Puerto Rico: Die Straße hat die Regierung gestürzt. Und jetzt?

26.07.2019, Lesezeit 6 Min.
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Nach zwölf Tagen massiver Mobilisierungen und eines landesweiten Streiks hat der Gouverneur von Puerto Rico sein Amt niedergelegt. Wie sieht nun das Kräfteverhältnis zwischen dem Palast und der Straße aus?

Ricardo Rosselló hat am vergangenen Mittwoch in der Nacht seinen Rücktritt als Gouverneur von Puerto Rico angekündigt. Diese wird zum 2. August wirksam werden. Er versuchte, solange es ging, dem Druck der Straße zu widerstehen, um Zeit zu gewinnen und hielt 12 Tage dauerhaft anhaltende Proteste aus. Doch sein Schicksal war bereits entschieden. Seine Optionen waren erschöpft ohne Verbündete in den Vereinigten Staaten, ohne interne Unterstützung seiner Partei – der Partido Nuevo Progresista (Neue Fortschrittspartei) – oder der Kapitalist*innen der Insel, die die Gefahr weiterer Mobilisierungen rochen. Hinzu kam die Gefahr eines drohenden Amtsenthebungsverfahrens im Kongress.

Die derzeitige Justizministerin, Wanda Vázquez Garced, wird seine Nachfolge antreten. Denn der Staatssekretär, dem eigentlich diese Aufgabe zukommen würde, ist aufgrund der geleakten Chats im berühmt gewordenen #Telegramgate zurückgetreten. Diese Chat-Nachrichten und die darin getroffenen homophoben und frauenfeindlichen Kommentare waren der Auslöser der Proteste vor fast zwei Wochen gewesen. Vázquez, die zur Partei Rossellós gehört, ist eine hochgradig in Frage gestellte Politikerin und wird von Korruptionsskandalen heimgesucht. Theoretisch würde sie bis November 2020 im Amt bleiben, wenn die aktuelle Amtszeit endet. Doch es ist eine Sache, was in der Verfassung steht, und eine ganz andere, was in der Realität möglich ist. Vázquez‘ Amtsübernahme scheint eine provisorische und kraftlose Lösung zu sein. Wenn sie letztlich das Amt übernimmt wird die Regierung die sie leitet sehr geschwächt dafür sein, sich der Herausforderung der Straße zu stellen.

Das erste, was man sagen kann, ist, dass Rosselló von einer Rebellion vertrieben wurde, die unaufhaltsam wurde. Der Höhepunkt, der das Blatt wendete, war zweifellos Montag, der 22. Juli, an dem ein massiver Generalstreik stattfand und die Hauptverkehrsstraße der Hauptstadt San Juan blockiert wurde. In diesem Sinne hatten die Proteste einen historischen Charakter. Es fanden zwar andere emblematische Kämpfe auf der Insel statt, von den antikolonialen Rebellionen bis hin zu den jüngsten gegen die imperiale Nutzung des Territoriums durch die Vereinigten Staaten oder gegen die Strukturanpassungspläne und Privatisierungen. Dies ist jedoch das erste Mal seit 1947, dass ein Gouverneur durch Massenmobilisierung gestürzt wird. Damals erkämpften die Puertoricaner*innen ihr begrenztes Wahlrecht für lokale Regierungen und Behörden.

Und obwohl die prominenten Musiker*innen in den Schlagzeilen standen, waren die entscheidenden Protagonist*innen die Hunderttausenden, die auf die Straße gingen: Jugendliche ohne Zukunft, Studierende, die ihre Schulen und Universitäten in Gefahr sehen, Arbeiter*innen, Opfer des Hurrikans Maria, kurz gesagt, die Arbeiter*innenklasse und die armen Massen.

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Die enorme Spontaneität, die die überwiegende Mehrheit der geplagten Bevölkerung Puerto Ricos in diesen anderthalb Wochen gezeigt hat, ist jedoch sowohl ihre Stärke als auch ihre Schwäche; Rosselló trat zurück und der Prozess tritt nun in eine neue Phase ein.
Die Parteien, die das koloniale Regime verwalten – die Partido Popular Democrático ( Demokratische Volkspartei) und die Partido Nuevo Progresista – sowie Republikaner*innen und Demokrat*innen in den Vereinigten Staaten werden versuchen, die Ordnung wiederherzustellen und das Ausmaß des Protestes auf den Rücktritt Rossellós und seiner korrupten Regierung zu beschränken. Darüber hinaus verließ Rosselló zwar sein Amt, aber die Finanzaufsichtsbehörde besteht weiterhin, die zusammengesetzt ist aus Wall-Street-Banker*innen und die die Rückzahlung der Schulden garantieren soll. Es scheint sogar, als sei sie gar nicht über die aktuelle Krise informiert. Nach den Presseerklärungen einer seiner Berater sind die Kürzungen und die Liquidität von Puerto Rico Verantwortung der Behörde und nicht der amtierenden Regierung.

Das Fortbestehen der Proteste zeigt die Tiefe ihrer Ursachen. Puerto Rico befindet sich seit mehr als einem Jahrzehnt in einer wirtschaftlichen Rezession, seitdem die USA unter Bill Clinton beschloss, das System der Steuerbefreiungen für Unternehmen zu beenden, die ohne dieses Privileg die Insel verließen. Die Krise von 2008 und der Hurrikan Maria im Jahr 2017 erledigten den Rest; Letztendlich geht es um den Kolonialstatus von Puerto Rico. Rosselló kam als Vertreter des „annexionistischen“ Sektors der puertoricanischen Elite an die Macht. Dieser argumentiert, dass die Lösung darin besteht, jeden Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung aufzugeben und sich vollständig in die Vereinigten Staaten zu integrieren, um zum 51. Bundesstaat der Vereinigten Staaten zu werden. Die andere Hälfte, vertreten durch die Demokratische Volkspartei, behält die aktuelle Fiktion des „Freistaats“ bei, als gäbe es einen Pakt der Gleichberechtigung zwischen Puerto Rico und dem nordamerikanischen Imperium.

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Trump hat die Krise und die enorme Unfähigkeit der Regierung Rossellós genutzt, um seine rassistische und migrationsfeindliche Politik zu rechtfertigen. Aber die Demokrat*innen, die bis gestern Rossellós Verbündete waren, sind nicht besser. Es reicht hierbei zu sagen, dass die Finanzaufsichtsbehörde vom US-Kongress unter Obamas Präsidentschaft gegründet wurde. In den Vereinigten Staaten gibt es diesbezüglich eine überparteiliche Übereinkunft zwischen Republikaner*innen und Demokrat*innen. Beide führen eine imperialistische Politik gegenüber Puerto Rico. Beide Parteien sind dafür verantwortlich, dass die Hilfsgelder, über die sie bei Naturkatastrophen feilschen, die Puertoricaner*innen nur tröpfchenweise erreichen. Die puertoricanische Bevölkerung in den Vereinigten Staaten, die mehr als fünf Millionen beträgt, dient ihnen nur als Wahlklientel.

Die Rebellion im Juli hat gezeigt, dass Puerto Rico eine Kolonie ist. Es hat nur eine begrenzte Selbstverwaltung, keine Souveränität und ist dem imperialistischen Kapital wirtschaftlich unterworfen. Keine der Parteien der lokalen Elite, die mit dem amerikanischen Establishment wie Pech und Schwefel zusammenhält, hat eine andere Alternative zu bieten, als diese Abhängigkeit zu vertiefen. Daher ist der Rücktritt von Rosselló eine gewonnene Schlacht, aber nicht das Ende des Krieges, den die Mächtigen gegen die Arbeiter*innen und unterdrückten Sektoren von Puerto Rico und ganz Lateinamerika führen.

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