Was hätte Rosa Luxemburg zur „Wirtschaftsdemokratie“ gesagt?

14.05.2023, Lesezeit 8 Min.
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Bei der Konferenz zur Gewerkschaftlichen Erneuerung ging es auch über die notwendige Antwort der Arbeiter:innenklasse auf die kapitalistischen Krise. Dabei stellte ein Referent die Vision einer “öko-sozialen Wirtschaftsdemokratie” in den Mittelpunkt. Ein Kommentar.

Die Eröffnungsveranstaltung thematisierte die Antworten auf die multiplen Krisen (Wirtschaft, Klima, Gesundheit, Krieg usw.) des Kapitalismus. Der geschäftsführende Vorstand von IG Metall, Hans-Jürgen Urban hielt einen Vortrag, der sich auf sein neues Buch “Krise. Macht. Arbeit. Über Krisen des Kapitalismus und Pfade in eine nachhaltige Gesellschaft” bezog.

Urban argumentiert, dass die Krisen des Kapitalismus besonders seit der Finanzkrise 2008 große Herausforderungen für die Gewerkschaften mitbringen. Wenn die Arbeiter:innenbewegung diese nicht meistern sollte, besteht die Gefahr, dass die “Demokratie” seitens rechtspopulistischer und faschistischer Kräfte untergraben wird. Besonders im Zuge der Corona-Krise und des Ukraine-Kriegs wäre die politische Krise vertieft worden. Dagegen schlägt er eine Gewerkschaftspolitik unter drei Säulen vor: 1. Aufklärung der Tatsachen für die breiten Massen der Arbeiter:innen und Organisierung einer gegenseitigen Solidarität; 2. Organisierung von Widerstandskämpfen gegen die Angriffe auf die Lebensgrundlagen der Arbeiter:innenklasse, und 3. Perspektive einer systemischen Alternative zu dem Raubtier-Kapitalismus.

Diese Alternative sei der Aufbau einer “öko-sozialen Wirtschaftsdemokratie”. Es ist eine sozialdemokratische Vision der starken Reform des Kapitalismus, die auf staatlicher Regulierung, Eingrenzung der Kapitalakkumulation und einer Demokratisierung der Wirtschaft basiert. Im Aufsatz „Wirtschaftsdemokratie als Transformationshebel“ erläutert Urban die grundlegenden Elemente und Strategien für die Einführung der „Wirtschaftsdemokratie“. In Betrieben herrscht laut Urban eine “Diktatur”, sodass die Kapitalist:innen alle Produktionsmittel besitzen und keine Mitbestimmung in der Produktion existiert.

Im Gegenzug dazu soll die kapitalistische Ökonomie so weit demokratisiert werden, dass sie letztlich überwunden wird. Dabei soll die Demokratie sich als “einzig bewährte Methode“, die Interessen in der Gesellschaft und Natur in Einklang zu bringen und soziale Gruppen zu verständigen, gelten. Also einen demokratischen Weg in den “Sozialismus”, in dem jedoch die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse letztlich nur begrenzt statt aufgehoben sind.

Wirtschaftsdemokratie vs. Sozialismus

Hier treten jedoch die ersten Probleme von den Erfolgsabsichten einer solchen reformistischen Strategie auf, die die Sozialdemokratie bereits in unterschiedlichen historischen Episoden verfolgt hat. Erstens existiert das Problem, dass es nicht möglich ist, die Kapitalist:innenklasse für Reformen, die ihre Profitinteressen und Wirtschaftsmacht eingrenzen, zu überzeugen. Ein friedlicher Übergang von der “Diktatur des Kapitals”, von der Urban richtigerweise spricht, in eine “Demokratie der Gleichen“ ist nicht möglich. Im Gegenteil setzt das Kapital sich dagegen zur Wehr mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung steht. Der Staat soll laut Urban dabei als eine Garantie dienen, dass die sozial-ökologischen Regulationen und Strukturreformen der kapitalistischen Wirtschaft durchgesetzt werden.

Das führt uns jedoch direkt zum zweiten Problem, ausgelöst durch den Charakter des kapitalistischen Staates. Theorien der “Wirschaftsdemokratie” haben ihren Urprung in den Ideen des sozialdemokratischen Theoretikers Rudolf Hilferding von 1915. Sein “organisierter Kapitalismus” basiert auf der Prämisse, dass die kapitalistische Staatsmacht im Kampf der gesellschaftlichen Klassen ein “neutraler” Akteur sei, dessen Inhalt je nach der Ausrichtung ihrer Regierung geändert werden kann. Dadurch sei es nicht notwendig, einen politischen Kampf gegen den Staatsapparat zu führen, sondern eben den Sozialismus durch parlamentarische Wege und Reformen einzuführen.

Urban distanziert sich jedoch ebenfalls von den Ideen der alten Wirtschaftsdemokratie, die die Einführung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung als ihr Endziel deklarierten: “Weder kann das Sozialismus-Ziel als Konsens aller derer unterstellt werden, die als Protagonisten wirtschaftsdemokratischer Reformen gewonnen werden müssen; noch existiert in der Linken der Gegenwart eine hinreichende Idee von dem, was nach dem Scheitern der Systeme des bürokratischen Staatssozialismus heute unter einer sozialistischen Ökonomie und Gesellschaft verstanden werden sollte.”

In der Tat müssen von Erfahrungen der Sowjetunion und der DDR, als Arbeiter:innenstaaten, die richtigen Lehren gezogen werden. Jedoch die Schlussfolgerung, dass der Sozialismus anhand der Erfahrungen nicht mehr als Ziel deklariert werden darf, ist unserer Meinung nach grundfalsch. Die Sowjetunion ging aus der russischen Revolution hervor, die nicht von Anfang an einen bürokratisieren Aufbau der Wirtschaft hatte, sondern in der die Arbeiter:innenräte die politische und wirtschaftliche Macht ausübten. Nach der Bürokratisierung der Sowjetunion unter dem Stalinismus, aber auch in der DDR, war das Privateigentum an Produktionsmitteln zwar abgeschafft, jedoch ohne eine demokratische Kontrolle und Planung seitens der Arbeiter:innenklasse. Stattdessen verwalteten die Parteifunktionär:innen. Das Wirtschaftssystem war also eine bürokratische Planwirtschaft. Revolutionäre-Sozialist:innen, die gegen die Bürokratisierung in der Sowjetunion kämpften, waren für die Wiederherstellung der Macht der Arbeiter:innenräte über die Planwirtschaft.

Mosaik-Linke – ein Projekt der Niederlagen

Die „öko-soziale Wirtschaftsdemokratie“ soll sich von einer sozialistischen Wirtschaft dadurch unterscheiden, dass sie nicht die Abschaffung des gesamten Ausbeutungssystems und Privateigentums an Produktionsmittel als Ziel hat, sondern eine starke Regulierung und Begrenzung vom kapitalistischen Staat. Auch wenn es mehr Mitbestimmung in Betrieben geben soll. Was für eine politische Kraft ist denn in der Lage diese reformistische Perspektive durchzusetzen?

Urban setzt sein Argument fort: „Solange sich die Gesellschaft eine kapitalistische Ökonomie leistet, die sich durch ihre Akkumulations- und Profitzwänge als dominant erweist, werden ein nachhaltiges gesellschaftliches Naturverhältnis und Demokratie in allen Lebensbereichen Utopie bleiben.“ und meint, dass man für die Durchsetzung dieser Perspektive ein heterogenes, aber handlungsfähiges Subjekt braucht. Dieses Subjekt ist nicht etwa die Arbeiter:innenklasse, ihre Selbstorganisation, sondern eine „Mosaik-Linke“.

Diese Mosaik-Linke soll entsprechend keine eigenständige Partei sein, sondern eine breite Gesellschaftsbewegung, die aus einer Kombination von Aufbau von starken Gewerkschaftsbewegungen und linken Regierungsprojekten, die die Forderungen durchsetzten, besteht. Sie zeichnet sich ausdrücklich durch ihre strategische Unklarheit aus und ist ein Sammelpunkt sowohl von Reformist:innen, als auch von Aktivist:innen mit sozialistischen Anspruch.

Dass der kapitalistische Staat nicht einfach durch die Beteiligung von linken Kräften an einer bürgerlichen Regierung im Interesse der Arbeiter:innenklasse verwendet werden kann, sahen wir jedoch an etlichen Beispielen: von Regierungsbeteiligungen der LINKEN, die zu mehr Privatisierung und Kürzungspolitik führten, bis zur Katastrophe der SYRIZA in Griechenland, die nicht in der Lage war, das Diktat des Kapitals zu brechen.

Im Gegensatz braucht es eine Strategie, die sich dem Aufbau einer sozialistischen Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse widmet, die in eine Konfrontation mit dem Kapital geht und sich die Ersetzung der kapitalistischen Staatsmacht mit neuen Machtorganen der Arbeiter:innenklasse und die Bildung einer Arbeiter:innenregierung als Ziel nimmt.

Das Erbe von Rosa Luxemburg

Diese Debatte über Reform und Revolution ist nicht neu, sondern stellte sich auch schon am Anfang des 20. Jahrhundert. Es ist die zentrale strategische Frage innerhalb der Arbeiter:innenbewegung, wie der Kampf gegen den Kapitalismus mit welchem Ziel gestaltet werden soll. Schon 1899 kämpfte Rosa Luxemburg in ihrem Werk „Sozialreform oder Revolution“ gegen die revisionistische Theorien von Eduard Bernstein, der einen friedlichen Übergang vom Kapitalismus in Sozialismus vertrat.

Über den Charakter des kapitalistischen Staates und gegen die These der „Neutralität“ des Staates schrieb Rosa Luxemburg:

“Der heutige Staat ist eben keine ,Gesellschaft’ im Sinne der ,aufstrebenden Arbeiterklasse‘, sondern Vertreter der kapitalistischen Gesellschaft, d. h. Klassenstaat. Deshalb ist auch die von ihm gehandhabte Sozialreform nicht eine Betätigung der „gesellschaftlichen Kontrolle“, d. h. der Kontrolle der freien arbeitenden Gesellschaft über den eigenen Arbeitsprozeß, sondern eine Kontrolle der Klassenorganisation des Kapitals über den Produktionsprozeß des Kapitals. Darin, d. h. in den Interessen des Kapitals, findet denn auch die Sozialreform ihre natürlichen Schranken.” – Luxemburg:Einführung des Sozialismus durch soziale Reformenin: Sozialreform oder Revolution? (1899)

und weiter argumentierte sie gegen eine Perspektive der schrittweisen Einführung der Lenkung der kapitalistischen Wirtschaft durch gesetzliche Reformen, denn diese zielen „nicht auf die Verwirklichung der sozialistischen Ordnung, sondern bloß auf die Reformierung der kapitalistischen, nicht auf die Aufhebung des Lohnsystems, sondern auf das Mehr oder Weniger der Ausbeutung, mit einem Worte auf die Beseitigung der kapitalistischen Auswüchse und nicht des Kapitalismus selbst“ 1 ab.

Für sie war klar, dass die Armee, der bürgerliche Staat, dessen Polizei und die Gerichte auf die Verteidigung des Privateigentums an Produktionsmitteln ausgerichtet sind. Und dass es eine Illusion zu glauben ist, dass die Kapitalist:innen Gesetzesänderungen eines Parlaments akzeptieren und „ruhig auf den Besitz, den Profit, das Vorrecht der Ausbeutung verzichten.“2

Die Geschichte hat diese These nur bestätigt, im Aufbau von faschistischen Massenbewegungen und Militärputschen, die von der herrschenden Klasse finanziert und organisiert wurden, um Verstaatlichungen zu verhindern. Das sahen wir auch im Falle von der Regierung von Salvador Allende in Chile, die versuchte, ein ähnliches Modell wie die soziale Wirtschaftsdemokratie durch das Parlament durchzusetzen.

In diesem Sinne: Stellt es nicht einen großen Widerspruch dar, dass auf einer Konferenz, die von der “Rosa Luxemburg Stiftung” organisiert wird, eben genau die Ideen als Perspektive für die Arbeiter:innenbewegung gestellt werden, die von Rosa Luxemburg entschieden abgelehnt wurden?

Fußnoten

1.Luxemburg: Die Eroberung der politischen Macht in Sozialreform oder Revolution? (1899)

2.Luxemburg: Was will der Spartakusbund? (1918)

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