Stuttgart: Jahrelange Haftstrafen gegen Antifaschist:innen

17.10.2021, Lesezeit 3 Min.
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Shutterstock / Von Rawpixel.com

Diyar A. und Joel P. sollen für Jahre ins Gefängnis, obwohl das Gericht nur Indizien hat. Ein Anwalt und Lokalpolitiker nutzt den Prozess für Verschwörungstheorien und hetzt gegen “linken Terror”.

Diese Woche wurde am Landgericht Stuttgart Diyar A. zu fünfeinhalb Jahren und Joel P. zu vier Jahren und acht Monaten Haft verurteilt, wegen gefährlicher und schwerer Körperverletzung sowie schwerem Landfriedensbruch. Der Richter erachtete es als erwiesen, dass die beiden heute 20- und 25-Jährigen am Rande einer “Querdenken”-Demonstration im Mai 2020 aus einer größeren Gruppe von Antifaschist:innen heraus Mitglieder der rechten Pseudogewerkschaft “Zentrum Automobil” angegriffen hatten. Zwei der Rechten waren dabei schwer verletzt worden.

Die Staatsanwaltschaft hatte auf versuchten Totschlag plädiert und sechs Jahre Haft für Diyar A. und fünf für Joel P. gefordert. Der Richter kam dieser Forderung fast komplett nach. Zum Vergleich: Für das NSU-Mitglied André Eminger hatte die Staatsanwaltschaft wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und Beihilfe zum versuchten Mord zwölf Jahre Haft gefordert; der Richter verurteilte ihn zu nur zweieinhalb. Inzwischen ist er wieder auf freiem Fuß.

Die Strafen im sogenannten Wasenprozess gegen die Stuttgarter Antifaschisten kommen rein durch Indizien zustande: An den Handschuhen von Joel P. wurden DNA-Spuren des bei der Auseinandersetzung schwerverletzten Alexander Z. gefunden. Ein Haar von Diyar A. hatte sich an einer Reizgaspistole befunden.

“Wir wissen nicht genau, was die Angeklagten gemacht haben”, gab sogar der Richter in der Urteilsbegründung zu. Doch sah er es als erwiesen an, dass die beiden Angeklagten zugeschlagen hätten, davon zumindest ein Tritt gegen den Kopf. Der Richter ließ auch erkennen, dass es sich um ein politisches Urteil handelt, indem er den Angeklagten “ideologische Verblendung” vorwarf.

Der Anwalt von Alexander Z, Dubravko Mandic, Lokalpolitiker und ehemaliges AfD-Mitglied, nutzte die Situation für ein politisches Schauspiel. Er sprach von einem “Terroranschlag”, warf der Staatsanwältin vor, Beweise nicht zu berücksichtigen und meinte, es gäbe einen politischen Einfluss auf die Ermittlungsarbeit. Diesen gibt es natürlich, aber andersherum als er denkt. Der Staat geht hart gegen Linke hart vor, während rechte Umtriebe in Polizei und Bundeswehr weitgehend ohne Konsequenzen bleiben.

Die Verfolgung von Linken zeigte sich auch nach dem G20-Gipfel in Hamburg 2017. Während die Polizei wahllos hunderte Menschen verprügelte, dabei teils schwer verletzte und komplett straffrei ausging, laufen bis heute Verfahren gegen Demoteilnehmer:innen. Im Rondenbarg-Prozess werden 80 Menschen pauschal alle Straftaten eines ganzen Protestzuges vorgeworfen, ohne dass die Taten einzelnen Personen zugewiesen werden.

In einem anderen Fall sitzt die Antifaschistin Lina E. seit November 2020 in Untersuchungshaft, trotz dünner Beweislage. Genau wie Joel P. und Diyar A. wird ihr vorgeworfen, Nazis verprügelt zu haben. Im Kampf gegen rechts ist auf den Staat kein Verlass. Er greift nicht durch oder unterstützt die Nazis sogar noch, wenn man sich die Arbeit des Verfassungsschutzes anschaut, der das Umfeld des NSU aufbaute. Seit 1990 sind laut Amadeu Antonio Stiftung mindestens 213 Menschen von Rechtsextremen ermordet worden. Das zeigt die Notwendigkeit, sich auch mit Gewalt gegen sie zu wehren. Der Antifaschismus von Joel P. und Diyar A. ist also keineswegs “ideologische Verblendung”, wie der Richter meint. Sie haben unsere volle Solidarität – Freiheit für Jo und Di und Lina!

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