Wahlen in der Türkei: Niederlage der Volksfront, Atempause für Erdogan

16.05.2023, Lesezeit 9 Min.
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Bild: thehakan / shutterstock.com

Am Sonntag fanden die Wahlen in der Türkei statt, allerdings blieb das Ergebnis offen. Es wird zu einer Stichwahl zwischen den nationalistischen Lagern kommen. Warum linke Parteien eine Wahlniederlage erlebten und klassenunabhängige Einheitsfront notwendig ist.

Nach der langen Wahlnacht war das vorläufige Wahlergebnis in der Türkei klar: Es wird eine zweite Wahlrunde geben. Weder der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP), noch der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) erlangten die einfache Mehrheit (also mehr als 50% aller gültigen Stimmen).

Bei den Präsidentschaftswahlen erhielt Erdoğan 49,40 Prozent der Stimmen. Kılıçdaroğlu lag knapp darunter mit 44,96 Prozent. Insgesamt gab es eine historische Wahlbeteiligung von 88,78 Prozent, somit hatten 64 Millionen Wahlberechtigte ihre Stimme abgegeben. In der Stichwahl werden sie gegeneinander antreten. Sehr überraschend waren die Wahlergebnisse des parteilosen Chauvinisten Sinan Oğan, der für das ultrarechte ATA-Bündnis kandidierte. Er erreichte 5,2 Prozent aller Stimmen. Dadurch bekommt das Bündnis eine Schlüsselrolle in der Stichwahl.

Der niemals endende Wahlabend

Gestern um 17 Uhr schlossen die Wahllokale. Nach typischer AKP-Manier lagen die ersten Prognosen der regierungsnahen Sender bei 70 Prozent für Erdoğan. Dass dies nicht der Realität entsprechen konnte, steht außer Frage. Über Stunden hinweg zog sich der Wahlprozess, die Gründe dafür sind divers: Zum Einen zählt die AKP-nahe Nachrichtenagentur Anadolu Ajans (AA) immer die Stimmen in den konservativsten Teilen der Türkei zuerst, dadurch ergeben sich die hohen Zahlen für Erdoğan zu Anfang. Anschließend verbreitete sich die Information, dass in tausenden Wahllokalen wiederholt ausgezählt werden müsse. Dies hing laut Vermutungen damit zusammen, dass die AKP in allen Wahllokalen, in welchen die Opposition führte, die Wahlvorgänge angefochten wurden. Somit wurde in manchen Wahllokalen mehr als zehn Mal ausgezählt, gerade in den Städten verzögerte das den Prozess am meisten. Das bewusste Zurückhalten der Ergebnisse ist ein Versuch, die oppositionellen Massen zu demoralisieren. Anstelle dass Menschen also schon abends den Sieg der Opposition feiern, sollen sie zuhause sitzen und bis in die Morgenstunden das Gefühl vermittelt bekommen, alles würde beim Alten bleiben. Währenddessen waren beispielsweise die Straßen in Kadıköy (linker Bezirk in Istanbul) menschenleer, aber voll mit Hundertschaften und Wasserwerfern. Allein vor dem YSP/HDP-Büro standen laut Redakteur:innen vor Ort drei Wasserwerfer und zwei Polizeibusse. Der türkische Bonaparte demonstrierte seine Macht, um die Massen einzuschüchtern, dass sie nicht auf die Straßen gehen.

Es kommen immer wieder Nachrichten vor Ort, dass die Wahlen in mehreren Städten zugunsten von Erdoğan manipuliert wurden. Deshalb drängt die Opposition darauf, die Stimmen an diesen Orten erneut zählen zu lassen.

Die Niederlage der türkischen und kurdischen Linken

Das links-reformistische Wahlbündnis Emek ve Özgürlük İttifakı (Bündnis für Arbeit und Freiheit), was sich vor allem aus der Yeşil Sol Parti (YSP, Grüne Linke Partei) und der Türkiye İşçi Partisi (TİP, Arbeiter:innenpartei der Türkei) zusammensetzt, verkündete vor den Wahlen ihr bedingungslose Wahlunterstützung für Kemal Kılıçdaroğlu. Somit traten sie ohne eigene Kandidatur für die Präsidentschafts- und nur zu den Parlamentswahlen an. Diese Entscheidung wurde unter anderem von uns, aber auch von anderen linken Kräften kritisiert. In einem vorherigen Artikel schrieben wir ausführlicher darüber. Kurz zusammengefasst, auch wenn Kılıçdaroğlu als Oppositionskandidat zu Erdoğan antritt, ist er kein linker Kandidat. Sein nationalistisches “Bündnis der Nation”-Wahlbündnis (Millet İttifakı) bestehend aus der nationalistisch-kemalistischen CHP, der rechtspopulistischen İYİ-Partei, sowie weiteren konservativ-wirtschaftsliberalen Parteien wie Deva und GP, die jeweils Abspaltungen der regierenden AKP sind.

Die CHP positioniert sich bei Themen wie der Invasion Rojavas oder der Geflüchtetenfrage chauvinistisch, behält die nationale Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung bei, bietet den Arbeiter:innen neoliberale Reformen als Antwort auf die Wirtschaftskrise an und beteiligt sich in einem Bündnis mit rechtspopulistischen Parteien. Kılıçdaroğlu betonte in seinem Wahlkampf immer wieder, dass er alle syrischen Geflüchteten in zwei Jahren abschieben würde. Der Gründer der GP, Ahmet Davutoğlu, war nicht nur 2016 Premierminister und Vorsitzender der AKP, unter seiner Regierung fanden auch die sogenannten “Hendek”-Operationen statt. Dabei gab es eine Reihe von staatlichen Massakern gegen die Selbstverteidigungseinheiten der kurdischen Jugend, für die der ehemalige Parteichef direkt verantwortlich gewesen ist.

Nun rief das Bündnis aus YSP und TİP bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen dazu auf, ihr eigenes Wahlbündnis zu wählen. Was sie wohl selbst nicht erwartet hatten: Sie erzielten die schlechtesten Ergebnisse in der Geschichte der YSP/HDP. Die HDP erzielte im Juni 2015 über 13 Prozent der Stimmen, im November 2015 fast 11 Prozent und im Jahr 2018 auch fast 12 Prozent. Die TİP trat im Jahr 2018 auf den Listen der HDP an und erhielt zwei Sitze. Bei den gestrigen Wahlen erhielt ihr Wahlbündnis insgesamt nur knapp über 10 Prozent. YSP bekommt 62 Sitze im Parlament, während die TIP auf 4 Sitze kommt. Mitverantwortlich hierfür ist sicherlich ihre Wahltaktik. Durch die Unterstützung des CHP-Kandidaten haben sie es anscheinend auch nicht geschafft, zumindest bei den Parlamentswahlen Wähler:innen für sich zu gewinnen. Gerade bei der TİP bleibt auch die Frage offen, inwiefern ein reelles Potential für einen massiven Wahlerfolg existierte oder ob es sich vielmehr um einen linken “Hype-Moment” gehandelt hat. Weder die Forderungen der kurdischen Bevölkerung wie die Wiederherstellung der gewählten Bürgermeister:innen, Ende der Polizeirepression in kurdischen Städten, noch sozialistische Forderungen wie die Beschlagnahmung des Großvermögens für die Entlastung der Bevölkerung standen im Mittelpunkt der Kampagne der YSP/TIP.

Diese anpassende Politik gegenüber dem sogenannten “6er-Tisch” (Altılı Masa) verfrachtet die türkische und kurdische Linke in die politische Irrelevanz, während den Faschist:innen eine gesonderte Rolle zukommt. Die Darstellung, es sei das notwendige Übel, was in Kauf genommen werden müsse, um Erdogan abzuwählen, ist nicht nur falsch, sondern lässt auch das Versagen der Volksfronttaktik harmlos wirken. Die Klassenunabhängigkeit spielte eine untergeordnete Frage, indem den Arbeiter:innen und Unterdrückten propagiert wurde, wie notwendig der Sieg von Kılıçdaroğlu ist, um die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie zu ermöglichen – oder genauer gesagt die Wiederherstellung der demokratischen Ausbeutung der Massen.

Die Massenparteien wie TİP (und ihr nachlaufende zentristische Organisationen) und YSP sind derart kurzsichtig, dass sie die Kraft einer über 20 Jahre regierenden bonapartistischen Diktatur gestützt auf Polizei- und Militärapparat unterschätzt haben. Sie dachten, dass sie schon in der ersten Runde abgewählt werden könnte und haben jegliche Kompromisse dafür gemacht. Doch die Wette ist verloren, weil sie nun im Parlament geschwächt und die Ultrarechte deutlich gestärkt wurden. Die türkische Linke hat durch ihre bedingungslose Unterstützung für die CHP an politischen Einfluss verloren. Zeitgleich verstärken die Ultrarechten ihren Einfluss immens durch eine unabhängige Kandidatur. Das ist ein Armutszeugnis für die türkische und kurdische Linke.

Der Wahlsieg der Ultrarechten und seine Konsequenzen

Wie bereits oben erwähnt, ist der unabhängige Kandidat des ultrarechten AKA-Bündnisses Sinan Oğan mit einem Wahlergebnis von über fünf Prozent aus der Wahl hervorgegangen. Dies stellt sie in eine Position, in der ihre Wahlunterstützung als maßgeblich für den Ausgang des zweiten Wahlgangs beschrieben wird. Die stärkste Kraft hierbei ist die proto-faschistische Zafer Partisi (Partei des Sieges), die 3 Million Stimmen bekommen hat. Ihr Wahlkampf war nur darauf ausgelegt, gegen die syrischen und afghanischen Geflüchteten und Kurd:innen zu hetzen.

Bisher traf Ogan widersprüchliche Aussagen darüber, wen er im zweiten Wahlgang unterstützen wird. Er äußerte jedoch, dass seine Unterstützung nicht kostenlos sein würde. Es geht um die Abschiebung von syrischen und afghanischen Geflüchteten und die Bekämpfung der kurdischen Bewegung. Es wird sich abzeichnen, ob es die AKP oder die CHP sein wird, die dem ultrarechten Oğan mehr Einfluss sichern.

Nein zur Volksfront, für eine Einheitsfront!

Dieses Beispiel zeigt klar, dass linken und revolutionären Kräfte sich nicht auf Allianzen mit nationalistischen Parteien einlassen dürfen, um einen größeren Nationalisten zu entmachten. Diese Volksfronttaktik führt ins Verderben. Die Volksfront entkräftet die Arbeiter:innen und Unterdrückten, indem sie zum Pazifismus gedrängt werden. Deshalb haben die Gewerkschaften seit Jahren trotz der massiven Wirtschaftskrise keinen Generalstreik organisiert.

Die Stichwahl findet am 28. Mai statt. Auch wenn Kılıçdaroğlu gewinnen sollte, wird er sein Versprechen nach Rückkehr in die parlamentarische Demokratie nicht umsetzen. Die Cumhur İttifakı (Volksallianz) hat immer noch die parlamentarische Mehrheit mit 322 Sitzen und Kılıçdaroğlu müsste dieselben bonapartistischen Maßnahmen ergreifen wie sein Vorgänger. Wenn Erdoğan gewinnt, wird sein Regime nicht von den inneren Krisen erholt sein.

Es braucht eine linke Aktionseinheit, angelehnt an die Versammlungen und Komitees in den Betrieben, Hochschulen, Gewerkschaften, Nachbarschaften, die bindende Entscheidungen haben. Das sind die Grundlagen einer Einheitsfront, die ihre Kraft von Streiks, politischen Demonstrationen, Besetzungen und Versammlungen ableitet. Es wäre fatal, bis zu den nächsten Wahlen zu warten. Erdoğan wird nicht mit Wahlen abgewählt werden, sondern mit Massenprotesten und einem Generalstreik. Es ist die Aufgabe der türkischen und kurdischen Linken, diese Vorbereitungsaufgabe wahrzunehmen. Nur die Organisierung der Massen auf den Straßen, den Universitäten, den Betrieben und der Aufbau einer sozialistischen Partei können in ihrer Wechselwirkung reelle Gegenhegemonie aufbauen.

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