, Schlachten und Kämpfen verlaufen. Der Widerstand gegen den Putsch kann nicht innerhalb der begrenzten Möglichkeiten agieren, die im Rahmen des bürgerlichen Staates zur Verfügung stehen. Salvador Allende und seine Volksfront betrachteten die Macht über den Staat als Selbstzweck. Der Widerstand hängt auch davon ab, wie stark die Reaktion auf diese Abfolge von Putschversuchen ist. Die Arbeiter:innenklasse antwortete mit ihren Methoden und Organisationen, aber die Politik, die dominierte, war die der Regierung der Volksfront, die versuchte, die organisierten Arbeiter:innen zu beschwichtigen, womit sie aber schließlich den Rechten den Boden bereitete, indem sie die Arbeiter:innenorganisationen und die „Cordones industriales“ angriff.
Der 11. September 1973
Die vorbereitenden Maßnahmen für den Putsch wurden im Juli getroffen. Allende reagierte im August mit der Ernennung weiterer Generäle zu Staatsministern und positionierte die Streitkräfte zunehmend als Garanten der Ordnung. Gleichzeitig organiserten die Generäle im Schatten den Putsch. Armando Cruces, Anführer des Cordón Industrial Vicuña Mackenna, erklärte aus der proletarischen Perspektive folgendes: „Die Militärs in der Regierung sind, wie schon im Oktober 1972, eine Garantie für die Bosse“. Ab Juli 1973 erklärten die Christdemokraten (DC), dass die UP-Regierung verfassungswidrig sei, weil sie die Selbstorganisation, die durch die Besetzung von Fabriken und die Ausweitung von Organen des Volkes wie den Cordones entstanden war, nicht mit Waffengewalt unterdrückte.
Am 4. September 1973, anlässlich des dritten Jahrestages des Wahlsieges der UP, fand in der Hauptstadt Santiago die größte Demonstration in der Geschichte Chiles im 20. Jahrhundert statt. Den Aufzeichnungen zufolge mobilisierten sich mehr als eine Million Arbeiter:innen. Jedoch hatten die Arbeiter:innen innerhalb der UP keinen Verbündeten. Die Würfel waren am 11. September bereits gefallen. Dennoch gab es eine Bereitschaft zum Widerstand, wie bei den bewaffneten Auseinandersetzungen gegen die Armee in den Fabriken von Sumar und in der Siedlung La Legua. Es gab einen Plan der Cordones, in das Stadtzentrum einzudringen. Trotz dieses heldenhaften Widerstands gab es keinen Aufruf der UP oder der KP Chiles zum Widerstand gegen den Staatsstreich.
Die Errichtung einer Militärdiktatur unter dem Kommando der vier Teilstreitkräfte bedeutete die blutige Unterdrückung der Arbeiter:innenbewegung und vor allem der Avantgarde, die sich um die Cordones industriales, Gewerkschaften und Parteien organisierten. Die Folgen des von der Militärdiktatur errichtete wirtschaftliches, politisches und soziales Modell, das den neuen kapitalistischen Monopolen zugute kam, erfahren die Arbeiter:innen Chiles noch heute am eigenen Leib.