Warum streiken die deutschen Schauspieler:innen nicht?

26.10.2023, Lesezeit 10 Min.
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Foto: Ringo Chiu (Shutterstock)

Die massiven Streiks der Schauspieler:innengewerkschaft SAG-AFTRA in den USA schlugen medial große Wellen. In diesem Gastbeitrag beschäftigt sich der Schauspielstudent Samuel Kastell mit der gewerkschaftlichen Situation darstellender Künstler:innen in Deutschland.

In den letzten Wochen haben die Streiks der US-amerikanischen Schauspieler:innengewerkschaft SAG-AFTRA und der Autor:innengewerkschaft WGA auch hierzulande große mediale Aufmerksamkeit geschaffen. Es lohnt sich, den Blick auf die deutsche Medienlandschaft zu werfen und die gewerkschaftliche Situation Schauspielender hier zu betrachten.

Seit dem 14. Juli 2023 streiken die über 160.000 von der SAG-AFTRA vertretenen Schauspieler:innen und Medienschaffenden. Vorangegangene Verhandlungen mit dem Verband der TV- und Filmstudios AMPTP blieben ohne Einigung. Damit befanden sich mit den Mitgliedern der Writers Guild of America – diese hat Anfang Oktober einer Einigung mit den Studios zugestimmt – über 175.000 Medienschaffende in Streikpflicht. Zum ersten Mal seit langem wurde die prekäre Situation von Schauspieler:innen, Autor:innen und anderen Medienbeschäftigten in der Öffentlichkeit thematisiert.

Dass die US-amerikanischen Gewerkschaften in der Lage sind, einen Streik dieser Dimension auszurufen, liegt an ihrer Bedeutung in der Branche: Die meisten Studios haben einen Tarifvertrag mit SAG-AFTRA und stellen deren Mitglieder bevorzugt ein. Auch die Krankenversicherung läuft über die Mitgliedschaft. Daher gibt es so gut wie keine Schauspieler*innen, die nicht in der Gewerkschaft sind. Der Betrieb steht still. Aktuell ist man von einer Einigung mit den Studios noch sehr weit entfernt.

Gewerkschaftliche Situation in Deutschland

Und in Deutschland? Hierzulande laufen aktuell Tarifverhandlungen zwischen den Künstler:innengewerkschaften BFFS (Bundesverband Schauspiel e.V.), GDBA (Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger) und VdO (Vereinigung deutscher Opern- und Tanzensembles e.V.) und dem Arbeitgeberverband DBV (Deutscher Bühnenverein). Gegenstand ist der Normalvertrag-Bühne, 2002 vereinbart und rechtlich bindend für alle öffentlichen Theater. Vornehmlich gilt er für Solo-Beschäftigte (Schauspieler:innen, Sänger:innen) und Bühnentechniker:innen sowie Opernchor- und Tanzgruppenmitglieder.

Nachdem die Gewerkschaften vor zwei Jahren nach langen Verhandlungen einen Inflationsausgleich, Gagenerhöhungen und ein Stufenmodell für die Anpassung der Gehälter oberhalb der Mindestgage erreicht haben, bemühen sie sich nun um eine weitere Reform des von ihnen als „NV-Flatrate“ bezeichneten Tarifvertrags.

2022 erhöhte sich die Mindestgage von 2.000 € (seit 2018) auf 2.550 €, und 2023 auf 2.750. Die Gagenuntergrenze der Solo-Beschäftigten stieg damit in einem Jahr mehr als in den letzten 30 Jahren seit Einführung der Mindestgage 1991. Derzeit enthält der NV-Bühne keine Arbeitszeitregelungen, dies ist seit Oktober 2022 Gegenstand der Tarifverhandlungen. Bisher liest man dazu nur, dass sich die Arbeitszeit aus der Dauer der Proben und der Aufführungen oder der Ausübung der arbeitsvertraglich vereinbarten Tätigkeit ergibt. Die Verhandlungen wurden Ende Juni von den Gewerkschaften unterbrochen, da laut diesen kein Entgegenkommen des Verhandlungspartners vorhanden war.

„Das Ziel, Arbeitsbelastungen zu reduzieren und mehr Planbarkeit mit Hilfe eines Arbeitszeitrahmenmodells für die Künstler:innen zu vereinbaren, war mit dem Deutschen Bühnenverein nicht zu erreichen.“, so die Gewerkschaften in einer gemeinsamen Presseerklärung vom 27.06.2023.

In der medialen Öffentlichkeit hat man von diesen für Schauspieler:innen (und andere Bühnenbeschäftigte) maßgeblichen Entwicklungen wenig bis nichts mitbekommen. Das mag damit zu tun haben, dass es hier ausschließlich um Theater geht, nicht um Film und Streaming wie in den USA. Es gibt also weder den Film und Fernsehen eigenen Massencharakter noch vergleichbar große Mengen Kapital, die an den Verhandlungen hängen. Aber auch für Dreharbeiten gibt es in Deutschland einen Tarifvertrag: den 2013 vom BFFS, Ver.di und der Allianz deutscher Produzenten – Film und Fernsehen ausgehandelten Schauspieltarifvertrag. Der BFFS, 2006 als Interessenverband gegründet, hat sich 2010 den Status einer Gewerkschaft gegeben. Bis dahin war Ver.di FilmUnion die einzige gewerkschaftliche Vertretung für Schauspielende in Film und Fernsehen. Mit über 4000 Mitgliedern ist der BFFS nun der mitgliederstärkste Berufsverband der deutschen Kino- und Fernsehlandschaft und die größte Schauspieler:innenorganisation. Vor wenigen Tagen haben der BFFS und Ver.di angekündigt, in eine neue Tarifrunde starten zu wollen.

Die Erneuerung der GDBA

Dass die Künstler:innengewerkschaften geschlossen – und erfolgreich – den Tarifvertrag NV-Bühne neu verhandelt haben, ist zu einem großen Teil Lisa Jopt zu verdanken. Seit ihrer Wahl 2021 hat die Präsidentin der GDBA die Gewerkschaft mit Ansage umgekrempelt. Diese ist seitdem moderner, jünger und vor allem lauter. Sie setzt sich konkret damit auseinander, welche Interessengruppen sie eigentlich vertritt und spricht gezielt Angestellte, Selbstständige, Freischaffende, hybrid Beschäftigte  und Berufsanfänger:innen an. Die Mitgliederzahlen steigen, neue Landesverbände gründen sich, eine zeitgemäße Internetpräsenz ist aufgebaut worden. Die Gewerkschaft besitzt nun eine charismatische Leitung und eine Strategie, die klare Ziele beinhaltet. Selten war die GDBA seit ihrer Gründung 1871 so relevant und tonangebend wie jetzt.

Die Entwicklungen in der GDBA sind sowohl Ausdruck als auch Triebkraft eines wichtigen Selbstverständnisses in der Theaterlandschaft: Angestellte Künstler:innen sind Arbeiter:innen. Zwar ist die deutsche Theaterlandschaft hochsubventioniert – öffentliche Theater erwirtschaften keinen Gewinn – doch werden künstlerisch Beschäftigte meist unter dem Wert ihrer Arbeitskraft und dem Grad ihrer Ausbildung bezahlt. Sie sind lohnabhängig und fast stets prekär beschäftigt. Gemessen an der Entgelttabelle des TvÖD lagen die Mindestgagen von Solobeschäftigten vor 2022 in der Kategorie von ungelernten Hilfskräften und unter dem gesetzlichen Mindestlohn, betrachtet man die realistische Wochenarbeitszeit. Dementsprechend überfällig war die Erhöhung der Mindestgage im selben Jahr.

Lisa Jopt weist schon seit längerem auf Missstände hin, spätestens seit sie gemeinsam mit Johanna Lücke 2015 das ensemble-netzwerk gründete. Dieser Interessenverband für Schauspieler:innen brachte einen frischen Wind in die deutsche Theaterlandschaft und entfachte neue Diskussionen über Arbeitszeit, faire Bezahlung, Mitbestimmung, Diversität und Transparenz. 2020 bewarb sie sich dann mit einem detaillierten Schlachtplan im Gepäck und Verbündeten aus dem ensemble-netzwerk als Präsidentin der GDBA.

Prekarität darstellender Künstler:innen

Aber warum haben sich darstellende Künstler:innen bisher so lange in ihre Situation gefügt? Dass es in Deutschland noch nie Schauspieler*innenstreiks gab, mag mehrere Gründe haben:

Zum einen die besondere Art der Prekarität. Schauspieler:innen, Musicaldarsteller:innen und Opernsänger:innen erhalten an Bühnen höchstens 2-Jahres-Verträge, mit der ständigen, sehr realen Möglichkeit der Nichtverlängerung nach Vertragsablauf. Verträge verlängern sich laut NV-Bühne automatisch um ein Jahr, werden sie nicht von einem der Vertragspartner bis zum 31. Oktober der laufenden Spielzeit zur nächsten Spielzeit gekündigt. Zur Nichtverlängerung seitens der Intendanz müssen in einem Gespräch Gründe dargelegt werden – da diese aber künstlerischer Natur sein können, sind sie vor Gericht weder beweis- noch widerlegbar. Erst nach 15 Jahren ununterbrochener Beschäftigung an einem Theater kann der Vertrag nicht mehr gekündigt werden.

Damit handelt es sich bei der Anstellung am Theater eigentlich um einen Kettenvertrag, wie sie in anderen Branchen längst nicht mehr erlaubt sind. Bei einem Intendant:innenwechsel besteht sogar ein Sonderkündigungsrecht; hier kann durch die neue Intendanz auch ohne Angabe von Gründen der Vertrag aufgelöst werden. Alles im Namen der künstlerischen Freiheit der Intendanz. Lautstarker, öffentlicher Protest kann ein Mittel des Widerstands sein, sich aber ebenso sehr karriereschädigend auswirken; die Theaterwelt ist klein und Theaterleitungen untereinander bestens vernetzt.

Dementsprechend haben zwei Fälle von Union Busting in Leipzig und Naumburg Ende 2022 Aufsehen erregt. Die Leipziger Ensemble-Mitglieder Julia Preuß und Katharina Schmidt wurden nach ihrer Nicht-Verlängerung mit Hausverbot belegt, angeblich wegen “Störung des Hausfriedens”. Einige Tage später wurde in Naumburg der Schauspieler Antonio Gerolamu Fancellu als Reaktion auf das Organisieren einer Kampagne fristlos entlassen und ebenfalls mit Hausverbot belegt. Auch wenn eine solche Aktion wie im letzteren Fall vom Arbeitsgericht wieder rückgängig gemacht wird, erzielt sie doch nachhaltig Wirkung bei Arbeitnehmer:innen.

Wahrnehmung und Wirklichkeit

Neben diesem sehr materiellen Druck spielt auch internalisierte “Schauspiel-Folklore“ eine Rolle; schon im Schauspielstudium fallen Sprüche wie „Augen auf bei der Berufswahl“, wenn Zustände kritisiert werden; man wisse doch, dass das Business ein hartes sei und die Kunst eine brotlose – und schließlich wird man für die schwierigen Bedingungen mit dem Gefühl von Freiheit belohnt, sich Künstler:in nennen zu dürfen. Im unter jungen Künstler:innen noch immer wirkmächtigen Bild der Bohemiens wird Armut sogar romantisiert.

Schauspieler:innen sind eine historisch arme Berufsgruppe; heute könnte die Kluft zwischen öffentlicher Wahrnehmung und gelebter Realität jedoch kaum größer sein. Die Darstellung des Berufs in den Medien ist stark geprägt durch Glanz und Glamour, roten Teppich und Boulevardpresse. Es wird suggeriert, es handle sich um fröhliche Gutverdiener, die ständig Filme drehen, Interviews geben und durch Fernsehshows ziehen. Mit der Lebensrealität des Großteils der Schauspielenden hat dieses Bild nicht viel zu tun: Laut einer Befragung der Uni Münster halten sich mehr als ein Drittel aller befragten Schauspieler:innen mit fachfremden Beschäftigungen über Wasser, jede:r fünfte wird von der Partner:in unterstützt.

Gerade Film- und Fernsehschauspieler:innen arbeiten in befristeten Beschäftigungen mit zum Teil sehr kurzer Laufzeit, die meist von längeren Phasen der Erwerbslosigkeit unterbrochen sind. Sie sind ihre eigene Ware geworden, die sie vermarkten müssen, möchten sie auf dem Markt überleben. Der Druck zur permanenten Selbstoptimierung ist hoch, der erlebte Konkurrenzdruck ebenso. Ist man mit Dumpinglöhnen konfrontiert – was häufig geschieht – weiss man, dass irgendjemand den Job für das Geld schon machen wird. Das erschwert es, Haltung zu bewahren und konsequent den Preis zu verlangen, den man wert ist, wenn man ständig auf der Suche nach Verdienstmöglichkeiten im eigenen Berufsfeld ist.

Hier lohnt der Blick zurück in die USA: Der Gewinn, den Disney, Amazon-Prime, Netflix etc. einfahren, wird von Autor:innen, Beleuchter:innen, Regisseur:innen, Maskenbildner:innen, Schauspieler:innen, Designer:innen, Grafiker:innen uvm. erwirtschaftet. Ihrem berechtigten Streik gilt unsere volle Solidarität. Auch in Deutschland finden viele Produktionen im Auftrag dieser Firmen statt. Zwar besitzen die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender große Marktanteile (über 50 % Einschaltquote), womit nicht alle künstlerische Produktion nur auf den Profit abzielt. Doch auch hier haben sich die Gagen in den letzten Jahren stark zurückentwickelt, wenn gespart wird, dann zuerst dort.

Der geringere Grad der gewerkschaftlichen Organisierung in Deutschland mag ein Grund sein, warum bisher nie gestreikt wurde. Dass im Film- und Fernsehbereich aktuell nichts Vergleichbares geschieht, liegt aber auch daran, dass es eine EU-Richtlinie gibt, nach der Leistung angemessen vergütet werden muss – dadurch konnten Folgevergütungen mit Netflix ausgehandelt werden. Bezüglich KI sind die Sorgen der Schauspieler:innen und Synchronsprecher:innen hier dieselben wie in den USA. Abgesehen davon ist angekündigt worden, dass die pausierten Tarifverhandlungen für den NV-Bühne noch dieses Jahr wieder aufgenommen werden.

Ich schreibe dies als Schauspielstudent mit dem Wunsch, mir keine Gedanken machen zu müssen, ob nach 30 Berufsjahren meine Rente reichen wird. Oder ob ich guten Gewissens eine Familie gründen kann, obwohl ich jederzeit nicht verlängert werden könnte. Viele meiner Kommiliton:innen und Kolleg:innen umtreibt dies auch. Wir fordern, dass die darstellenden Künste nach denselben arbeitsrechtlichen Standards behandelt werden wie andere Branchen auch und dass die Kulturpolitik die gerechtfertigten Rufe nach Arbeitszeitregelung und angemessener Bezahlung unterstützt und Tariferhöhungen trägt.

Ob sich dies erfüllen wird, hängt davon ab, ob die Arbeiter:innen und Künstler:innen, die in der Theater- , Film- und Fernsehbranche ausgebeutet werden, die Zustände weiter als gegeben betrachten oder sich miteinander solidarisieren, organisieren und wehren. Dazu gehört auch, sich mit allen Arbeiter:innen zu solidarisieren.

Ich glaube, dass dem Trend zur Vereinzelung nur die solidarische  Gemeinschaft entgegengestellt werden kann, getreu dem Motto des Ensemble-Netzwerks “You are not alone”. Dies und die drei erwähnten Gewerkschaften sind dafür sinnvolle Plattformen.

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