Weniger Rechte, größere Abschottung

11.09.2015, Lesezeit 10 Min.
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// KOALTIONSGIPFEL: Am vergangenen Sonntag trafen sich die Spitzen der Großen Koalition, um über die „Flüchtlingskrise“ zu beraten. Ihre Antwort ist eindeutig und entblößt die Rufe nach „Solidarität“ und „universellen Menschenrechten“ als pure Heuchelei. Stattdessen verschärft sie die Asylgesetzgebung weiter und greift die Rechte der Geflüchteten an. //

Mit dem Koalitionsgipfel, der am Sonntag inmitten einer Zuspitzung der europäischen „Flüchtlingskrise“ stattfand, wollte die Regierung die politische Initiative zurückgewinnen. Die fremdenfeindlichen Angriffe auf Geflüchtete, von denen die rassistischen Ausschreitungen von Heidenau vor knapp drei Wochen der extremste Ausdruck waren, hatten das politische Klima im Land geprägt. Doch die große Hilfsbereitschaft angesichts der aus Ungarn kommenden Geflüchteten und die massive Demonstration mit fast 10.000 TeilnehmerInnen in Dresden gegen die Asylpolitik der Regierung machten die enorme Solidarität der Bevölkerung deutlich.

In den vergangenen Tagen erlebten wir dramatische Episoden: 71 in einem LKW erstickte Geflüchtete; der an die türkische Küste gespülte Aylan, der mit seiner Familie vor dem Krieg fliehen wollte und mit seinem tragischen Tod die ganze Welt erschütterte; und das Hin-und-Her zwischen der deutschen und der ungarischen Regierung, die zeitweise die Weiterreise tausender Geflüchteter aus Budapest über Österreich ermöglichte, dann die Grenzen sperrte, um die Geflüchteten unter Zuhilfenahme von Repression in Lagern einzusperren, bis am vergangenen Wochenende doch 20.000 Geflüchtete nach Deutschland gelassen wurden.

Heuchlerischer „Humanismus“

Die deutsche Regierung stellte sich in den letzten Tagen gemeinsam mit der französischen Regierung als Hüterin der „europäischen Werte“ der „Solidarität und Menschenrechte“ dar und grenzte sich damit von den Hardlinern aus Großbritannien und Osteuropa ab, die ihre rassistischen Gesetze gegen Geflüchtete verschärften und Grenzkontrollen erhöhten. Doch der Blick auf die Ergebnisse des Koalitionsgipfels entlarvt den zynischen Diskurs als pure Heuchelei. Auch in Deutschland hat die kapitalistische politische Kaste nur eine Antwort auf das Leid der Geflüchteten.

Die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bekräftigte, dass Deutschland in diesem Jahr Hunderttausend weitere Geflüchtete aufnehmen wird. Dafür stellt der Bund sechs Milliarden Euro zur Verfügung, von denen die Hälfte an die Länder und Kommunen gehen wird. Doch dies wird auf Kosten größerer Einschränkung für die „illegalen Einwanderer“ ermöglicht. Die wichtigsten Beschlüsse des Koalitionsgipfels stellen einen weiteren Angriff auf das Asylrecht und die Bedingungen der Geflüchteten in Deutschland dar.

Die Aufnahme von Albanien, Kosovo und Montenegro in die Liste der „sicheren Herkunftsstaaten“ macht es für Geflüchtete aus dem Balkan unmöglich, in Deutschland Asyl zu bekommen. Damit gibt die Regierung der rassistischen Hetze gegen die „Wirtschaftsflüchtlinge aus dem Westbalkan“ nach. Die Region ist noch immer von den schweren Auswirkungen der NATO-Intervention Ende der 90er Jahre gezeichnet. Die kapitalistische Krise traf sie deshalb besonders hart. Die deutsche Regierung wird die Hunderttausenden, die vor politischer sowie ethnischer und religiöser Verfolgung, Arbeits- und Perspektivlosigkeit fliehen, von nun an noch schneller abschieben.

Zur Beschleunigung der Abschiebungen wurden eine Reihe weiterer Beschlüsse gefasst, wie die Verlängerung der Aufenthaltszeit in Erstaufnahmelagern von drei auf sechs Monate und im Falle von Geflüchteten, deren Aussichten auf Asyl als gering eingeschätzt werden, für die gesamte Zeit des Aufenthalts. Zudem werden 2.000 neue Beamte im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) und 3.000 bei der Bundespolizei eingestellt, um die Beantwortung der Anträge und ihre Durchführung zu beschleunigen. Mehr Geld für den Repressionsapparat, um die Geflüchteten noch schneller und „effizienter“ abzuschieben.

Zudem kommt eine Reihe von Initiativen der Landesregierungen, wie die Eröffnung von „Abschiebelagern“ an der bayrischen Grenze oder „Ad-hoc-Abschiebungen“ in Sachsen-Anhalt, die in die gleiche Richtung gehen.

Zu der Beschleunigung des Abschiebeprozesses kommen weitere Angriffe auf die Bedingungen der Geflüchteten hinzu. Das schon geringe Taschengeld von 140 Euro wird durch Sachleistungen ersetzt und im Falle derjenigen, die keinen Asylbescheid bekommen, stark gekürzt. Außerdem wird die reaktionäre Residenzpflicht, die die Bewegungsfreiheit der Geflüchteten einschränkt, auf sechs Monate erweitert.

Zusätzlich sollen die Bau- und Vergabestandards gesenkt werden, um Platz für mehr als 150.000 Geflüchtete in Erstunterkünften zu schaffen. Die Bundesregierung ermöglicht also, dass Geflüchtete in Unterkünften mit nicht ausreichenden Brandschutzbedingungen untergebracht werden, während es täglich neue Schlagzeilen über Brandanschläge auf eben diese Unterkünfte gibt.

All diese Maßnahmen sollen die Abschiebungen beschleunigen und die Bedingungen der Geflüchteten verschlechtern, um sie davon abzuschrecken, überhaupt erst nach Deutschland einzureisen. Eine klare reaktionäre Offensive, die die Regierung hinter ihrem heuchlerischen Doppeldiskurs versteckt. Diesen rechtfertigt sie mit einigen Maßnahmen.

Auf der einen Seite wurde auf dem Koalitionsgipfel beschlossen, 400 Millionen Euro für die Nachbarstaaten Syriens zur Verfügung zu stellen. In Ländern wie Jordanien, der Türkei und dem Libanon kamen im Zuge des syrischen BürgerInnenkrieges und dem Aufstieg des Islamischen Staates (IS) Millionen SyrerInnen an, deren Zeltstädte sich in riesige Städte verwandelten. In diesem Rahmen sind die zusätzlichen 400 Millionen Euro nur ein Tropfen auf den heißen Stein, der das Leid der Millionen Opfer von Krieg und Elend, verursacht durch die imperialistischen Militärinterventionen der vergangenen Jahrzehnte, nicht mindern wird.

Auf der anderen Seite wurden einige Maßnahmen beschlossen, um zehntausende Geflüchtete besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Damit greift die Regierung Forderungen von KapitalistInnenverbänden wie der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) auf. Zu diesem Beschlüssen gehört die Ermöglichung „legaler Migration“ aus dem Westbalkan mit einem tarifbindenden Arbeitsvertrag, die Unterstützung von Deutschkursen zur Jobfindung und die Aufhebung des Verbotes von Leiharbeit für Geflüchtete. Die deutsche Bourgeoisie hat ein Interesse an der „Integration in den Arbeitsmarkt“ von Geflüchteten, die häufig gut ausgebildet sind und zu niedrigen Löhnen ausgebeutet werden können. Damit geht es ihr jedoch nicht um ein gleichberechtigtes und würdiges Leben der Geflüchteten, sondern darum, mittels Lohndumping die Lebensbedingungen der gesamten ArbeiterInnenklasse anzugreifen.

Auf europäischer Ebene bekräftigen die Koalitionsspitzen ihr Bekenntnis zur „Flüchtlingsquote“, die von Frankreich unterstützt wird, aber vor allem auf Kritik aus Osteuropa und Großbritannien stößt. Gleichzeitig halten sie weiter an den Dublin-Gesetzen fest und bezeichneten die Grenzöffnung für Geflüchtete aus Ungarn vom vergangenen Wochenende als eine „außergewöhnliche Notlösung“. Die „Flüchtlingskrise“ hat die Europäische Union schwer erschüttert, die Nationalgrenzen werden verschärft kontrolliert, die gemeinsamen Regelungen wie die Dublin-Gesetze untergraben und es formieren sich Blöcke mit entgegengesetzten Interessen zwischen den Ländern.

Das auf dem Gipfel erarbeitete Gesetzespaket soll in den nächsten zwei Monaten in Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden. Damit will die Regierung den Diskussionen um die Lösung der „Flüchtlingskrise“ in Deutschland ein Ende setzen und ihre reaktionären Pläne durchsetzen.

Rassistischer Konsens der herrschenden Parteien

Noch am Wochenende zuvor hatte die CSU die Entscheidung Merkels, zeitweise die Grenze für die aus Ungarn strömenden Geflüchteten zu öffnen, hart kritisiert. Damit hatte sie erneut ihre Rolle als rassistische Opposition gegen die gesteigerte Einwanderung eingenommen und deutlich gemacht, das sie zu allem bereit sind, um diese zu verhindern. Horst Seehofer (CSU) sagte dazu: „Wir können nicht als Bundesrepublik auf Dauer bei 28 Mitgliederstaaten beinahe sämtliche Flüchtlinge aufnehmen“, und warnte vor der „Sog-Wirkung“ der Aussagen Merkels.

Dabei verschweigt er natürlich, dass der deutsche Imperialismus direkt dafür verantwortlich ist, dass die Geflüchteten nicht in Griechenland oder dem Balkan Schutz vor Hunger und Krieg suchen, da diesen Regionen durch die deutsche Regierung ähnliche Bedingungen aufgezwungen wurden.

Auf der anderen Seite machte auch die SPD erneut deutlich, dass auch sie Teil des reaktionären Konsens ist, der die Rechte und Möglichkeiten der Geflüchteten einschränken möchte und sich ihre Lösung der „Flüchtlingskrise“ durch die Einführung eines „Einwanderungsgesetzes“ nur oberflächlich von der ihrer Koalitionspartner unterscheidet. So sagte Sigmar Gabriel (SPD) nach dem Koalitionsgipfel, das Ergebnis sei von „Zuversicht und Realismus“ geprägt. Der „Realismus“ der Regierung besteht in der „Zuversicht“, durch die zunehmende Verschärfung der Asylgesetze und einem Diskurs, der die „europäische Solidarität“ beschwört, der humanitären Katastrophe der Geflüchteten ein Ende zu setzen.

Die positiven Bezüge des SPD-Vorsitzenden auf die große Hilfsbereitschaft, mit der tausende Geflüchtete in den letzten Tagen in Deutschland empfangen wurden, sind vollkommen scheinheilig. Erstens ist es seine Partei, die die Geflüchtetenbewegung und ihre UnterstützerInnen in den vergangenen Jahren reprimierte und politisch für die Abschiebungen und unmenschlichen Bedingungen in den Geflüchtetenunterkünften verantwortlich ist. Zweitens hat genau diese Politik der Repression, Entrechtung und Isolation zum Anstieg rassistischer Gewalt geführt. Drittens wird die materielle Unterstützung von Tausenden im ganzen Bundesgebiet erst nötig, weil die Regierung nicht dazu bereit ist, die grundlegendsten Mittel bereitzustellen.

Um das Maßnahmenpaket möglichst schnell umzusetzen, benötigt die Regierung jedoch die Unterstützung der Grünen im Bundesrat. Schon im vergangenen Jahr stimmte Winfried Kretschmann aus Baden-Württemberg für Verschärfungen der Asylgesetze und auch diesmal zeigt sich die Spitze der Grünen bereit, weitere Angriffe auf die Geflüchteten mitzutragen. Cem Özdemir urteilte nach dem Gipfel, es sei „einiges dabei, was in die richtige Richtung geht“.

Tatsächlich wurde diese Richtung schon in den Tagen zuvor von der CDU vorgegeben. Zuerst bezog Merkel in ihrer alljährlichen Sommerpressekonferenz Stellung, in der sie die „Flüchtlingskrise“ als nationale Aufgabe bezeichnete. Auch Finanzminister Wolfgang Schäuble räumte ihr in der Debatte um den Haushalt 2016 einen hohen Stellenwert ein. Die meisten Maßnahmen wurden vorher von Innenminister Thomas de Maiziere vorgelegt.

Für eine Alternative gegen die rassistische Gewalt und die heuchlerische Politik der Regierung!

Mit dem angekündigten Gesetzespaket wird sich die Situation der hunderttausenden Geflüchteten, die nach Deutschland kommen, nicht verbessern, sondern weiter verschlechtern. Die katastrophale Situation in den Lagern, die Entrechtung, die Ausbeutung, all dies wird sich vertiefen. Auf der Grundlage der Verschärfung der Asylgesetze werden auch die rassistischen Ausschreitungen im ganzen Land, die oft straffrei vonstatten gehen, nicht aufhören.

Der fremdenfeindlichen Offensive der Großen Koalition, die die Unterstützung aller bürgerlicher Parteien findet, müssen die linken Organisationen, die Geflüchteten, die ArbeiterInnen und die kämpferische Jugend eine massive demokratische und anti-rassistische Bewegung entgegenstellen. Sie muss die große Hilfsbereitschaft gegenüber den Geflüchteten, die sich überall in den „Willkommensinitiativen“ ausdrückt, in eine soziale Kraft umwandeln, die unabhängig von den bürgerlichen Parteien gegen die reaktionären Gesetze der Regierung und die rassistische Gewalt auf der Straße kämpft.

Es braucht sofort einen Notfallplan, der Forderungen wie die Schließung aller Lager und Abschiebeknäste, den sofortigen Stopp aller Abschiebungen und Bleiberecht für alle, volle politische und soziale Rechte, die massive Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus, die Wiedereinführung und Erhöhung der finanziellen Unterstützung der Geflüchteten, kostenlose Deutschkurse, die Öffnung aller Schulen und Universitäten für Geflüchtete, das Recht auf würdige Arbeit und Ende der prekären Beschäftigung beinhaltet.

Die Gewerkschaften müssen die Geflüchteten in ihre Reihen aufnehmen und gemeinsam mit allen sozialen, linken und Organisationen der MigrantInnen und Jugendlichen einen Kampfplan erarbeiten, um der Regierung diese Forderungen aufzuzwingen. Die „Flüchtlingskrise“ macht deutlich, dass die herrschende Klasse mit ihren reaktionären und repressiven Gesetzen und der Abschottung den Rassismus und die Xenophobie verstärken und das Elend der hunderttausenden Geflüchteten nicht lösen wird.

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