Seehofer stellt Verfassungsschutzbericht vor: die Mär der „Einzelfälle“

27.06.2019, Lesezeit 5 Min.
1
German Interior Minister Horst Seehofer (R) and the President of Germany's domestic intelligence service (Bundesamt fuer Verfassungsschutz) Thomas Haldenwang pose during a press conference to present the country's annual report on the protection of the constitution on June 27, 2019 in Berlin. (Photo by Tobias SCHWARZ / AFP)

Heute hat Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) den Verfassungsschutzbericht 2018 vorgestellt. Während er die Mär des Rechtsterrorismus als "Einzelfälle" wiederholt, bereitet er sich auf eine Ausweitung der Überwachungsbefugnisse im Internet vor.

24.100 Rechtsextreme (davon 12.700 „gewaltorientierte“) gibt es in Deutschland – so der Verfassungsschutzbericht 2018, den Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) heute vorstellte. Seehofer gab sich „schockiert“ und benannte den Rechtsextremismus als „brandgefährlich“. Das ist gewohnt heuchlerisch – konnte er doch nicht anders, nur wenige Tage nach dem Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke durch den bekannten und bekennenden Neonazi Stephan Ernst, den er entsprechend auch als „Zäsur“ bezeichnete. Doch dem Verfassungsschutzbericht ist Seite um Seite anzumerken, wie gern sich das Innenministerium um das Thema herumgewunden hätte.

Denn auch wenn sich Seehofer bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts vor dem erwähnten Hintergrund dieses Jahr zu einem großen Teil auf den Rechtsextremismus bezog, schweigt sich der VS-Bericht über rechtsterroristische Tendenzen und Gruppierungen nahezu aus. In den wenigen Erwähnungen spricht der VS über „Ansätze für Rechtsterrorismus“. Die Gruppe „Revolution Chemnitz“ sei „verdächtig“, eine rechtsterroristische Gruppe zu sein. Sonst gäbe es Hinweise, dass sich in rechtsextremen Bürgerwehren „Ansätze für rechtsterroristische Potenziale herausbilden können“.

Den NSU-Prozess erwähnt der VS-Bericht zwar auf zwei Seiten, aber mit dem doppelten Fazit, dass das in der rechten Szene eh keine Rolle gespielt habe, und dass die juristische Aufarbeitung deshalb noch nicht beendet sei, weil Revision eingelegt wurde und noch Ermittlungsverfahren gegen „mutmaßliche Helfer“ laufen würden – die nicht aufgearbeitete Rolle von geheimdienstlichen, polizeilichen und anderen staatlichen Strukturen im NSU-Komplex wird (erwartungsgemäß) nicht erwähnt, worüber sich der VS sicherlich freuen dürfte.

Die Regierung verschweigt rechtsextreme Strukturen in Behörden

Genauso wenig wird im Bericht erwähnt, dass immer wieder rechtsterroristische Bestrebungen und Netzwerke innerhalb von Bundeswehr und Polizei auffliegen. Darauf angesprochen, schwang sich Seehofer auf, der Farce die Krone aufzusetzen: Rechtsextremismus bei Sicherheitsbehörden und der Polizei seien allenfalls „Einzelfälle im Promillebereich“.

In Bezug auf die Ermittlungen im rechtsterroristischen Mord an Lübcke, den Stephan Ernst inzwischen gestanden hat, betonte Seehofer indirekt ebenfalls die „Einzeltäter-These“. Gleichwohl kann angesichts der tiefen NSU-Verstrickungen in der Region selbst der VS nicht vollständig daran vorbeischauen. Laut Seehofer werde „mit Hochdruck der Frage nachgegangen, inwieweit es ein Unterstützerumfeld gegeben“ habe.

Ein weiterer bemerkenswerter Fakt: Die AfD, die in den vergangenen Jahren immer stärker zu einem Bindeglied zwischen der ultrakonservativen Rechten und der rechtsextremen Szene wurde, kommt gar im VS-Bericht nur mit dem Hinweis vor, dass sie „von Linksextremisten pauschal als rechtsextremistisch“ bezeichnet würde. Selbst im Zusammenhang mit den rechten Großmobilisierungen rund um die Vorfälle in Chemnitz im vergangenen Jahr, die der Bericht auf mehreren Seiten analysiert, wird sich über die AfD ausgeschwiegen. Als Ausgleich beschreibt der Bericht dafür gleich sieben „extremistische Strukturen“ innerhalb der Linkspartei.

Obwohl Innenministerium und VS sich also nicht vollständig um die Ausbreitung rechtsextremistischer Strukturen herumwinden konnten – ganz zu schweigen von den vielfältigen Verbindungen dieser Strukturen zu staatlichen Stellen, besonders im VS und in den Repressionsorganen –, hatte Seehofer gleich eine Entwarnung für die Szene parat: Es sei kaum möglich, die rund 12.000 Gewaltbereiten so zu überwachen, „dass alles vermieden wird“. Mit anderen Worten: Der Staat bereitet die Öffentlichkeit darauf vor, auch bei den nächsten Fällen mal wieder ein Auge zuzudrücken.

PKK und Linksextreme: bewährte Feinde

Trotz der „Waffenaffinität“ der rechtsextremen Szene, über die der VS-Bericht nicht schweigen kann, konnte Seehofer nicht umhin, am Ende der Pressekonferenz – getreu der Hufeisentheorie, die Teil der deutschen Staatsräson ist – zu betonen, dass Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus „gleichermaßen gefährlich“ seien. Die Regierung gibt zu verstehen, dass rechtsterroristische Morddelikte für sie den gleichen Stellenwert besitzen wie die Besetzung von Braunkohletagebauten oder das Tragen „verbotener“ Fahnen.

Entsprechend liest sich auch der VS-Bericht, der in der Ausführlichkeit der Beschreibung linksradikaler Gruppen oder Organisationen wie der PKK immer wieder über sich selbst hinauswächst. Allein der PKK werden 17 Seiten gewidmet – mehr als dem gesamten Kapitel „Gewalt und Militanz“ des Rechtsextremismus. Was mehr muss gesagt werden zur Ausrichtung der staatlichen Sicherheitsorgane?

Staatliche Überwachung wird verschärft

Nicht zuletzt muss auch erwähnt werden, was der VS-Bericht für die Zukunft legitimieren soll. In der schriftlichen Einleitung zum Bericht schreibt Seehofer: „Als Frühwarnsystem ist der Verfassungsschutz auf enge Zusammenarbeit unseres föderalen Systems angewiesen. Dafür ist ein harmonisierter Rechtsrahmen erforderlich. Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass der Verfassungsschutz seine Aufgaben auch unter den Bedingungen der Digitalisierung erfüllen kann. Aus diesen Gründen ist mir die Novelle des Verfassungsschutzgesetzes ein besonderes Anliegen.“

Im Klartext: „Harmonisierter Rechtsrahmen“ heißt nichts anderes als die Ausweitung der im vergangenen Jahr in Bayern geänderten Polizeiaufgabengesetze auf alle Bundesländer und somit eine Ausweitung der polizeilichen Befugnisse. In der Reform des Verfassungsschutzgesetzes ist zudem die Ausweitung der Befugnisse zur Internetüberwachung im Dienste der „Cybersicherheit“ vorgesehen. In der Zusammenschau also eine erneute Verschärfung der Überwachungsfähigkeiten des bürgerlichen Staates, mit der allerdings nicht nur rechte Strukturen mehr unter die Lupe genommen werden, sondern sich der Repressionsapparat insgesamt stärkt – zur Abschreckung, zur Überwachung auch linker Strukturen, und zur Vorbereitung einer weiteren inneren Militarisierung.

Das zeigt erneut: Wir können kein Vertrauen in den Verfassungsschutz oder andere staatliche „Sicherheitsorgane“ legen – weder bei der Bekämpfung rechten Terrors noch beim Schutz unserer Grundrechte. Verfassungsschutz abschaffen!

Mehr zum Thema