Wie Long Covid und ME/CFS zur humanitären Krise werden

03.07.2022, Lesezeit 6 Min.
Gastbeitrag

Humanitäre Katastrophe um Long Covid und ME/CFS beenden: Für eine beschleunigte Zulassung von BC007 und gegen eine weitere Verzögerung der reCOVer-Studie.

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Foto: Piti Tangchawalit / shutterstock.com

Long Covid und ME/CFS kann jede*n treffen. Am häufigsten trifft es aber junge Frauen, die durch die Erkrankung in der wohl besten Zeit ihres Lebens pflegebedürftig und schwerbehindert werden. ME/CFS ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, häufig ausgelöst durch eine Virusinfektion. Betroffene der Krankheiten leiden unter ausgeprägter Schwäche, Muskelschmerzen, grippalen Symptomen und der Verschlechterung des allgemeinen Zustands nach geringster geistiger oder körperlicher Aktivität, bis hin zur körperlichen Behinderung. Die Zahl der Betroffenen wird vor Beginn der Pandemie auf ca. 17 Millionen weltweit geschätzt. In Deutschland sind es bis zu 250.000, davon 40.000 Kinder. Man geht davon aus, dass sich die Zahl der Betroffenen durch häufig sehr milde oder sogar asymptomatische Covid-19-Infektionen verdoppeln wird.

Seit über einem Jahr warten Betroffene mit Long Covid und Myalgischer Enzephalomyelitis (ME), häufig besser bekannt unter der umstrittenen Bezeichnung Chronisches Fatigue Syndrom (CFS), auf der ganzen Welt auf den Beginn der reCOVer Studie mit dem Medikament BC007 in Erlangen. Dort konnte die Wirksamkeit bestimmte GPCR-Autoantikörper zu binden, die für eine Vielzahl postviraler Beschwerden verantwortlich gemacht werden, bereits an vier Long Covid Patient*innen getestet werden. Nun soll BC007 Millionen von schwer kranken Menschen aus der Bettlägerigkeit und Pflegebedürftigkeit retten. Vor drei Wochen wurde klar, dass sie aber wohl noch länger werden warten müssen. Dabei sind offizielle Forschungsgelder sowie durch die Erkrankten selbst gesammelte Spendengelder nun endlich verfügbar. Auch die Klinik ist mit aufgestocktem Personal startklar, das Medikament zu testen.

Anfang Juni zeichnete sich aber ab, dass der Medikamentenhersteller Berlin Cures nicht wie geplant liefere. Erfahren mussten das die Betroffenen sowie das Team der Augenklinik Erlangen um Dr. Bettina Hohberger durch einen Fernsehbeitrag der „Drehscheibe“ im ZDF. Statt durch das Berliner Startup Unternehmen über die Verzögerungen informiert zu werden, herrschte lange Funkstille. Hohberger schrieb auf Twitter, Berlin Cures hätte der Klinik wochenlang nicht geantwortet. In dem Fernsehbeitrag machte der Geschäftsführer von Berlin Cures, Dr. Johannes Müller, dann überraschend deutlich, dass vor Herbst 2022 nicht mit der Medikamentenauslieferung zu rechnen wäre. Es fehle wohl die Zustimmung einer Behörde. Gleichzeitig wurde bekannt, dass Berlin Cures nun eine eigene – wohlmöglich internationale – Studie mit BC007 zu einem späteren Zeitpunkt plane. Eine zusätzliche Studie ist sicherlich im Interesse aller Beteiligten. Verwunderlich bleibt jedoch die wochenlange Funkstille, der die Uniklinik Erlangen ausgesetzt wurde sowie die anhaltende Geheimnistuerei um die Umstände der Behördenzulassung und der plötzlich selbst initiierten Studie.

Erst nachdem der CSU Bundestagsabgeordnete Erich Irlstorfer ein virtuelles Gespräch zwischen den Akteur*innen initiierte, stellte Berlin Cures klar, dass sie wohl liefern werden. Nun allerdings erst voraussichtlich im vierten Quartal 2022. Zunächst galt die Zusage den versprochenen Long Covid und ME/CFS-Medikamenten. Heimlich wurde allerdings seine online einsehbare Stellungnahme geändert. Von der Lieferung der Medikamente für ME/CFS ist jetzt keine Rede mehr. Der entsprechende Satz, der die Lieferung des ME/CFS-Kontingents zusicherte, wurde ersatzlos gestrichen. Dr. Bettina Hohberger bestätigte auf Nachfrage via Twitter, dass die Klinik wohl tatsächlich nach aktuellem Sachstand keine Medikamente mehr für die ME/CFS-Studie bekommen werde. Die Gründe für die Planänderung durch Berlin Cures seien ihr nicht bekannt. Sie selbst zeigt sich schwer enttäuscht und bittet die ME/CFS-Community um Nachfrage bei Berlin Cures. Mit den derzeitigen Mitteln und zugesicherten Medikamenten können aktuell lediglich 30 Long Covid-Patient*innen im Rahmen der Studie mit BC007 behandelt werden. Das zeigt die Notwendigkeit politischen Drucks.

ME/CFS wurde jahrzehntelang in der Forschung vernachlässigt. Trotz der zunehmenden Fallzahlen investiert die Bundesregierung auch jetzt nicht ausreichend, um die Forschungslage zu verbessern. Ebenso bleibt die medizinische Versorgungslage für die Erkrankten prekär. Aufgrund der Unbekanntheit der Erkrankung ist selbst der Weg zur Diagnose schwer und langwierig, für viele unmöglich. Ämter und Versicherungen erkennen ME/CFS zudem häufig nicht an. Schwer kranke Menschen werden so zusätzlich in die Armut gedrängt und erhalten keine medizinischen Hilfsmittel. Sie vegetieren ohne Unterstützung in abgedunkelten Zimmern vor sich hin.

Diese humanitäre Katastrophe muss beendet werden: Die Politik ermöglichte problemlos Notfallzulassungen für Impfstoffe, um vor schweren Akutverläufen und Tod zu schützen. Allerdings verliert man mit ME/CFS sein Leben nach einer Infektion auch ohne daran zu sterben: Es braucht jetzt politischen Druck, um weitere Verzögerungen der reCOVer-Studie zu verhindern und eine beschleunigte Zulassung von BC007 zu ermöglichen. Die Gewerkschaften und die Linke müssen ernsthaft über die Thematik diskutieren und sie in ihre politische Praxis mit aufnehmen. ME/CFS-Erkrankte sind überwiegend arbeitsunfähig, armutsbetroffen und aufgrund der Schwere der Erkrankung unfähig selbst für ein besseres Leben zu kämpfen. Die Linke muss stellvertretend öffentlich machen, was sich hinter den abgedunkelten Fenstern abspielt und die Verantwortlichen für die fehlende Versorgung zur Rechenschaft ziehen. Die Thematik hat es fast 60 Jahre nach Anerkennung der Krankheit mittlerweile zumindest in Koalitionsverträge von Bund und einigen Ländern geschafft. Von links muss nun der Druck kommen, die Verpflichtung zu besseren Versorgungsstrukturen auch ausreichend umzusetzen. Grundsätzlich gilt auch immer wieder zu erwähnen: Profite mit Medikamenten dürfen nicht auf Kosten schwerkranker Menschen erwirtschaftet werden und niemals zu Verzögerungen bei bestehender Heilungsaussicht führen!

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Quellen:

Vortrag des UK Erlangen zum Zusammenhang von Augen und Long Covid

https://www.fau.tv/clip/id/39762

Tweets von Dr. Hohberger

https://twitter.com/dr_b_hohberger/status/1532263045371768832?s=21&t=8cQFlsWLLNaIO1XyzRPfGQ

https://twitter.com/dr_b_hohberger/status/1532263367527780354?s=21&t=8cQFlsWLLNaIO1XyzRPfGQ

Tweets von Berlin Cures

https://twitter.com/berlincures/status/1533140671103647744?s=21&t=tpjdLxJaFnbO5IpngGK8XA

ZDF-Beitrag “Drehscheibe” vom 01.06.2022

https://www.zdf.de/nachrichten/drehscheibe/medikamente-gegen-long-covid-was-wurde-daraus-100.html

Offener Brief der ME/CFS Fundraiser zum aktuellen Sachstand der Medikamentenstudie BC007

https://wir-fordern-forschung.org/wp-content/uploads/2022/06/OFFENER_BRIEF_FINAL_220602b.pdf

Auswertung des virtuellen Gesprächs

https://irlstorfer.de/wp-content/uploads/2022/06/Information_AktuellerSachstand_BC007_MdBIrlstorfer_aktuell.pdf

Was ist ME/CFS?

https://www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/

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