Siko 2019: Europa ist so schwach wie nie

22.02.2019, Lesezeit 10 Min.
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Auf der Münchner Sicherheitskonferenz wird die Ohnmacht Europas in der Blockkonfrontation zwischen den USA, China und Russland deutlich. Die Welt rüstet sich für kommende Kriege.

Fällt die gewohnte Ordnung des Multilateralismus in Puzzleteile auseinander? Diese Frage stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer viel beachteten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Und warnte vor der Verschlechterung der Aussichten für Deutschland: Denn in der aktuellen Übergangssituation in der imperialistischen Weltordnung stehen die internationalen Verträge und damit die deutsche Rolle in der Welt in Frage.

Der Erhalt des Multilateralismus und der internationalen Institutionen war vordergründig das zentrale Thema der Konferenz. Doch es waren leere Appelle der deutschen Vertretung, die in einer wachsenden Blockkonfrontation zwischen den USA einerseits und China und Russland andererseits, wenig mehr anzubieten hat als die europäischen Handelsbeziehungen – ein Wert, der in Zeiten des Protektionismus dramatisch einbricht.

Noch ist Deutschland nicht bereit, seine weltpolitischen Ambitionen aufzugeben. So forderte Merkel ein neues europäisches Selbstbewusstsein, um die Hegemonie Deutschlands auf andere europäische Länder aufrechtzuerhalten, was für das deutsche Kapital die einzige Möglichkeit ist gegen die wirtschaftliche Macht von den USA oder China auftreten zu können. Während aber die deutsche Vertretung auf der Bühne um die richtigen Appelle rang, lassen die anderen Mächte Taten sprechen. Die Weltpolitik aus europäischer Sicht in drei Thesen:

1. Der Zerfall der EU ist in vollem Gang

Außenministerin Ursula von der Leyen sprach bei der Konferenz aus, wovon halb Europa ein Lied singen kann: „Deutsche Maximalpositionen sind nicht immer mehrheitsfähig.“ Das hatte Deutschland nach der Weltwirtschaftskrise von 2007 noch nicht gestört: Mit einem beispiellosen Programm von Spardiktaten und Privatisierungen hatte es die EU den Interessen seines Kapitals untergeordnet und sich so als führende Kraft durchgesetzt.

Die deutsche Dominanz hat sich mittlerweile als faulig und hohl herausgestellt.  Die EU steht in den Augen der Massen für eine abgehobene Cliquenherrschaft ohne jede Anziehungskraft. Und trotzdem hat der deutsche Imperialismus kein innovativeres Rezept anzubieten, als die europäische Zusammenarbeit. Merkel meinte, es fehle „eine gemeinsame Kultur der Rüstungsexporte“, von der Leyen will eine gemeinsame Außenwirtschaftspolitik und eine europäische Verteidigungsunion. 

Doch damit stand die deutsche Vertretung ziemlich allein auf der Konferenz: Ausgerechnet derjenige, der vor einigen Monaten noch am selbstbewusstesten eine Neuaufstellung der EU angekündigt hatte, hatte abgesagt: Der französische Präsident Emmanuel Macron war mal wieder zu beschäftigt damit, die Gelbwesten von seinem Palast zu vertreiben. Ein Präsident, der derartig windig auf seinem Thron sitzt, kann schwer große Weltpolitik betreiben.

Und der Rest Europas kann der EU nicht viel abgewinnen: Die nationalistischen Regierungen Osteuropas sehen in Trump die Möglichkeit von nationalen Alleingängen, um gegenüber Deutschland zu manövrieren. Italien steht im Clinch mit Brüssel, Berlin und Paris. Der Brexit droht, das Vereinigte Königreich zu sprengen, da aktuell niemand in der Lage ist, einen „geordneten Austritt“ zu koordinieren. In Katalonien schwelt ungelöst die nationale Frage trotz der Kriminalisierungen seitens des spanischen Zentralismus.

Kurz: Das Chaos in Europa breitet sich aus. Der von Trump importierte Protektionismus hat sich eingenistet. Und aktuell ist keine Gegentendenz in Sicht, welche die bisherige Ordnung aufrechterhalten oder durch eine neue ersetzen könnte.

2. Die USA will Europa als Junior-Partner

Der modrige Geruch der EU reicht bis über den Atlantik hin zum US-Präsidenten Donald Trump, der seine Chance wittert, „America First“ durchzusetzen. Was das bedeutet, machte gleich Vizepräsident Mike Pence bei der Konferenz klar: Um in der Rivalität der Großmächte nicht unter die Räder zu kommen, solle sich Europa unter die Führung von Trump begeben.

Beim Ausstieg aus dem INF-Vertrag, der die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen auf Land verbot, hatten die USA trotz Kritik bereits die Zustimmung Europas gewonnen. Als Grund für den Ausstieg nannten die USA den Vorwurf an Russland, gegen den Vertrag zu verstoßen. Der 1988 geschlossene Vertrag hatte vor allem für Europa die Gefahr eines Nuklearkrieges in weite Ferne gerückt. Dass er jetzt ausgesetzt werden kann, ist ein weiteres Indiz für die Schwäche der EU, die unter Merkel noch versucht hatte, einen Kompromiss zwischen Russland und den USA auszuhandeln.

Trump versucht, die EU in einen Block unter seinen Spielregeln zu zwingen. So präsentierte Mike Pence eine Liste von Forderungen an die EU und insbesondere Deutschland: Das  Atomabkommen mit dem Iran soll aufgekündigt werden. Ehemalige IS-Kämpfer*innen sollen nach Europa zurückkehren und dort vor Gericht gestellt werden, um einen US-amerikanischen Abzug aus Syrien zu ermöglichen. Deutschland soll auf die Gaspipeline Nord-Stream 2 mit Russland verzichten. Der Wehretat soll auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) gesteigert werden. Der Druck auf die Regierung Venezuelas soll erhöht werden.

Um dies durchzusetzen, lässt Trump den Einsatz einer besonders schmerzhaften Daumenschraube offen: Die Einführung von Schutzzöllen von deutschen Automobilen. Nachdem die Autoexporte bereits ohnehin schwächeln, würde dies der deutschen Autoindustrie einen weiteren empfindlichen Schlag versetzen.

In einzelnen Fragen kann die EU den USA ohne größere Bauchschmerzen entgegenkommen. Die Rücknahme von IS-Kämpfer*innen wird offen diskutiert. Und der venezolanische Putschist Guaidó wird völlig ungeniert unterstützt. Das Ziel der Aufrüstung auf zwei Prozent des BIP ist für Deutschland perspektivisch angestrebt, stellt aber eine echte Hürde dar. Während die USA Geld für Waffensysteme sehen wollen, gehen die deutschen Interventionspläne in andere Richtungen. Die deutschen Ambitionen zielen vor allem auf Nordafrika und die Sahelzone. Der deutsche Imperialismus wird sicherlich nicht zögern, sich hier militärisch Zugang zu verschaffen, so wie er es bereits in Mali tut. Doch sind dafür nicht die schweren Waffen wie bei einem zwischenstaatlichen Konflikt notwendig. Merkel wollte sich vorerst auch nur auf 1,5 Prozent Militärbudget bis 2024 festlegen. Vor dem Risiko einer möglichen Rezession will sich der deutsche Staat finanzielle Spielräume zur wirtschaftlichen Krisenbewältigung offenlassen.

Gerade dort, wo es um die wirtschaftlichen Beziehungen geht, ist es für das auf Handel konzentrierte deutsche Kapital besonders schmerzhaft, den USA entgegenzukommen. Das zeigt sich in den Beziehungen zu Russland und dem Iran. Zur Pipeline Nord-Stream 2 meinte Merkel fast schon etwas schüchtern: „Wollen wir Russland in die Abhängigkeit von China treiben? Wir wollen auch ein bisschen an den Handelsbeziehungen teilhaben.“ An dieser Stelle sehen China und Russland ihre Möglichkeit, mit der Politik des Multilateralismus einen Keil in die NATO zu treiben: Denn die wirtschaftlichen Bedürfnisse der stark exportabhängigen und rohstoffhungrigen deutschen Industrie erfordern eine Kooperation mit China und Russland. Das chinesische Angebot des Multilateralismus dient in diesem Fall nicht mehr als Prinzip der internationalen Ordnung, sondern ist ein Manöver, um den USA zu schaden.

Doch auch die EU kann trotz ihrer Beteuerungen in der sich verändernden Ordnung der nationalen Alleingänge nicht mehr im gewohnten Maße auf den Multilateralismus setzen. Anlässlich des Ukraine-Konflikts kündigte die EU bereits neue Sanktionen gegen Russland an, anstatt wie noch vor einigen Jahren einen Dialog über die OSZE zu suchen. Die Ukraine-Frage ist eines der Felder, in denen Deutschland zwischen den Stühlen sitzt und sich wirtschaftliche und geopolitische Interessen schwer miteinander vereinen lassen.

Die zwischenzeitliche imperialistische Einheit, die sich in der Epoche der kapitalistischen Restauration der 1990er und anfänglichen 2000er Jahre auf den Trümmern der bürokratischen Arbeiter*innenstaaten gebildet hatte, hat ihren Zweck erfüllt. Die Interessen der nationalen Bourgeoisien fallen heute wieder auseinander und die multilaterale Ordnung wird für die USA immer weniger funktional.

Die Vorstellung der Vereinigten Staaten basiert nicht darauf, Rücksicht auf die Interessen und Werte ihrer Verbündeten zu nehmen. Die USA gehen davon aus, dass „ihre Partner*innen“ beweisen müssen, dass sie würdige Verbündete sind. Andernfalls werden sie als störender Ballast angesehen. Dieser Test drückt sich für Deutschland in Handelszugeständnissen und der Erhöhung der Militärausgaben aus.

3. Die Welt rüstet für den kommenden Krieg

Der Grund dafür, dass Trump den Multilateralismus zertrümmert und Gefolgschaft von Europa einfordert, ist im Aufstieg Chinas und der wachsenden Blockkonfrontation zu suchen. Das wirtschaftliche Engagement Chinas erstreckt sich insbesonders auf den pazifischen Raum, Afrika und mittlerweile sogar Teile Lateinamerikas. Es steht mit dem größten Proletariat der Welt und seinen vorangeschrittenen technologischen Entwicklungen bereit, die USA als Welthegemon abzulösen. Noch hat es insbesondere auf der Ebene der Finanzmärkte und der multinationalen Konzerne nicht zu den USA aufgeschlossen. Der US-Dollar als Weltleitwährung, der eng an die Förderung und den Handel von Erdöl gekoppelt ist, garantiert maßgeblich weiterhin die US-amerikanische Vorherrschaft.

Gerade hier spielen die Entwicklungen in den erdölreichen Ländern Westasiens und Venezuela eine maßgebliche Rolle. Die US-Interventionen in Syrien, dem Irak und Afghanistan sind vollständig gescheitert. Um die nicht mehr aufrechtzuerhaltenden Kosten einzudämmen, will die USA ihren Einfluss nur noch indirekt über ihre Verbündeten halten, insbesondere Israel und Saudi-Arabien –  eine strittige Position in der NATO. Während die USA ihren Abzug aus Syrien plant, ist Deutschland von dieser Idee gar nicht begeistert. Die Bundesregierung fürchtet hier einseitige Entscheidungen der USA und eine Stärkung des iranisch-russischen Einflusses. Ebenso würde der US-Truppenabzug aus Afghanistan die deutsche Besatzungspolitik nach 18 Jahren abrupt beenden und die geopolitischen Ambitionen des deutschen Imperialismus in West- und Zentralasien begraben.

In Venezuela ist der rechte, vom Imperialismus gestützte Putsch stecken geblieben. Russland und China haben sich gleich auf die Seite des venezolanischen Präsidenten Nicolas Maduro geschlagen. Dass er sich vorerst halten konnte, zeigt eine Schwäche des US-Imperialismus, der zu Zeiten des kalten Krieges leichter eine rechte Militärdiktatur hätte einsetzen können. Nachdem die USA jahrelang im „Kampf gegen den Terror“ den Fokus auf andere Weltregionen gelegt hatte, ist jetzt mit dem Aufstieg der lateinamerikanischen Rechten, wie Bolsonaro in Brasilien und Macri in Argentinien, der Subkontinent wieder stärker ins Zentrum der Geopolitik gerückt. Die USA wollen verhindern, dass China in ihrem „Hinterhof“ Fuß fassen kann.

Somit stellt die Rivalität zwischen Russland bzw. China und den USA auf allen Erdteilen ein bestimmendes Merkmal der Geopolitik und der Neuaufteilung der Märkte dar.

Das Ende der bürgerlichen Restauration eröffnet eine Zeit der Instabilität und politischen Unsicherheit im Herzen Europas mit Folgen für die ganze Welt. Dies ist letztendlich eines der Symptome für die Schwierigkeit Deutschlands, sich als Führungskraft in Europa zu präsentieren, und für seine Unfähigkeit, einen internen Konsens innerhalb der EU zu finden, um die aktuelle US-Offensive einzudämmen.

Das Projekt der EU, das die unterschiedlichsten Interessen unter Führung Deutschlands und Frankreichs vereinen will und auf langwieriges Aushandeln von jeder kleinen Reform hinarbeiten muss, kann gegen die viel strikter durchregierenden rivalisierenden Machtblöcke nicht konkurrieren. Der Versuch, einen „liberalen“ Bonapartismus à la Macron zu entwickeln, ist bereits nach einem Jahr krachend gescheitert. 

Dagegen hat Russland bereits nach den Chaos-Jahren der 1990er mit der Wiedereinführung des Kapitalismus mit Putin seit 2000 einen Bonaparte hervorgebracht, der das Erbe der Sowjetunion zusammenhalten soll. China hat durch die Alleinherrschaft der KP die Mittel, seine politischen und wirtschaftlichen Vorhaben konsequent durchzusetzen, ohne über jedes kleinste Partikularinteresse verhandeln zu müssen. Und in den USA ist Trump dabei, sich über das schwerfällig gewordene Zwei-Parteiensystem hinwegzusetzen. Noch ist er ein schwacher Bonaparte, doch der Institutionalismus wird ihn auf Dauer nicht aufhalten. Zu sehr existiert auch für die demokratische Partei die Notwendigkeit, den US-Imperialismus für die kommenden weltpolitischen Konfrontationen vorzubereiten. Die Versuche von „linken Demokrat*innen“ wie Bernie Sanders, den Washingtoner Politbetrieb zu demokratisieren, werden sich als illusorisch herausstellen.

Die Welt rüstet auf. 2018 haben alle führenden Länder ihre Rüstungsausgaben um durchschnittlich etwa zehn Prozent gesteigert. Dies dient nicht nur der direkten militärischen Auseinandersetzung, sondern auch der inneren Militarisierung, um sich auf neue Wellen des Klassenkampfes vorzubereiten. Die imperialistischen Spannungen haben ein Niveau erreicht, das Erinnerungen an den Beginn des 20. Jahrhunderts weckt. Wir stehen nicht unmittelbar an der Schwelle zu einem dritten Weltkrieg. Dafür bleiben die Konfliktherde noch auf zu regionaler Ebene beschränkt wie in Westasien oder der Ukraine. Aber die Auflösung des INF-Vertrages, durch den neue Atomwaffen stationiert werden dürften, zeigt das monströse Potential der Blockrivalität. Das Szenario eines großen Krieges zwischen den Machtblöcken wird wieder zu einer realen Bedrohung unserer Epoche.

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