Putin, Lenin und die Selbstbestimmung der Ukraine

25.02.2022, Lesezeit 9 Min.
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Quelle: Shutterstock (Alexey Borodin)

Wladimir Putin sagt, die Ukraine sei von Lenin geschaffen worden - "sie kann mit Recht Wladimir Lenins Ukraine genannt werden". Ein Blick auf Lenins Politik der Selbstbestimmung zeigt, wie der aktuelle Konflikt gelöst werden könnte.

Am Montagabend hielt der russische Präsident Wladimir Putin eine ausufernde Rede, um die jüngste Eskalation des Konflikts in der Ukraine zu rechtfertigen. Sein Argument war im Wesentlichen, dass eine ukrainische Nation nicht existiert. Die Ukraine sei „nicht nur ein Nachbarland für uns“, sagte Putin. „Sie ist ein unveräußerlicher Teil unserer eigenen Geschichte, unserer Kultur und unseres geistigen Raums“.

Wie es die Bourgeoisie zu tun pflegt, stellt Putin Nationen, die im kapitalistischen Zeitalter entstanden sind – also höchstens vor ein paar Jahrhunderten – als seit „ewigen Zeiten“ existierend dar. Sein Anspruch auf die Ukraine beruht nicht auf dem demokratischen Willen der dort lebenden Menschen – stattdessen spricht er von alten Mythen. Eine westliche Antwort auf Putins Rede, wie sie die New York Times formuliert, ist ebenso ahistorisch und projiziert einen ukrainischen Nationalstaat zurück ins neunte Jahrhundert.

Wie also erklärt Putin die Tatsache, dass sich Dutzende Millionen Menschen als eine Nation verstehen, die seiner Meinung nach nichts anderes als ein Teil Russlands ist? Putin sagt:

Die moderne Ukraine wurde vollständig von Russland geschaffen, genauer gesagt, vom bolschewistischen, kommunistischen Russland. Dieser Prozess begann praktisch unmittelbar nach der Revolution von 1917, und Lenin und seine Mitstreiter taten dies auf eine für Russland äußerst harte Art und Weise – durch die Abtrennung, die Abtrennung des historisch russischen Landes.

Mit der Oktoberrevolution von 1917 schufen die Arbeiter- und Soldatenräte in Russland eine neue Regierung. Diese Regierung unter der Führung von W. I. Lenin setzte sich für das Prinzip der Selbstbestimmung der unterdrückten Völker ein. Dieses Recht wurde später in der Verfassung der Sowjetunion verankert, die jeder sozialistischen Republik das bedingungslose Recht auf Sezession einräumte.

Für Putin war dieses demokratische Prinzip „schlimmer als ein Fehler“, es widersprach den „Grundprinzipien der Staatlichkeit“. Genau das ist der Unterschied: Putin versucht, einen mächtigen russischen Staatsapparat aufzubauen, um die Herrschaft einer winzigen, parasitären Minderheit von Kapitalist:innen zu garantieren. Lenin hingegen strebte den Kommunismus an, was bedeutet, dass der Staat absterben sollte.

Selbstbestimmung und Sozialismus

Für Lenin ging es beim Recht auf Selbstbestimmung nicht darum, eine Vielzahl von Nationalstaaten zu schaffen. Ganz im Gegenteil: Er vertrat die Ansicht, dass das Proletariat sich allen Formen nationaler Unterdrückung widersetzen müsse, damit sich die Proletarier aller Länder in einer freiwilligen Gemeinschaft auf der Grundlage der Gleichheit zusammenschließen könnten. Dies war dieselbe Position, die Marx vertreten hatte: Er sagte, die englischen Arbeiter müssten für die irische Unabhängigkeit kämpfen, damit die englischen und irischen Arbeiter ein Bündnis gegen die Bourgeoisie bilden könnten.

Das Zarenreich war ein Völkergefängnis, in dem die sogenannten “Großrussen” (etwa die Hälfte der Bevölkerung) das Sagen hatten und alle anderen Völker brutal unterdrückt wurden. Die neue Sowjetregierung erklärte, dass alle unterdrückten Völker über ihr eigenes Schicksal entscheiden könnten. So gewährten die Bolschewiki beispielsweise Finnland die Unabhängigkeit und traten für das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine ein.

Das bedeutete jedoch nicht, dass sie wollten, dass Finnland oder die Ukraine von kapitalistischen Regierungen regiert werden. Gleichzeitig unterstützten die Bolschewiki die für den Sozialismus kämpfenden Arbeiter:innen sowohl in Finnland als auch in der Ukraine. In Finnland wurde die rote Regierung schließlich besiegt – in der Ukraine hingegen übernahmen die Arbeiterräte die Macht und bildeten eine Gemeinschaft mit dem sozialistischen Russland.

Lenins Politik beruhte auf der Einsicht, dass die Arbeiter:innenklasse den Kampf gegen jede Art von Unterdrückung aufnehmen musste. Die ukrainischen Bäuer:innen, die lange Zeit von den russischsprachigen Bürokrat:innen des Zaren unterdrückt worden waren, sehnten sich natürlich nach Unabhängigkeit. Die bürgerlichen Nationalist:innen versuchten, sich als die natürlichen Vertreter:innen dieser Sehnsucht zu präsentieren. Aber auch die Bolschewiki in der Ukraine griffen die Forderung nach Selbstbestimmung auf – sie forderten die „Selbstbestimmung der Ukraine im Interesse der Arbeiter und Bauern“. Damit wurde deutlich, dass die von den bürgerlichen Kräften angebotene „Selbstbestimmung“ nichts anderes bedeutete als die Herrschaft von Großgrundbesitzern, Kapitalist:innen und imperialistischen Mächten.

Offensichtlich ist Putin ein viel größerer Fan von Stalin, der den großrussischen Chauvinismus in der Sowjetunion wiederbelebt hat. Putin beklagt nur, dass Stalin „die Leninschen Prinzipien, die der Sowjetunion zugrunde liegen, nicht formell revidiert hat“. (eigene Hervorhebung). Dieses Recht blieb in der Verfassung verankert – obwohl es in der Praxis mit blutigstem Terror unterdrückt wurde. Nach Putins Geschichtsauffassung bestand das Problem darin, dass „radikale Nationalisten“ nach dem Ende der Sowjetunion ein Recht auf Unabhängigkeit einfordern konnten, das immer noch in der Verfassung verankert war. Putin, selbst ein „radikaler Nationalist“, lehnt ein solches demokratisches Grundrecht ab.

Seit der Unabhängigkeit, so Putins Erzählung, leidet das ukrainische Volk unter einer Reihe von korrupten Regierungen. Oligarchen plündern das Land im Interesse der westlichen imperialistischen Mächte aus. Das Regime verweigert grundlegende Freiheiten und lehnt sich an die Nazis an. Dies ist eine zutreffende Beschreibung des ukrainischen Regimes – aber Putins extremer Zynismus soll nur verdecken, dass diese Kritik auch auf sein eigenes Regime zutrifft.

Sozialist:innen heute

Was bedeutet das für Sozialist:innen heute? Wir sollten das Recht der unterdrückten Völker auf Selbstbestimmung immer unterstützen. Aber der Politik Lenins folgend, macht dies nur als Teil eines Programms der Arbeiter:innenklasse zur Beendigung des Kapitalismus Sinn – denn nur die Revolution wird letztendlich alle Formen von Unterdrückung und Ausbeutung beenden.

In den Händen der Ausbeuter kann die Forderung nach „Selbstbestimmung“ auf alle möglichen zynischen Arten missbraucht werden. Während des Ersten Weltkriegs zum Beispiel, als die imperialistischen Mächte darum kämpften, die Welt unter sich aufzuteilen, behauptete jede Seite, ihr einziges Ziel sei es, „Freiheit“ zu erreichen. Der britische Imperialismus verteidigte angeblich die Unabhängigkeit Belgiens. Der deutsche Imperialismus seinerseits wollte nur die Völker „befreien“, die unter zaristischer Herrschaft standen.

Anfang 1918 zwang das Deutsche Reich der jungen Sowjetregierung einen brutalen Friedensvertrag auf. Dieser beinhaltete eine deutsche Besatzung der Ukraine, die von einer Marionettenregierung regiert werden sollte. Natürlich wurde dies als Ausdruck des „Selbstbestimmungsrechts“ gerechtfertigt – und die Deutschen fanden bürgerliche Nationalist:innen, die bereit waren, das Land als Vasallen zu regieren. Die Bolschewiki lehnten diese Logik ab und forderten stattdessen echte Selbstbestimmung auf der Grundlage der Vertreibung aller ausländischen Truppen.

Das zeigt uns, wie wir uns in dem komplexen geopolitischen Szenario von heute orientieren können. Die USA drängen seit langem darauf, die NATO bis an die Grenzen Russlands auszuweiten, und behaupten, dass es dabei nur darum geht, die Wünsche des ukrainischen Volkes zu respektieren. Leider argumentieren einige Sozialdemokrat:innen mit demselben Argument und stellen sich auf die Seite der NATO. So heißt es in einer Erklärung des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale,

Es ist Sache des ukrainischen Volkes – und nicht der Erpressung und der Verhandlungen zwischen den Großmächten -, darüber zu entscheiden, ob es Mitglied der NATO sein will oder nicht.

Doch die NATO ist nichts anderes als ein Instrument der Erpressung durch Großmächte!

Eine russische Invasion in der Ukraine verstößt eindeutig gegen grundlegende demokratische Prinzipien. Aber das gilt auch für die Einbindung des ukrainischen Volkes in imperialistische Militärbündnisse. Das Selbstbestimmungsrecht muss nicht nur für die Ukrainer:innen gelten, die die Unabhängigkeit von Russland anstreben, sondern auch für diejenigen, die sich nicht dem ebenso korrupten Regime in Kiew unterwerfen wollen.

In den letzten 30 Jahren wurden die arbeitenden und armen Menschen in der Ukraine von korrupten lokalen Eliten ausgebeutet, die das Land im Interesse ihrer ausländischen Verbündeten ausplündern – ihre Allianzen haben sich von Russland zum Westen hin und her verschoben. Der NATO-Beitritt wird nichts an der Armut des Landes und seinem undemokratischen Regime ändern.

Der einzige Weg, echte Selbstbestimmung zu erlangen, ist die Ablehnung jeglicher ausländischer Intervention. Das bezieht sich nicht nur auf militärische Maßnahmen – es bedeutet, das gesamte imperialistische Eigentum in der Ukraine zu verstaatlichen und es unter die Kontrolle der Werktätigen zu stellen, um die Ketten der Abhängigkeit zu brechen. Nur die Arbeiter:innenklasse, indem sie sich als unabhängige politische Kraft konstituiert, kann ein solches Programm umsetzen.

In seiner Rede versuchte Putin es mit Humor. Er sagte, Lenin habe der Ukraine die Unabhängigkeit gewährt: „Und heute hat die ‚dankbare Nachkommenschaft‘ Lenin-Denkmäler in der Ukraine umgestürzt. Sie nennen das Entkommunisierung.“ Er fuhr fort: „Aber warum auf halbem Weg stehen bleiben? Wir sind bereit zu zeigen, was eine echte Entkommunisierung für die Ukraine bedeuten würde.“ Es bedeutet eine Rückkehr zum vorrevolutionären Russland: Großrussischer Chauvinismus, basierend auf reiner militärischer Macht.

Doch sowohl für die Menschen in der Ukraine als auch in Russland bietet die Politik Lenins einen Ausweg. Sie bedeutet nicht „Selbstbestimmung“ im Dienste der Oligarch:innen und Imperialist:innen. Lenins eigentliches Programm, das von Stalin abgelehnt wurde, sieht vor, dass die Arbeiter:innenklasse in jedem Land die Macht übernimmt und dass alle Proletarier eine freiwillige Gemeinschaft bilden. Eine unabhängige, sozialistische Ukraine der Arbeiter:innen, wäre ein erster Schritt, um Chauvinismus und Krieg für immer zu beenden.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch bei LeftVoice.

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