Zur Lage in Deutschland

15.10.2011, Lesezeit 25 Min.
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// Der Aufschwung kühlt sich ab und die Herrschenden bereiten die nächsten Angriffe vor //

Laut Umfragen ist die Zufriedenheit mit der Merkel-Regierung im Keller. Die Oppositionsparteien fordern nach der Wahlschlappe der FDP in Berlin Neuwahlen, während die CDU an der Zusammenarbeit mit dem unberechenbar gewordenen Partner festhält. Im Ausland wird die Kritik an der Bundesregierung immer lauter, aufgrund der eigensinnigen Linie in der Europolitik. Die Aussichten für die Ausgebeuteten und Unterdrückten sind nicht gut. Was heute die griechischen Massen erleiden müssen, kann auch in Deutschland schnell zur bitteren Wirklichkeit werden. Angesichts dessen müssen die sich anbahnenden Radikalisierungstendenzen gefördert, der antibürokratische Kampf beflügelt, die Selbstorganisation voran getrieben werden.

Der Streit in der Regierungskoalition

Das sehr gute Abschneiden der Piratenpartei in Berlin, die ihre Wahlkampagne im Wesentlichen auf eine radikale Ablehnung sämtlicher Muster herkömmlicher Politik zentriert hatte, sowie die allgemein sinkende Wahlbeteiligung und insbesondere der Erosionsprozess der beiden politischen Hauptsäulen des Nachkriegsregimes, SPD und CDU, zeigt, dass ein zunehmender Konsensverlust von immer breiter werdenden Sektoren der Massen gegenüber den verschiedenen Politiken der Bourgeoisie stattfindet. Die CDU erlebte bei den Berliner Wahlen ihre sechste Wahlschlappe in Folge, trotz Verbesserung der Stimmenanteile. Trotz einem (glanzlosen) Sieg in Berlin verharrt die SPD bundesweit bei den Umfragen bei etwas mehr als 20 Prozent (so hat bei den Berliner Wahlen lediglich jeder sechste wahlberechtigte Erwachsene für die SPD gestimmt). Die FDP befindet sich in einem Todeskampf. All das sind starke Symptome eines komplizierten und gefährlichen Krankheitsverlaufes des politischen Systems.

So ist die nun an den Tag gelegte nationalbornierte Haltung der FDP (und der CSU) als der Versuch zu werten, sich bei den angeblich 60% der Bevölkerung Deutschlands zu profilieren, die aufgrund des immer weiter wachsenden Gewichts der auferlegten Last zur Rettung von Banken und Unternehmen der Europäischen Union inzwischen misstrauisch gegenüber stehen. Auf der anderen Seite ist dies Ausdruck der beinahe völligen politischen Nutzlosigkeit der FDP in Krisenzeiten, wie die Rufe nach Ordnung seitens der Industriebarone beweisen, die die Strategielosigkeit der FDP monieren. So hat der amtierende BDI-Hauptgeschäftsführer Dirk Müller die Position der FDP als „nicht besonders opportun […] in Deutschland und auch nicht in Europa“ bezeichnet. Jedoch würde ihn beruhigen, „zu sehen, dass zumindest die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister einen relativ kühlen Kopf bewahren und eine Strategie zu haben scheinen.“[1]

Die FDP, als Interessenvertreterin von Randsektoren des Kapitals, nicht des konzentrierten Großkapitals, versucht mittels Zugriff auf die rechtspopulistische Karte den freien Fall ihrer Wahlergebnisse zu stoppen. „Angesichts der verzweifelten Lage erstarken die Populisten in den Reihen der FDP und schüren antieuropäische Stimmungen. Das Kalkül scheint simpel: Drei Viertel der Deutschen sind gegen eine Ausweitung der Beteiligung an den Stabilitätsfonds, also muss sich Widerstand bei Wahlen auszahlen. Trotzdem ist die Rechnung am Sonntag nicht aufgegangen: Die FDP hat gezündelt, ohne dass es ihr etwas genützt hat. Dafür ist die Koalition beschädigt“, stellte EL PAIS aus Madrid fest[2]. In der Tat, eine Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland ist gegen die „Hilfspakete“ und für einen „harten Gang“ gegenüber Griechenland. Anders ausgedrückt: Die Zukunft des Euro hängt stark von der Lösung der internen Konflikte in Deutschland ab.

Der Untergang der FDP stellt somit eine objektive Gefährdung für die Handlungsfähigkeit der Regierungskoalition dar, die ohne Einigkeit unmöglich die Euro-Krise bewältigen kann. Die rauen Töne aus Berlin könnten Vorboten des Zerbrechens der schwarz-gelben Koalition an der Euro-Frage sein. Neuwahlen sind in dieser Situation eine greifbare Möglichkeit geworden, was natürlich nichts Gutes für die politische und wirtschaftliche Stabilität der Euro-Zone verheißt. Die Süddeutsche Zeitung stellte besorgt fest: „Noch nie hat man in der Mitte einer Legislatur eine so abgewirtschaftete Bundesregierung erlebt. Das Land ist im Jahr 2011 weniger schwarz, sehr viel weniger gelb, ein wenig röter und viel grüner geworden.“

Das deutsche Kapital ist Mit-Ursache der Euro-Krise

Wie zahlreiche politische KommentatorInnen feststellen, ist die Eigensinnigkeit Deutschlands angesichts der Krise zu einem Destabilisierungsfaktor geworden. „Der verlässliche weltpolitische und europapolitische Akteur Deutschland ist unter Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Unsicherheitsfaktor verkommen. Berlin zaudert, zögert und zerbricht an seinen wenig vorbereiteten Positionen.“[3]

Der Streit unter deutschen PolitikerInnen steht auch für die zunehmenden Schwierigkeiten, die strategischen Interessen Deutschlands durchzusetzen, ohne mit den eigenen BündnispartnerInnen in Konflikt zu geraten. Deutschland hat im Rahmen der jetzigen Krise ein Führungsproblem. Als stärkstes und kreditwürdigstes Land der Eurozone hat es einerseits maßgeblichen Einfluss auf das weitere Vorgehen der EU gegen die Krise, andererseits steht es damit aber auch in der Schusslinie für Kritik. So ist Deutschland z.B. aus Sicht des früheren britischen Premierministers Gordon Brown oder des US-Präsidenten Obama mitverantwortlich für die jetzige Euro-Krise. „Deutschland hat […] 1,5 Billionen Dollar an Griechenland, Spanien, Portugal, Irland und Italien ausgeliehen. Beim Ausbruch der Krise hielten deutsche Banken 30 Prozent aller Darlehen für diese Länder.“[4] Deutsche Banken sind also noch stärker an den problematischen Schulden beteiligt als andere Länder, laut IWF zweieinhalb mal so stark wie US-Banken[5].

Die deutsche Bourgeoisie hat stets kräftig Kapital exportiert und damit spekulative Blasen finanziert. Deutsche Banken haben die „Schuldensünder“ Griechenland, Spanien, Portugal, Irland und Italien bereitwillig mit Krediten versorgt oder, wie Gordon Brown es formulierte, „deutsche Banken [haben] die Getränke spendiert, wo immer eine Party stattfand.“[6] Nun stemmt sich das deutsche Kapital gegen gemeinsame Haftung durch Euro-Bonds und setzt gemeinsam mit dem IWF, der EZB und Frankreich drakonische Kürzungsprogramme in Griechenland, Spanien, Irland, Italien und anderen Ländern durch. Diese Verarmungsprogramme, die das imperialistische Deutschland den Lohnabhängigen in Griechenland, Spanien, Irland usw. verordnet, werden zynischerweise auch noch als „Hilfe“ deklariert.

Trotz aller Diskussionen zwischen verschiedenen Sektoren der herrschenden Klasse ist es indes so, dass das Fortbestehen Europas als gemeinsamer Markt mit eigener Währung zentral für die Interessen des deutschen Kapitals ist. „Für uns ist deshalb die Integration eine strategische Notwendigkeit. Siecht sie dahin, erodiert das Fundament des europäischen Ausgleichs und damit die Kernbedingung für die erfolgreiche Verfolgung deutscher Interessen.“[7] Denn „in wichtigen finanz-, steuer- und wirtschaftspolitischen Fragen nutzen wir den Größenvorteil Europas.“[8]

Die politischen VertreterInnen der herrschenden Klasse in Deutschland befinden sich so in einem schwer lösbaren Dilemma: Einerseits wollen sie „die Wähler“ und deren wachsende nationalistische Haltung bedienen (die geschürt wurde, um die Solidarität mit den griechischen Massen zu verhindern), andererseits müssen sie zwischen den Sektoren des Kapitals vermitteln und den strategischen Interessen der deutschen Bourgeoisie gerecht werden. Zwischen diesen Mühlen werden die porösen Elemente wie die FDP zerrieben. Diesen Preis ist die herrschende Klasse aber bereit zu zahlen, da es derzeit für die Wahrung „deutscher“ Interessen keine bessere Alternative gibt. Während in Massenmedien Stimmung gegen „faule Südländer“ gemacht wird, ist man sich in den Chefetagen der Notwendigkeit zur weiteren Aufrechterhaltung der EU sehr wohl bewusst. „Wir müssen zusammenstehen in dieser existentiellen Krise“, rief BDI-Präsident Hans-Peter Keitel dem griechischen Premier Papandreou bei seinem Auftritt vor den Spitzen der deutschen Industrie zu.

In den Denkfabriken der Bourgeoisie wird derweil nach konkreten Wegen aus der Krise in Griechenland gesucht. In einem Beitrag für die „Financial Times Deutschland“ fordern die deutschen Wirtschaftsweisen[9] gemeinsam mit französischen RegierungsberaterInnen einen radikalen Schritt: Die Hälfte der Schulden Griechenlands sollte erlassen werden. Die GläubigerInnen sollten dabei „auf ungefähr die Hälfte des Nominalwerts ihrer ausstehenden griechischen Staatsanleihen verzichten.“[10] Da ein Großteil der griechischen Staatsanleihen sich mittlerweile in den Händen der Europäischen Zentralbank und anderer staatlicher Institutionen befindet, würden die Kosten eines solchen Schuldenschnitts auf die europäischen SteuerzahlerInnen und damit letztlich auf die ArbeiterInnen abgewälzt. Im Falle einer Staatspleite Griechenlands sähe dies aber auch nicht sehr viel anders aus: Betroffene Privatbanken würden dann mit Staatsgeldern aus dem Rettungsfond EFSF unterstützt werden.

Obwohl Deutschland relativ gestärkt aus der Krise hervorgegangen ist, sind die politischen Auswirkungen trotzdem deutlich gewesen. Die Krise entblößt die Spannungen innerhalb der Regierungskoalition wie auch im Regime. Die Wunschkoalition der herrschenden Klasse hat sich als eine „streitgeile“ Truppe entpuppt, die mit dem politischen Stimmungsthermometer unter dem Arm regiert. „Jeder gegen jeden – das scheint dieser Tage das Motto der Regierung zu sein, die Euro-Krise zerrt an den Nerven der Koalitionäre. Schon führt der Streit über den richtigen Weg aus der Griechenland-Krise zu Spekulationen über ein nahendes Ende des Bündnisses. Wie lange hält Schwarz-Gelb noch durch?“[11] Sollte die Regierung tatsächlich stürzen, wären die Folgen dramatisch.

Delle oder Fall?

Die relative Erholung der Weltwirtschaft wurde durch mehr oder weniger konzertierte staatliche Stützprogramme für die Unternehmen erreicht. Somit konnte die drohende Katastrophe durch die Krise 2008 aufgeschoben werden. Aufgrund seiner starken Ausgangslage konnte Deutschland in besonderem Maße staatliche Subventionen aufbringen, um seine Produktivkräfte vor den Folgen der Krise zu schützen.

Das brachte dem deutschen Imperialismus deutliche Vorteile gegenüber traditionellen KonkurrentInnen. Diese Situation wurde außerdem genutzt, um den Export anzukurbeln und den deutschen Anteil am Welthandel auszubauen. Dabei hat sich jedoch die Abhängigkeit Deutschlands vom Außenhandel weiter verstärkt. Laut BDI werden mittlerweile 8,5 Prozent der deutschen Exporte nach Brasilien, Russland, Indien und China verkauft, die zu Motoren der jetzigen Konjunktur geworden sind. Jedoch haben diese sich überhitzt und die Drehzahl musste kräftig heruntergeschraubt werden. „Die Zentralbanken in China, Indien, Brasilien und Russland erhöhten gleich mehrfach die Leitzinsen. In China kletterten die Geldbeschaffungskosten auf 6,56 Prozent, in Indien auf 8,0, in Brasilien sogar auf 12,5 Prozent.“[12] Die schlechten Konjunkturdaten aus Amerika und China, die Verschärfung der Staatsschuldenkrise, die Herabstufung der Kreditwürdigkeit der USA sowie die Sorgen um ein mögliches Auseinanderbrechen der Euro-Zone sind deutliche Anzeichen dafür, dass die Party in Deutschland bald vorbei sein wird. Noch sind die Auftragsbücher voll gefüllt, aber „Spätestens Anfang nächsten Jahres ist der größte Teil der Aufträge in den Unternehmen abgearbeitet. Kommt die Weltwirtschaft bis dahin nicht auf die Füße, werde es für die deutsche Wirtschaft ungemütlich […] Der Weltwirtschaft drohen dann neue Spekulationsblasen, Protektionismus und Inflation.“[13]

Brasiliens Staatspräsidentin Dilma Rousseff rief Anfang des Monats zum „Kreuzzug zur Verteidigung der brasilianischen Industrie“ auf: Die Waffen, mit denen sie diesen Kampf ausfechten will, sind „eine Strafsteuer auf Devisengeschäfte, eine Finanztransaktionssteuer auf Auslandskredite und eine Vorzugsbehandlung heimischer Unternehmen bei Staatsaufträgen“ sowie höhere Zölle. Das Fazit der Wirtschaftswoche: „Auf die Weltwirtschaft und das Exportland Deutschland kommen harte Zeiten zu.“[14]

Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes

Hinter der beschönigenden Formulierung der „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“ verbirgt sich die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse durch befristete Verträge, Leiharbeit, Minijobs usw. Also letztlich eine Politik des Sozialabbaus, die die Interessen der KapitalistInnen bedient. Wie die letzten Daten zeigen, sind die GewinnerInnen des kräftigen Aufschwungs der deutschen Wirtschaft deutsche Konzerne und Unternehmen, nicht jedoch die arbeitende Bevölkerung. So sind die Löhne 2010 im Durchschnitt um 0,6 Prozent gestiegen, um die Inflation auszugleichen.

Die Zahl der Menschen, die auf einen zweiten Job angewiesen sind, um zu überleben, hat sich seit 2003 verdoppelt. Gab es im Juni 2003 rund 1,2 Millionen Lohnabhängige mit einem oder mehreren Nebenjobs, so waren es im Juni 2010 fast 2,4 Millionen. In über 82% der Fälle handelt es sich laut Zahlen der Bundesagentur für Arbeit nicht um mehrere Minijobs nebeneinander, sondern um geringfügige Nebenbeschäftigungen neben einer Haupttätigkeit.

Über 100.000 RentnerInnen im Alter von über 75 Jahren müssen noch einen Minijob ausüben, um überleben zu können. Die Zahl der in Armut lebenden Kinder wird nach Ansicht des Deutschen Kinderschutzbundes trotz niedriger Geburtenraten rasant steigen. So haben heute etwa 2,5 Millionen der 13,1 Millionen Kinder in Deutschland Anspruch auf staatliche Leistungen auf Hartz IV-Niveau. Laut Prognosen werden es in 20 Jahren bis zu fünf Millionen sein[15].

Frauen sind von all dem überproportional betroffen: 57,5 Prozent der Mehrfachbeschäftigten sind Frauen. Nebenbei werden Frauen immer noch deutlich schlechter bezahlt als Männer. 2009 betrug die Einkommenslücke rund 23 Prozent. Laut OECD arbeiten nur rund 40 Prozent der Frauen (15 bis 64 Jahre) in Deutschland Vollzeit.

Die Lage der Jugend ist nicht so katastrophal wie in Spanien oder Griechenland, aber auch sie sieht sich wachsenden Problemen gegenüber: „Junge Menschen in der Bundesrepublik sind nicht nur häufiger mit Erwerbslosigkeit konfrontiert als die Gesamtbevölkerung. Sie haben auch deutlich öfter eine sogenannte atypische Beschäftigung. Dazu gehören beispielsweise befristete Jobs oder Zeitarbeit.“[16] Jugendlichen werden also verstärkt befristete Verträge aufgezwungen, sodass mittlerweile jedeR Zweite keinen festen Vertrag mehr hat. Andere werden von einem Praktikum zum nächsten geschickt. Außerdem nimmt die sogenannte „projektbezogene Arbeit“ an Hochschulen zu, bei der Verträge nur solange laufen, bis die begrenzten Geldmittel dafür aufgebraucht sind.

Perspektiven

In der Krise 2008/2009 wurde mittels Kurzarbeit eine Entlassungswelle verhindert. Selbstverständlich handelte es sich dabei nicht um ein Zugeständnis an die Lohnabhängigen, sondern um einen strategischen Schachzug zur Subventionierung des deutschen Kapitals. Unternehmen und Banken wurden mit staatlichen Geldern am Leben gehalten. Lohnabhängige verloren ihre Jobs nicht, weil sie wieder einmal bereit waren, Einkommenseinbußen zu akzeptieren. Sollte jedoch die Krise heute erneut mit solcher Härte einschlagen, dann hätte die Bundesagentur für Arbeit (BA) diesmal keine Rücklagen mehr, um den Arbeitsmarkt zu stützen und gleichzeitig die Masse von Arbeitslosen zu versorgen. „Wir hatten 18 Milliarden Euro Rücklagen gebildet, unter anderem, weil wir das Geld nicht für Maßnahmen ausgegeben hatten, von denen wir uns nichts erwarten. Als die Krise kam, konnten wir ohne Beitrags- und Steuererhöhungen zum Beispiel mit der Kurzarbeit so intervenieren, dass der Arbeitsmarkt von der Krise recht wenig getroffen wurde. Diese Möglichkeit haben wir jetzt nicht mehr.“[17] Massenentlassungen, abermalige Senkungen des Hartz IV-Satzes, massive Kürzungen des Arbeitslosengeldes ebenso wie Kürzungen im Gesundheits- und Bildungsbereich sind also eine sehr greifbare Perspektive.

Angesichts dieser drohenden Angriffe ist mit verstärkten Klassenauseinandersetzungen zu rechnen. Wir können aber keinesfalls davon ausgehen, dass daraus automatisch gesellschaftlich fortschrittliche Entwicklungen folgen. Der zunehmende Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Maßnahmen und Institutionen der herrschenden Klasse kann sich vielmehr in verschiedene Richtungen auswirken.

Das schwindende Vertrauen der Massen in die Mechanismen des bürgerlichen Parlamentarismus – was sich z.B. in einer zunehmenden Wahlenthaltung spiegelt – ist aus revolutionärer Sicht eine teilweise positive Entwicklung. Allerdings drückt sich diese skeptische Haltung gegenüber bürgerlichen PolitikerInnen und Parteien oft auch in einer Ablehnung sämtlicher politischer Organisationen aus. Diese Skepsis übersetzt sich also nicht automatisch in eine progressive Haltung.

Nichtsdestotrotz begünstigt diese Dynamik der Disaggregation, also der zunehmenden Auflösung des Konsens gegenüber der herrschenden Klasse, die Entstehung von progressiven Phänomenen und schafft somit bessere Ausgangsbedingungen für eine politische Intervention von RevolutionärInnen. Dies haben unter anderem die Anti-Atom-Bewegung und die Proteste gegen Stuttgart21 gezeigt, bei denen breite Sektoren der Mittelschichten auf die Straße gegangen sind und durch ihre Aktionen die institutionalisierte Ordnung zumindest indirekt in Frage gestellt haben. Laut Statistiken sind 65% der Bevölkerung überzeugt, dass es die „Qualität der deutschen Demokratie“ verbessern würde, wenn über wichtige Fragen per Volksabstimmungen entschieden würde[18]. Für revolutionäre MarxistInnen besteht die Aufgabe darin, diese Ansätze der Infragestellung der Institutionen zu fördern und mit Propaganda und Agitation zu deren Radikalisierung beizutragen, und sich nicht dem aktuellen Bewusstsein dieser Bewegungen anzupassen.

Der weitere Verlauf der Krise wird wahrscheinlich nicht langsam und kontinuierlich, sondern sprunghaft vonstatten gehen. Dies wird RevolutionärInnen auf der einen Seite, aber auch die gewerkschaftlichen Vermittlungsinstanzen auf der anderen Seite vor große Herausforderungen stellen.

Eine Verschärfung der Konflikte zwischen den Klassen wird unweigerlich dazu führen, dass die Gewerkschaftsspitzen ihre Kollaboration mit dem Kapital noch verstärken, um ihre eigene Existenz und ihre Privilegien zu sichern. Die Interessen der hohen FunktionärInnen sind eng mit denen der KapitalistInnen verbunden. Deshalb stimmen auch sie in den reaktionären Standort-Diskurs mit ein und betonen immer wieder die Bedeutung der Sozialpartnerschaft. Eine erneute Kostprobe dessen hat DGB-Chef Sommer vor kurzem geliefert. Statt die brutalen Kürzungspläne, die das deutsche Kapital den GriechInnen aufzwingt, zu verurteilen und zu bekämpfen, indem er an die Solidarität der Beschäftigten in Deutschland appelliert, forderte Sommer, Angela Merkel möge bitteschön „einer skeptischen deutschen Öffentlichkeit verdeutlichen, dass es nicht nur um Solidarität mit Griechenland, Irland oder Spanien geht, sondern dass die Hilfe auch aus schlichtem deutschen Eigennutz erfolgt.“[19] Indem er so tut, als wären die Interessen der ArbeiterInnenklasse in Deutschland deckungsgleich mit denen des deutschen Kapitals, opfert der DGB-Boss die Interessen der ArbeiterInnenschaft auf dem Altar der Standortlogik.

Die Verschärfung der Wirtschaftslage und die damit einhergehende Verringerung des Verhandlungsspielraums könnten innerhalb des Gewerkschaftsapparates Flügelkämpfe auslösen. Der sich verstärkende Druck der Basis könnte dann zu einem Linksruck in den niedrigen Rängen der Gewerkschaftsbürokratie führen. Zu dieser Entwicklung könnte auch der sich fortsetzende Trend des Aufbaus von Spartengewerkschaften beitragen. Die GewerkschaftsbürokratInnen fürchten die zunehmende Konkurrenz dieser spezialisierten Gewerkschaften, die ihre „Krümelpolitik“, die sich mit kleinsten Zugeständnissen zufrieden gibt, durch Taten in Frage stellen. So geschehen bei den LokführerInnen 2009/2010, als diese eine Lohnsteigerung von 14% erreichten. Die unsägliche Politik der Sozialpartnerschaft und der Ausverkauf der Kämpfe können zusammen mit dem Entstehen von Spartengewerkschaften eine explosive Mischung bilden, die die Ablehnungstendenzen innerhalb mancher Sektoren der ArbeiterInnenschaft verstärkt. So sind es heute vor allem Sektoren wie ÄrztInnen, LokführerInnen und PilotInnen, die ihre eigenen Gewerkschaften gegründet haben. Die Tarifeinheit erwies sich für diese hochqualifizierten Sektoren, die teilweise eine zentrale Stellung im Reproduktionszyklus des Kapitals einnehmen, als nachteilig[20].

Wie die historische Erfahrung zeigt, wird die Ablehnung der Beschäftigten gegenüber den versöhnlerischen FunktionärInnen wachsen. All jene Gruppen und Parteien, die sich der gewerkschaftlichen Routine anpassen oder die den Kampf gegen die BürokratInnen nur halbherzig aufnehmen, werden dann zwischen den versöhnlerischen Sektoren und einem kämpferischen (möglichst revolutionären) Flügel zerrieben. Diesem wollen wir – soweit unsere Kräfte reichen – zum Entstehen verhelfen, indem wir mit einem revolutionären Programm in die Kämpfe der ArbeiterInnen intervenieren und sie dazu ermuntern, mit dem Kapital und den bürokratischen Gewerkschaftsführungen zu brechen. Dieser Prozess der Rekomposition der ArbeiterInnenreihen wird nicht geradlinig ablaufen. Teilniederlagen gehören genauso dazu wie Siege. Sie sind aber die Ausgangsbedingungen für das Entstehen von kämpferischen Strömungen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung.

Für die Mitglieder von RIO, einer kleinen, überwiegend studentischen Gruppe, ist dies eine riesige Herausforderung, die wir aber gern annehmen. Angesichts unserer mangelnden Verankerung innerhalb der kämpferischsten Sektoren der ArbeiterInnenschaft sehen wir unsere wichtigste Aufgabe momentan darin, eine Pro-ArbeiterInnen-Politik an den Universitäten zu betreiben. Die ArbeiterInnen, gemeinsam mit der revolutionären Jugend in Schulen und Universitäten, müssen ein unabhängiges Klassenprogramm aufstellen und, auf ihre eigenen Kräfte vertrauend, eine revolutionäre Politik entwickeln.

Für ein revolutionäres Programm und eine revolutionäre Organisation

Die Krise zerrt an den Löhnen der ArbeiterInnen, und die Gewerkschaftsbürokratie verrät die Kämpfe bzw. sie lässt sie im Keim ersticken, indem sie die Interessen der Lohnabhängigen hinter die Sozialpartnerschaft stellt. Die Antwort der radikalen Linken in Deutschland beschränkt sich dabei auf eine Art Ausübung von linkem Druck auf die GewerkschaftsfunktionärInnen, die durch die Auslassung von Kritik oder von Alternativen letztlich zur Anpassung an die Bürokratie führt. Angesichts der Krise versucht der deutsche Imperialismus, seine eigene Krise durch Bestrebungen zur Semikolonialisierung und wirtschaftlichen Unterwerfung ganzer Regionen wettzumachen. Noch profitiert die deutsche Bourgeoisie von der (sich nun verlangsamenden) konjunkturellen Erholung der Weltwirtschaft; sie ist aber Teil des weltumspannenden kapitalistischen Systems und die Probleme, die die Weltwirtschaft betreffen, werden sie ebenfalls treffen. Das, was heute die deutsche Regierung der griechischen Regierung und den griechischen Lohnabhängigen abverlangt, wird sie morgen von den Lohnabhängigen in Deutschland fordern.

Deshalb müssen sich RevolutionärInnen in Deutschland auf die kommenden verschärften Auseinandersetzungen zwischen den Klassen vorbereiten. Dies impliziert, ein klares Programm gegen die Krise und ihre Auswirkungen aufzustellen. Wir denken, dass heute die Forderung nach der gleitenden Skala der Löhne und die Verteilung der Arbeitszeit zwischen allen zur Verfügung stehenden Kräften auf Kosten der Reichen und KapitalistInnen höchst aktuell ist.

Ebenso denken wir, dass die Gewerkschaften demokratisiert werden müssen, um die Macht der Bürokratie zu brechen. Es ist notwendig, die korrupten, an den Unternehmen gebundenen Gewerkschaftsspitzen aus den Gewerkschaften zu vertreiben. Dafür brauchen wir einen klaren Kampfplan, um die historischen Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung zu verteidigen und auszuweiten. Ein solcher Kampfplan wird die kämpferischsten Sektoren der ArbeiterInnenschaft motivieren. Er wird ihnen Selbstvertrauen verleihen und die Entstehung von kämpferischen und antibürokratischen Flügeln innerhalb der Gewerkschaften begünstigen. So werden anstelle der routinierten FunktionärInnen und KarrieristInnen neue kämpferische AnführerInnen gesetzt, damit die Gewerkschaften zu tatsächlichen Kampforganisationen der ArbeiterInnenschaft werden.

Frankreich und Deutschland wollen ihre kriselnden Banken wieder einmal auf Kosten der Lohnabhängigen stützen. Die Folgen werden weitere soziale Kürzungen sein. Damit nicht wir für ihre Krise zahlen, müssen wir die Forderung nach der Enteignung der Privatbanken und Verstaatlichung des Kreditsystems aufstellen. Nur so kann ein erster Schritt gemacht werden, um die Diktatur des Kapitals zu brechen.

Um diese Forderungen durchzusetzen, müssen RevolutionärInnen gleichzeitig entscheidende Schritte für den Aufbau einer wirklich revolutionären Organisation machen. Die Erfahrung der Linkspartei, die zwar von der Notwendigkeit, den „Druck der Straße“ zu erhöhen, spricht, aber in der Regierung stets arbeiterInnenfeindliche Politik betreibt, zeigt deutlich, dass die Ausgebeuteten und Unterdrückten in Deutschland eine neue Partei brauchen, die ihre Interessen verteidigt.

Diese werden – wie die Erfahrung in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern zeigt – nicht gemeinsam mit den Lafontaines, Gysis oder Wagenknechts, nicht in erster Linie in den Parlamenten verteidigt und durchgesetzt, sondern in den Betrieben und auf den Straßen, in den Universitätssälen und Klassenzimmern.

Diese neue Organisation kann nicht ausschließlich auf nationaler Ebene tätig werden, sondern muss einen eindeutig internationalen Charakter haben. Denn wenn die herrschende Klasse weltweit Angriffe gegen die ArbeiterInnenklasse und die Jugend führt, müssen wir uns auch weltweit verteidigen. In Bezug auf die jetzigen Angriffe gegen die ArbeiterInnen in Griechenland heißt das, dass eine revolutionäre Organisation in Deutschland ihre internationalistische Solidarität beweisen muss, indem sie den heimischen Imperialismus bekämpft.

Zudem zeigen die steigenden Spannungen zwischen den imperialistischen Mächten ganz klar, dass die Bourgeoisien der jeweiligen Länder letztlich in immer schärferer Konkurrenz zueinander stehen. Solche Spannungen sind z.B. in Libyen oder ganz aktuell zwischen Deutschland und Frankreich in Bezug auf die EFSF- Streitigkeiten zu sehen. Diese Spannungen werden auf den Rücken der Lohnabhängigen und Unterdrückten austragen. Dies aktualisiert sogar die Perspektive militärischer Auseinandersetzungen (von StellvertreterInnenkriegen bis hin zum direkten inner-imperialistischen Krieg). Auch dagegen können wir uns nur wehren, wenn wir uns international, mit einem klaren antikapitalistischen und anti-imperialistischen Programm organisieren.

Für uns kann der Aufbau einer revolutionären Organisation der Ausgebeuteten und Unterdrückten nicht von der Frage nach der Weltpartei der ArbeiterInnen losgelöst werden, die wir durch den Wiederaufbau der Vierten Internationale als Weltpartei der sozialistischen Revolution anstreben.

Fußnoten

[1]. Müller, Dirk: „Mit einer gewissen industriellen Logik“ an die Rettung Griechenlands rangehen. Interviewt von Markus Kerber. Deutschlandfunk. 13.09.2011.

[2]. El Pais: „Caen los liberales“. 20.09.2011. http://www.elpais.com/articulo/opinion/Caen/liberales/elpepiopi/20110920elpepiopi_2/Tes

[3]. DIE PRESSE: „Merkels Außen- und EU-Politik: Zaudern, Zögern, Zerbrechen“. 25.08.2011. http://diepresse.com/home/meinung/kommentare/leitartikel/687945/Merkels-Aussen-und-EUPolitik_Zaudern-Zoegern-Zerbrechen.

[4]. Brown, Gordon: „Deutsche Banken feierten mit“. Handelsblatt. 29.08.2011. http://www.handelsblatt.com/politik/international/deutsche-banken-feierten-mit/4550892.html

[5]. Ebd..

[6]. Ebd..

[7]. Zeit Online: „Deutschlands riskante Europa-Strategie“. 26.04.2011. http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-04/finnland-eu-europapolitik .

[8]. Spiegel Online: „Von der Leyen fordert die Vereinigten Staaten von Europa“. 27.08.2011. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,782879,00.html .

[9]. Als Wirtschaftsweise werden die fünf Mitglieder eines Sachverständigenrates bezeichnet, der die Bundesregierung in ökonomischen Fragen berät.

[10]. Financial Times Deutschland: „Verzichtet auf die Hälfte der Griechen-Schulden!“. 27.09.2011.

[11]. Spiegel Online: „Streit über Euro-Kurs: Koalition in Angst“. 14.09.2011. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,786243,00.html .

[12]. Wirtschaftswoche: „Gefahr für Deutschlands Konjunktur“. 16.08.2011.

[13]. Ebd.

[14]. Ebd.

[15]. Kinderschutzbund-Präsident Heinz Hilgers bei der zentralen Veranstaltung zum Weltkindertag in Schwerin. 20.09.2011.

[16]. Spiegel Online: „Hohe Arbeitslosigkeit: Europas Jugend ohne Zukunft“. 11.08.2011. http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,779610,00.html.

[17]. BA-Chef Weise: „Wir haben kein Polster mehr“. Badische Zeitung. 20.09.2011.

[18]. FAZ: „Der Ruf nach dem Plebiszit“. 20.10.2010.

[19]. Handelsblatt: „DGB-Chef attackiert Merkels Krisenmanagement“. 21.08.2011

[20]. Heute arbeitet nur noch jeder zweite Lohnabhängige in Unternehmen mit Bindung an die Tarifeinheit, während es 1996 noch 67% waren. In Ostdeutschland ist die Lage mit nur 38% tarifgebundenen Anstellungen weitaus schlechter.

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