„Verschwinden“ vietnamesischer Azubis: Wie staatlicher Rassismus moderne Sklaverei ermöglicht

16.10.2025, Lesezeit 5 Min.
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Symboldbild. Foto: hxdbzxy/shutterstock.com

Erneut gibt es schockierende Berichte über vietnamesische Auszubildende, die von ihren Schulen „verschwinden“. Was Arbeiter:innen und Jugendliche jetzt tun können.

In einer exklusiven Reportage berichtet die Tagesschau von „Verschwinden“ vietnamesischer Auszubildender, etwa an der Brillat-Savarin-Schule in Berlin-Weißensee. Dort taucht ein Drittel der angemeldeten Schüler:innen nicht mehr auf, keine Spur, wo sie sind. An der Schule werden 5.000 Auszubildende in der Gastronomie ausgebildet, 700 von ihnen aus Vietnam. Auffallend seien laut Schule die oft fehlenden Sprachkenntnisse, was Zweifel an den Sprachzertifikaten aufkommen lasse. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) spricht dem Bericht zufolge von vergleichbaren Fällen des „Verschwindens“ vietnamesischer Auszubildender überall in Deutschland; insgesamt kommen etwa 16.000 Auszubildende aus Vietnam, ihre Zahl steigend.

Bereits letztes Jahr berichtete die Tagesschau über die moderne Sklaverei vietnamesischer Migrant:innen in Deutschland, mit Schwerpunkt in Berlin. Der RBB zitiert das BKA damit, die jungen Zwangsarbeiter:innen werden hauptsächlich eingesetzt in den Massagestudios, Restaurants, Nagelstudios, beim Zigarettenschmuggel, in der Schlachtindustrie, in der Prostitution sowie im Drogengeschäft. Auch Minderjährige würden versklavt. Schon 2024 war von einem „systemischen Versagen“ die Rede; Deutschland erfüllt nicht einmal die Mindestanforderungen der Konvention des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels in Sachen nationaler Menschenhandelsbeauftragten und nationales Opferschutzprogramm. Offenbar dulden die Behörden die Sklaverei. 

Laut einer Recherche von rb24 übernehmen Agenturen sämtliche Formalitäten inklusive Sprachprüfung und verlangen dazu bis zu 20.000 Euro pro Person. Sebastian Riesner von der NGG spricht in der Reportage von „Schlepperorganisationen, die billige Arbeitskräfte nach Deutschland bringen“, im Zuge eines modernen Menschenhandels. Er fordert, dass ausschließlich die Bundesagentur für Arbeit die Vermittlung übernehmen solle. 

Der Staat ist Teil des Problems, nicht der Lösung

Mehr Kontrollen und Polizei sind aber nicht Bestandteil der Lösung, sondern des Problems. Die deutschen Gesetze binden den Aufenthalt in der Regel an Arbeits- und Ausbildungsverträge, weshalb vietnamesische Jugendliche und Arbeiter:innen über Ausbildungsvisa nach Deutschland kommen. In Deutschland selbst findet meist kaum kostenlose Sprachförderung statt. Die jungen Menschen sollen hier nach Willen des Kapitals überwiegend gar keine Zukunft haben, sondern in Niedrigstlohn und illegalisierten Sektoren billig oder sogar unter Sklaverei arbeiten – das ist Teil des deutschen Wirtschaftssystems. Grundlage dafür ist die Ungleichheit zwischen Deutschen (beziehungsweise EU-) und Nicht-EU-Bürger:innen, die solche Sektoren der (erzwungenen) Arbeit überhaupt ermöglicht.

Mehr Polizei und Kontrolle würden den Druck auf die migrantisch Arbeiter:innen in der Illegalität nur noch mehr erhöhen und ihre Situation noch unerträglicher machen, sie noch mehr in die Abhängigkeit organisierter Kriminalität und Bosse bringen. Nur eine Legalisierung der Einreise und gleiche Rechte für alle könnten den Markt für erzwungene Arbeit trockenlegen. Die Drohung der Abschiebung ist die ultimative Waffe für Menschenhandel, Ausbeutung und rassististische sowie sexualisierte Gewalt. Das Trockenlegen dieses Markts durch gleiche Rechte für alle ist zum einen eine Frage der Erfüllung grundlegender Menschenrechte, zum anderen auch eine Klassenfrage für alle Arbeiter:innen, da mit Niedriglohn und Sklaverei ein Lohndruck auf alle entsteht.

Es ist daher die Aufgabe der Gewerkschaften, politisch für gleiche Rechte für alle Arbeiter:innen einzutreten und dafür zu mobilisieren, in den Betrieben und Schulen aufzuklären und über die Betriebs- und Personalräte sowie Jugend- und Auszubildendenvertretungen (JAV) betriebliche Versammlungen zum „Verschwinden“ der vietnamesischen sowie anderer migrantischer Auszubildenden mit ihnen zusammen einzuberufen. Denn oft sind migrantische Auszubildende sozial isoliert, in der Pflege gibt es teils sogar Segregation in eigenen nur vietnamesischen Klassen, die dann wenig Kontakt mit anderen haben. Besondere Verantwortung tragen die NGG oder die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, in deren Organisierungsbereich die meisten vietnamesischen Auszubildenden sich befinden, aber auch die Bildungsgewerkschaft GEW, die auch die Lehrkräfte zu Maßnahmen zur Unterstützung und zum Schutz der Auszubildenden durch Selbstorganisierung der Beschäftigten aufrufen kann. Damit Sofortmaßnahmen langfristig effektiv sind, müssen Sie mit der Forderung des Bleiberechts für alle sowie der Abschaffung jeglicher Diskriminierung aufgrund der Nationalität verbunden werden. Auch Sprachförderung muss für alle Schüler:innen und Arbeiter:innen kostenlos sein und im Ausland gemachte Abschlüsse müssen anerkannt werden. Und nicht zuletzt müssen alle von einem Ausbildungsgehalt leben können.

Nur die Solidarität der Arbeiter:innen und Jugend und deren Selbstorganisation kann den strukturellen Rassismus beenden, der hier in Deutschland Sklaverei ermöglicht. Auch Arbeiter:innen und Studierende anderer Betriebe können mit Solidaritätskomitees unterstützen. Mobilisierungen und Versammlungen sollten auch linke und feministischen Parteien und Organisationen unterstützen, da die Umstände der vietnamesischen Kolleg:innen die schärfsten Formen der Ausbeutung, der rassistischen Segregation sowie der sexualisierten Gewalt in Prostitution darstellen. Sie dürfen sich dabei nicht auf den Staat verlassen, da genau dessen Behörden und Polizei Ungleichheit fördern und durchsetzen – und somit Komplizen im Menschenhandel sind. 

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