X. Konferenz der FT: Schlussfolgerungen einer Woche intensiver internationalistischer Debatten

22.08.2016, Lesezeit 15 Min.
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Vom 10. bis 17. August fand in Buenos Aires die X. Konferenz der Trotzkistischen Fraktion statt. Wir präsentieren einige der wichtigsten Schlussfolgerungen.

Am vergangenen Mittwoch endete die X. Konferenz der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale (FT–CI).

Delegationen folgender Organisationen nahmen an der Konferenz teil: die Partei Sozialistischer Arbeiter*innen (PTS) aus Argentinien, die Bewegung Revolutionärer Arbeiter*innen (MRT) aus Brasilien, die Partei Revolutionärer Arbeiter*innen (PTR) aus Chile, die Bewegung Sozialistischer Arbeiter*innen (MTS) aus Mexiko, die Revolutionäre Arbeiter*innenliga (LOR) aus Bolivien, Clase contra Clase aus dem Spanischen Staat, Genoss*innen der FT in der Revolutionär-Kommunistischen Strömung (CCR) der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) aus Frankreich, die Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO) aus Deutschland, die Liga Sozialistischer Arbeiter*innen (LTS) aus Venezuela, sowie Genoss*innen der FT-CI aus Uruguay und von Left Voice aus den USA und Großbritannien.

In den Delegationen waren verschiedene Generationen von Anführer*innen vertreten: Neben Genoss*innen, die die FT–CI gegründet haben, zeigte sich eine neue Generation besonders von weiblichen Anführerinnen. Es war eine Woche intensiver Debatten, in der die Delegierten über die Schlüsselfragen der internationalen Situation, über neue Phänomene und die Aufgaben von Revolutionär*innen diskutierten.

1. Über die Veränderung der internationalen Situation und die Entwicklung der FT in Europa

Die X. Internationale Konferenz der FT widmete einen Teil ihrer Debatten der Analye der wirtschaftlichen und politischen Weltsituation acht Jahre nach Beginn der kapitalistischen Krise. Zu den zentralen Konsequenzen zählen die Entwicklung neuer politischer Phänomene (siehe „Debates de la primera jornada de la Conferencia“). Heute sind mehrere zentrale Länder (Europa und USA) von Elementen dessen durchzogen, was Gramsci „organische Krise“ nannte (siehe „Hacia una nueva etapa de convulsiones y lucha de clases”). In diesem Kontext zogen wir grundlegende Schlussfolgerungen über die neuen Charakteristika des Reformismus heute, über die Unterschiede zwischen dem „Neoreformismus“ und dem Arbeiter*innenreformismus sowie über die Strategien des Aufbaus revolutionärer Parteien heute (siehe: „FT-Konferenz: Reformismus, Zentrismus und Revolution”).

In diesem Szenario ist Frankreich mit seiner starken Streik- und Jugendbewegung seit März zweifellos der fortgeschrittendste Punkt der „organischen Krise“ und der aktuellen Entwicklung des Klassenkampfes in den zentralen Ländern. Jetzt hat unsere internationale Strömung zum ersten Mal strukturierte Gruppen auf dem alten Kontinent und deshalb Möglichkeiten zur direkten Intervention in diesen Prozess.

Die Konferenz entscheidet, die notwendigen Kräfte und Ressourcen zur politischen Intervention und zur Entwicklung der FT in diesen Ländern zur Verfügung zu stellen.

2. Über die digitalen Tageszeitungen als eine Stimme auf nationaler und internationaler Ebene

Das internationale Netzwerk digitaler Tageszeitungen hat eine große Entwicklung gemacht. Aktuell gibt es elf Zeitungen und fünf Sprachen (sowie die türkische Sektion der Genoss*innen von RIO aus Deutschland). Wir sind die einzige internationale Strömung die ein solches Projekt angestoßen hat. Die Entwicklung des Netzwerks steht im Dienst des Aufbaus einer Internationale der sozialistischen Revolution, was für uns den Wiederaufbau der IV. Internationale auf revolutionärer Grundlage bedeutet.

Die X. Konferenz konstatiert, dass die Zeitungen ermöglicht haben, dass die Organisationen der FT-CI auf unterschiedlichem Niveau eine Stimme auf der nationalen politischen Bühne ihrer jeweiligen Länder erlangt haben, was eine systematische politische Agitation möglich macht.

Die PTS konnte als Organisation mit dem größten Gewicht in der FT ihre Massenagitation weiter steigern, die sie schon mit Parlamentarier*innen, Auftritten in den Massenmedien und Wahlkampagnen der FIT begonnen hatte.

In Brasilien, Mexiko, Frankreich, Chile – Länder, in denen unsere Mitgliederzahl schon in Hunderten gezählt wird – bedeutete der Start der Tageszeitungen des Netzwerks La Izquierda Diario (LID) einen Wandel, der in gewisser Weise noch wichtiger war als für die PTS: Sie erlangten überhaupt erst breite politische Sichtbarkeit.

In Frankreich hat sich die Tageszeitung Révolution Permanente in eine „Stimme der Jugendlichen und Arbeiter*innen“ verwandelt, die gegen die Arbeitsmarktreform auf die Straße gegangen sind. Die Zeitung erfährt auch breite Anerkennung unter linken Intellektuellen.

In Brasilien wurde Esquerda Diário zum Sprachrohr einer von der PT unabhängigen Position gegen den institutionellen Putsch. Sie drückte symbolisch eine Art „dritte Partei“ im in der tiefgreifenden brasilianischen Krise aus – im Unterschied zu den traditionellen Parteien der radikalen Linken wie die PSOL und die PSTU, die ihre Sympathien zwischen dem „Lager“ der Putschist*innen und dem Lulismus aufteilten. Aktuell setzt sich unsere Arbeit mit der Aufstellung eigener Kandidat*innen in den Kommunalwahlen fort.

In Mexiko machte La Izquierda Diario einen Sprung in Verbindung mit der Präsentation der unabhängigen Kandidaturen für die Verfassungsgebende Versammlung des Hauptstadtbezirks, wo es zum ersten Mal seit 25 Jahren eine unabhängige linke Kandidatur gab, als einziger antikapitalistischer Option und verbunden mit dem Kampf der Lehrer*innen.

Und in Chile bedeutet die Online-Zeitung eine größere Beziehung zur Bewegung der Studierenden und Arbeiter*innen, aktuell gegen das private Rentensystem AFP – Prozesse, die Neoreformist*innen wie Jackson oder Boric politisch kanalisieren wollen.

Auf einem anderen Niveau hat sich IzquierdaDiario.es in ein neues Medium der „extremen Linken“ im Spanischen Staat entwickelt. Zugleich mit der Entwicklung der Front „No hay tiempo que perder“ („Es gibt keine Zeit zu verlieren“, A.d.Ü.) gemeinsam mit anderen Organisationen, um dem Neoreformismus von Podemos eine antikapitalistische Alternative entgegenzustellen.

In Deutschland hat sich Klasse Gegen Klasse in Verbindung zu Jugendkämpfen aufgestellt, die sich der Fremdenfeindlichkeit entgegenstellen und für die Rechte der Geflüchteten mobilisieren. Gleichzeitig ist Klasse Gegen Klasse die einzige Publikation der deutschen Linken mit einer Sektion auf Türkisch als Muttersprache eines wichtigen Teils der migrantischen Arbeiter*innenklasse.

Mit dem Start von Left Voice hat die FT auch begonnen, ihrer Stimme im englischsprachigen Raum Gehör zu verschaffen, was einen wichtigen Schritt zur Sichtbarmachung unserer Strömung auf internationaler Ebene bedeutete. Dazu gesellen sich seit Mai dieses Jahres drei neue Tageszeitungen: LID in Bolivien, Uruguay und Venezuela.

3. Über die Tageszeitungen als „kollektiver Organisator“

Auf der Basis dieser Entwicklung diskutierte die X. Konferenz der FT, die Orientierung der Tageszeitungen zu radikalisieren, als „kollektive Organisatoren“ im leninistischen Sinne.

Die Zeitung, sagte Lenin in „Womit beginnen?“ (1901), ist nicht nur ein kollektiver Agitator, sondern auch ein kollektiver Organisator und „kann mit einem Gerüst verglichen werden, das um ein im Bau befindliches Gebäude errichtet wird; es zeigt die Umrisse des Gebäudes an, erleichtert den Verkehr zwischen den einzelnen Bauarbeitern, hilft ihnen, die Arbeit zu verteilen und die durch die organisierte Arbeit erzielten gemeinsamen Resultate zu überblicken.“

In diesem Sinn diskutierte die Konferenz, die digitalen Tageszeitungen in die erste Reihe der Entwicklung der FT-Organisationen zu stellen, je nach: Niveau der Entwicklung jeder einzelnen Zeitung, Intervention im Klassenkampf, verschiedenen politischen Phänomenen, politischen Kampagnen und politischen Kämpfen, die jede Organisation vor sich hat – gemeinsam mit den verschiedenen Gruppierungstaktiken vor Ort.

Das zentrale Ziel ist die Entwicklung revolutionärer Strömungen in der Arbeiter*innenbewegung, Schüler*innen- und Studierendenbewegung, Frauenbewegung, unter Intellektuellen etc. – und besonders die Stärkung der Fortschritte im Aufbau in der Arbeiter*innenbewegung (Proletarisierung) unserer Organisationen.

Gleichzeitig wollen wir eine enge Verbindung zwischen dem Aufbau von „Bastionen“ einerseits – die es ermöglichen, uns aufzubauen und uns an bestimmten Orten stark zu machen, nicht nur mit einzelnen Leuten „von hier und dort“ – und den digitalen Tageszeitungen andererseits aufbauen. So können wir tägliche politische Interventionen konzentrieren, damit sie allen Mitgliedern und Sympathisant*innen landesweit zugänglich sind und um unsere Politik so weit wie möglich zu verbreitern, also um breitestmöglichen Einfluss zu gewinnen.

4. Über Propaganda und Kaderbildung

Die X. Konferenz diskutierte die Wichtigkeit der Entwicklung einer aktiven Propaganda und Kaderbildung, die der politischen Entwicklung jeder einzelnen der Organisationen der FT entspricht.

Die verschiedenen Organisationen der FT befinden sich in unterschiedlichen Etappen ihrer Entwicklung, zumal sie spezifische Besonderheiten aufweisen. Der PTS aus Argentinien – die aktuell gemeinsam mit Mitgliedern, Gruppierungen und Sympathisant*innen 7.000 Genoss*innen umfasst – stellt sich die Herausforderungen des Übergangs zu einer Avantgardepartei. Im Fortschritt dorthin stellen die politischen Initiativen und der Klassenkampf Schlüsselfunktionen dar.

Für FT-Organisationen, deren Mitgliederzahl in die Hunderte geht, wozu noch Gruppierungen und Sympathisant*innen kommen, wie in Brasilien, Chile, Mexiko und neuerdings auch in Frankreich, handelt es sich auf unterschiedlichem Niveau um Ligen der Propaganda und Aktion.

Auf einem dritten Niveau befinden sich Clase contra Clase aus dem Spanischen Staat, RIO aus Deutschland und LOR aus Bolivien Propagandagruppen mit Zügen von Aktion, die schon eine Anerkennung und Tradition in der Avantgarde ihrer jeweiligen Länder haben.

Und auf einem vierten Niveau stehen die initialen Gruppen in Venezuela und Uruguay. Neu hinzu kommt die Eröffnung von Left Voice in den USA.

Die Neuheit, die die Entwicklung der digitalen Zeitungen eingeführt hat: Auf unterschiedlichem Niveau erlaubt sie den Organisationen der FT – auch über die PTS hinaus – eine breite politische Ausstrahlung.

In diesem Sinne sind die unterschiedlichen Entwicklungsebenen jeder Organisation sehr viel weniger propagandistisch, was der politischen Intervention (zum Beispiel bei der MRT gegen den institutionellen Putsch in Brasilien) und der Intervention im Klassenkampf (zum Beispiel die Intervention in Frankreich gegen die Arbeitsmarktreform) ein viel größeres Gewicht für den Fortschritt der Gruppen verleiht.

Dennoch herrscht insgesamt noch die Etappe der Kaderakkumulation vor, als Bedingung dafür, sich in verallgemeinerter Form an die Massenbewegung wenden zu können. Das impliziert die Hierarchisierung der Propaganda; je embryonaler die Entwicklung der Gruppen noch ist, desto stärker.

Aber natürlich formt die Propaganda an sich keine Kader. Deshalb die Wichtigkeit, die fundamentale Aufgabe der Kaderbildung in ihrem integralsten Sinn zu definieren, d.h. dass sich die neuen Genoss*innen, die sich mit uns organisieren, in revolutionäre Marxist*innen verwandeln, in revolutionäre Politiker*innen des Proletariats.

Die Entwicklung der digitalen Zeitungen und eine größere politische Ausstrahlung der Gruppen erlauben eine sehr viel weniger „kalte“ [also außerhalb der Hitze des Klassenkampfes stattfindende, A.d.Ü.] Kaderbildung, sondern eine sehr viel mehr an Intervention in Politik und Klassenkampf, an lebendige programmatische und strategische Debatten in Bezug auf politische Kampagnen und Tendenzkämpfe angebundene Kaderbildung; je mehr, desto mehr politische Entwicklung die Gruppe durchgemacht hat, vor allem also die PTS.

5. Über die Stärkung und Ausweitung von Left Voice

Aktuell ist Left Voice gleichzeitig die Website unserer Gruppe in Gründung in den USA und das englische Portal des Netzwerks der Tageszeitungen der FT, oder anders gesagt, es ist sowohl ein Verbreiter für die politischen, strategischen und programmatischen Debatten in den USA und unserer Positionen gegenüber den aktuellen politischen Phänomenen (wie Black Lives Matter, das Phänomen Sanders etc.), als auch ein Verbreiter der Reichweite der Politik der FT in der englischsprachigen Welt.

Die Konferenz diskutierte die Wichtigkeit, Left Voice mit einer größeren internationalen Kollaboration zu stärken, und etablierte eine Reihe von Maßnahmen in diesem Sinne, genauso wie die Stärkung der Ausstrahlung in Richtung Großbritanniens, ausgehend von den Mitgliedern der FT in diesem Land.

6. Über die Entwicklung des LID-Netzwerks in türkischer Sprache

Das internationale LID-Netzwerk hat aktuell Webseiten in fünf Sprachen, sowie eine sechste Sprache – türkisch –, die eine Sektion bei Klasse Gegen Klasse der Genoss*innen von RIO in Deutschland besitzt.

Die Konferenz beschloss, die türkischsprachige Sektion mit neuen Mithelfer*innen zu stärken, sowohl in Deutschland als auch in der Türkei. Das erste Ziel ist die Vorstellung der fundamentalen Positionen der FT als internationale Strömung bezüglich der wichtigsten politischen und Klassenkampf-Phänomene für die türkischsprachigen Leser*innen. Genauso geht es um programmatische und strategische Ausarbeitungen. Damit wollen wir eine Stimme unserer Strömung auf Türkisch schaffen.

7. Über die internationale Weiterentwicklung der Gruppierung Pan y Rosas

Die Konferenz debattierte über die politischen Massenphänomene, die sich in verschiedenen Ländern, besonders in Lateinamerika und im Spanischen Staat, gegenüber der Gewalt an Frauen ausdrücken, wie beispielsweise die Mobilisierungen #NiUnaMenos. Außerdem diskutierten wir über den anhaltenden Kampf für das Recht auf Abtreibung – eine Forderung, auf die die „postneoliberalen“ Regierungen nicht antworteten und die weiterhin offenbleibt, mit tausenden toten, verhafteten oder juristisch verfolgten Frauen in verschiedenen Ländern; genauso in zentralen Ländern, wo legale Abtreibung eine Errungenschaft ist, die von Regierungen und rechten Parteien bedroht oder eingeschränkt wird.

Wir diskutierten auch über zwei hegemoniale Sichtweisen, die – mit verschiedenen Charakteristika – die Frauenbewegung, feministische Gruppierungen und die weltweite Linke heute allgemein durchziehen. Die eine Position sieht die Frauen in einer Opferrolle und schlägt vor, dass der Staat die angebliche Lösung für die patriarchale Unterdrückung bieten sollte, insbesondere durch eine Stärkung seiner Bestrafungsmöglichkeiten. Die andere Position ist vor allem in imperialistischen Ländern und großen Metropolen vertreten und ist der Meinung, dass schon alle Rechte erkämpft worden wären und dass die Frauen schon „empowered“ wären. Sie stellen das Individuum und die Notwendigkeit der „Dekonstruktion“ disziplinierender Diskurse über den Körper und das Begehren ins Zentrum.

Entweder passen sich die Positionen der Linken vor diesem Hintergrund an den existierenden reformistischen oder radikalen Feminismus an oder an den Postfeminismus. Oder sie vertreten schließlich genauso antimarxistische Positionen, die die Besonderheit der Frauenunterdrückung, die sich nicht vollständig auf die kapitalistische Ausbeutung reduzieren lässt, verneinen. Alle drei Wege geben den Kampf auf, dass die Arbeiter*innenklasse ein revolutionäres und sozialistisches Programm der Arbeiter*innen gegen die Unterdrückung und für eine Arbeiter*innenregierung in ihrem antikapitalistischen und revolutionären Sinn erhebt und dadurch eine Allianz mit allen unterdrückten Sektoren anführt.

Auf der Grundlage dieser Debatten – die tiefgründiger waren, als wir in dieser kurzen Synthese darstellen können – beschloss die Konferenz:

a) Ein internationales Manifest von Pan y Rosas („Brot und Rosen“) zu veröffentlichen, das die wichtigsten politischen und ideologischen Kämpfe unserer Strömung revolutionärer sozialistischer Frauen sowie unsere Strategie für die Emanzipation der Frauen, die zentralen Elemente unseres Programms und unserer politischen Praxis synthetisiert, die sich vor allem an die Organisierung von Arbeiterinnen ausrichtet.

b) Eine internationale Kampagne für das Recht auf Abtreibung, fundamental in Lateinamerika, im Monat September durchzuführen, wenn der „Tag des Kampfes für die Entkriminalisierung der Abtreibung in Lateinamerika und der Karibik“ gefeiert wird.

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