Türkische Parteien paktieren, um die HDP aus dem Parlament rauszuprügeln

05.05.2016, Lesezeit 5 Min.
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Am vergangenen Montag, den 2. Mai, versammelte sich die Verfassungskommission im türkischen Parlament anlässlich des Antrags der regierenden AKP auf eine vorübergehende Verfassungsänderung. Diese sieht die Aufhebung von Immunitäten für Parlamentsmitglieder vor. Erst wurden die Abgeordneten der HDP beschimpft und geprügelt, dann wurde der Antrag mit den Stimmen von AKP, CHP und MHP gebilligt. Die türkischen bürgerlichen Parteien paktieren, um die HDP aus dem Parlament rauszuschmeißen.

Der türkische Staatsterror unter Kommando von Staatspräsident Erdoğan gegen das kurdische Volk setzt sich fort: Nachdem der sogenannte Friedensprozess aufgekündigt wurde und das türkische Militär in einer Offensive die kurdischen Städte belagerte und die Bewohner*innen massakrierte, stehen jetzt die Abgeordneten der pro-kurdischen HDP im Parlament auf der Zielscheibe. Gegen Ende der Kommissionverhandlungen, die schon am 30. April begannen, wurden die Wortgefechte zwischen HDP und AKP zu einer handfesten Keilerei, wobei auf die HDP-Abgeordneten brutal eingeschlagen wurde.

Bereits am Mittwoch letzter Woche und am Folgetag in einer Sitzung der Verfassungskommission griffen die Abgeordneten der türkischen Regierungspartei AKP während einer Parlamentssitzung die Abgeordneten der HDP an. Die Aussagen von Davutoğlu, dem türkischen Ministerpräsidenten, veranschaulichen die heftige Dimension der „Lynchkampagne“ gegen die HDP: „Die allen bekannte Partei hat externe angeheuerte Provokateure in die Verfassungskommission eingeschleust. Diese bezahlten Provokateure werden nie wieder das Parlament betreten dürfen.“

Die HDP wäre am schwersten von der Verfassungsänderung betroffen, falls ihr im Parlament mit der nötigen Zwei-Drittel-Mehrheit zugestimmt wird. Denn gegen sie bestehen bereits mehr als 350 Anträge zur Immunitätsaufhebung. 50 ihrer 59 Abgeordneten droht die Aufhebung der Immunität. Kommt es zur Verurteilung der Abgeordneten, so wird die HDP de facto vom türkischen Parlament ausgeschlossen.

Der nächste Schritt ist die Abstimmung des Antrags im Parlament. Wenn über 330 Abgeordnete der 550 dafür abstimmen, wird es eine Volksabstimmung geben; wenn die Zahl 367 erreicht wird, wird das Gesetz sofort am selben Tag in Kraft treten. Mit der potentiellen Verfassungsänderung werden die betroffene Abgeordneten sogar das Recht auf Widerrede beim Verfassungsgericht verlieren.

„Wenn das Volk will, kann es sogar mehr als ein Parlament gründen“

Nach den heftigen Auseinandersetzungen in der Verfassungskommission verließen die HDP-Abgeordneten den Raum mit Pfiffen und Parolen. Mithat Sancar, Akademiker und Abgeordneter der HDP, gab folgende Erklärung ab: “Wir haben vor nichts Angst. Wir haben nichts zu verlieren, bis auf die Hoffnung auf Frieden und Demokratie in diesem Land. Der Beschluss dieser Kommission, uns verhaften zu lassen, wird für uns keine Schande, sondern eine Ehre sein.(…) Wir haben unser letztes Wort gesprochen. Von nun an könnt ihr dieses Theater alleine zu Ende spielen. Wir werden kein Teil dessen sein.” Es wurde auch gehört, dass sie die kurdische Revolutionshymne Çerxa Soreşe gesungen haben.

HDP-Co-Vorsitzender Demirtaş sagte am nächsten Tag in der Fraktionssitzung folgende Worte: „Aber wenn es so weit kommt, dass unsere Freund*innen festgenommen werden und deren Parlamentsmitgliedschaft entzogen wird, wird keine Option für uns unanfechtbar sein. Parlamente werden nicht von Parteien, sondern vom Volk gegründet und wenn das Volk will, kann es sogar mehr als eins gründen.“

Seit den ersten Jahren der Republik bis heute hat dieses bürgerliche verrottete Parlament durch Exekutionen und Festnahmen versucht, die Repräsentation des kurdischen Volks zu beseitigen. Diese Versuche haben weder den Widerstand gebrochen noch den Kampf zur Befreiung des kurdischen Volkes besiegt. Die Parole der von den gefangenen und gefolterten Hungerstreikenden war: „Die Ergebung führt zum Verrat, der Widerstand zum Sieg”, und ist seitdem die Parole des unterdrückten kurdischen Volkes.

Die Tatsache, dass versucht wird, die HDP durch Gesetzesänderungen aus dem Parlament rauszuschmeißen, obwohl sie legitim gewählt wurde, zeigt, dass das Parlament nicht der einzige Kampfort und die einzige Bühne sein kann. Besonders in der aktuellen Phase der Bonapartisierung des türkischen Regimes. Mit anderen Worten ist es die Pleite der Strategie, welche die HDP seit den ersten Wahlerfolgen verfolgt hat. Auch die CHP, die der AKP im Wesentlichen nur in der Frage der Einführung eines Präsidialsystems widerspricht, steht heute auf der Zielscheibe der AKP. Durch die Verfassungsänderung werden Dutzende ihrer Abgeordnete ihre Immunitäten verlieren. Die Kapitulation vor der Offensive Erdoğans wird sie mit dem Verlust eigener Sitze zahlen müssen.

Die Illusion, es gäbe zwischen dem Guerillakrieg und dem pazifistischen Parlamentarismus keine Alternative, muss gebrochen werden. Den Ansätzen zur Selbstverwaltung in den nordkurdischen Städten fehlt der notwendigen Rückhalt von der Bevölkerung. So kämpfen letztlich nur die kurdischen Jugendlichen heroisch hinter den Barrikaden. Denn die Selbstverwaltungsstrukturen haben kein soziales Programm, das die Interessen der Bauern*Bäuerinnen und Arbeiter*innen widerspiegelt. Das unterdrückte kurdische Volk und dessen Arbeiter*innenklasse müssen ihre eigene Politik entwickeln. Um den türkischen Staat zu bekämpfen, brauchen sie die Unterstützung und Solidarität der türkischen Arbeiter*innenklasse. Sie muss durch ein revolutionäres Programm von ihrem Kampf überzeugt werden.

Gerade heute besteht die Aufgabe darin, der Verdorbenheit des türkischen Parlaments mit Massenmobilisierungen zu begegnen. Die vom Parlament und Bourgeoisien unabhängige Mobilisierung der Arbeiter*innen und Massen muss in der Perspektive einer freien und souveränen verfassungsgebenden Versammlung stattfinden. Gewählt von allen Menschen im türkischen Staat, mit einer proportionalen Repräsentation der Minderheiten, um nicht nur die demokratischen Fragen, sondern vor allem die drängenden sozialen Forderungen der Arbeiter*innen und die Lage der kurdischen Nation zugunsten der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu entscheiden.

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