Programmatische Debatten in der Front der Linken und Arbeiter*innen

24.10.2015, Lesezeit 15 Min.
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// Nach den Präsidentschaftsvorwahlen haben sich die Strömungen der FIT an die Erarbeitung eines aktualisierten programmatischen Manifests gemacht. Doch die Arbeiter*innenpartei (PO) entschied, diese Debatte zu verlassen und ihren eigenen Vorschlag zu veröffentlichen, der einen Rückschritt im Vergleich zu den vorherigen Programmen der FIT ist. Wir wollen die zentralen Punkte der Debatte und ihre Beziehung zu den verschiedenen Strategien für die FIT darlegen. //

Im Austausch nach den Vorwahlen zu den Präsidentschaftswahlen am 25. Oktober brachte jede Strömung einen Vorschlag ein. Auf dieser Grundlage wurde beschlossen zu einem gemeinsamen Dokument zu kommen und so wurde der Vorschlag der Partei Sozialistischer Arbeiter*innen (PTS) von der Sozialistischen Linken (IS) überarbeitet. An diesem Punkt angelangt, verließ die PO jedoch die Diskussion, ohne weitere Gründe anzugeben und veröffentliche einseitig ihren eigenen Vorschlag eines Programms für die Wahlen im Oktober, welches sie als „Manifest der Front der Linken und Arbeiter*innen“ vorstellte.

Ein Rückschritt im Vergleich zu vorherigen FIT-Programmen

Unter den zentralen Vorschlägen, die in dem Vorschlag der PTS enthalten waren und von der PO explizit oder de facto abgelehnt wurden, sind: 1) Die Notwendigkeit einer direkten und klaren Abgrenzung von den populistischen Strömungen in Lateinamerika (Chavismus, Evo Morales, etc.) und dem europäischen Neoreformismus von Syriza und Podemos. 2) Eine klare nicht doppeldeutige Definition der Arbeiter*innenregierung und ein klares Bekenntnis zur Notwendigkeit des Endes des Repressionsapparats des bürgerlichen Staates. 3) Die Definition, dass die Forderung „Jeder politische Beamte muss soviel verdienen wie ein*e Arbeiter*in und muss abwählbar sein“ nicht isoliert steht, sondern die Erfahrung der Massen im Dienste der revolutionären Eroberung einer Arbeiter*innenregierung beschleunigen soll. 4) Eine klare Abgrenzung von der Gewerkschaftsbürokratie und die Unterstützung der Kämpfe der Arbeiter*innenavantgarde in der letzten Zeit, das Aufrechterhalten der klaren Forderung gegen die Prekarisierung („Alle in die Kernbelegschaft“), die uneingeschränkte Legalisierung der Drogen und andere. 5) Die Perspektive des Aufbaus einer revolutionären Partei und des Kampfes für die sozialistische Revolution aufzeigen.

All diese Achsen waren Teil des Austauschs und sind im positiven im PTS-Vorschlag enthalten und spiegeln sich im negativen in dem Programm, das von der PO veröffentlicht wurde, wider. Trotz der Unterschiede zwischen der PO und der PTS über diese Punkte, die schon häufig diskutiert wurden, mag es mehr als eine*n Leser*in erstaunen, dass es nicht gelang, zu einem gemeinsamen Text zu kommen, auch wenn es dafür nur darum ging, schon vorher gemeinsam abgestimmte Formulierungen aus 2011 und 2013 zu wiederholen. Auf der einen Seite scheint es also erstaunlich. Wenn man jedoch auf der anderen Seite die verschiedenen strategischen Projekte für die Front der Linken und Arbeiter*innen anschaut, die sich in den Vorwahlen ausdrückten, wird die Frage klarer.

Die PO besteht darauf, dass Programm der FIT durch immer allgemeinere und damit „diplomatische“ Formulierungen aufzuweichen. Diese Politik ist die Kontinuität ihrer Politik in den Vorwahlen. Damals erklärten sie, dass sich die Front durch die Aufnahme ohne ernsthafte Diskussion von Gruppierungen stärken lasse, die nicht das FIT-Programm unterstützen. Das ist der Fall bei der Strömung von Perro Santillán, Pueblo en Marcha, der CRCR, etc. Wir von der PTS bestanden im Gegenteil darauf, dass sich die FIT durch die Vertiefung der Intervention in den Klassenkampf und die Aufnahme immer breiterer Teile der Avantgarde der Arbeiter*innen, Jugend und der Frauenbewegung stärkt, während man das Programm der Front hart verteidigt und von diesem Standpunkt aus mit den Strömungen diskutiert, die es teilen.

So erklären wir uns den Rückschritt der PO bei zahlreichen schon abgeklärten Programmpunkten der FIT und die Ablehnung, zahlreiche programmatische Aspekte, zu denen wir stehen, zu konkretisieren. Es folgt eine synthetische Wiedergabe der zentralen Aspekte der Debatte.

Man muss die Dinge beim Namen nennen

Die Entwicklung der FIT und die Notwendigkeit sich auf die Kürzungen, die die wichtigsten Präsidentschaftskandidaten Scioli, Massa und Macri vorbereiten, einzustellen, schwebt nicht in der Luft. Der Kapitalismus durchlebt seit 2007 eine weltweite Krise, die heute unsere Region direkt betrifft und die Mehrheit der Varianten auf den Prüfstein gestellt, die eine „Humanisierung“ des Kapitalismus durch Verbrüderung mit Teilen der Bourgeoisie erstreben.

Das erste Programmatische Manifest der FIT aus 2011 „verurteilt den offen kapitalistischen Charakter aller lateinamerikanischer Regierungen, entblößt vor den Augen der Arbeiter*innen, Bauern*Bäuerinnen und Studierenden den echten Charakter der Regierungen von Evo Morales und Hugo Cháves“.

Das sich die PO gerade jetzt, wo jedem die politische Unfähigkeit dieser klassenversöhnenden Strategien bewusst wird, die explizite Benennung dieser Strömungen ablehnt, ist ein klarer Rückschritt. Trotz des Diskurses über den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ greift Nicolás Maduro in Venezuela zu einer großen Entwertung, die die Löhne der Arbeiter*innen auffrisst. Diese Politik der bürgerlich-nationalistischen Strömungen tragen zur Stärkung der pro-imperialistischen bürgerlichen Opposition bei, wie im Falle Venezuelas oft mit einer Tradition aus Putschversuchen wie 2002, der wir entschieden entgegentreten.

Die Regierung von Evo Morales in Bolivien ähnelt mehr einer Art Volksfront und musste nach den Volkserhebungen 2000 und 2005 verfassungsrechtliche Zugeständnisse an die indigenen Völker einräumen. Doch sie vertieft ihre Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie aus dem „Halbmond“ im Nahen Osten und verfolgt weiterhin politisch die kämpferischen Minenarbeiter*innen und die Linke, die Teil des großen Streiks im Mai 2013 waren und entgegen des Boykotts der Gewerkschaftsbürokratie der COB die Gründung einer Arbeiter*innenpartei vorantreiben. Unter ihnen befinden sich Figuren der Schwesterorganisation der PTS in Bolivien.

Das gleiche können wir auch darüber sagen, dass sich die PO weigerte, eine explizite Stellungnahme über Syriza und Podemos als wichtigste Bezugspunkte des Neoreformismus in Europa aufzunehmen. Besonders, wenn die Regierung von Syriza (sich selbst als „links“ bezeichnend) gewählt wurde, um die Kürzungen zu stoppen und nach wenigen Monaten in der Regierung der stärkste Verteidiger derselben ist. Podemos bereitet sich darauf vor, den selben Weg zu beschreiten, während die neue Formation Volkseinheit nach dem Bruch mit Tsipras ein „Syriza der Ursprünge“ anstrebt und damit neue Enttäuschungen vorbereitet.

Die Lehren über das Scheitern dieser Strategien sind von zentraler Bedeutung für die Arbeiter*innen und die Linke und gehen weit über die jeweiligen Länder hinaus. Wir haben schon zuvor die Bedeutung dieser Diskussionen bei Gesprächen mit sich der FIT annähernden Strömungen über ihre Aufnahme dargelegt. Die PO hingegen möchte Strömungen wie die von Perro Santillán ohne weiteres in die FIT aufnehmen, auch wenn sich dieser positiv auf Evo Morales bezieht, oder Pueblo en Marcha, die Syriza und Podemos unterstützen. Der Versuch, jede explizite Benennung dieser Regierungen aus dem Programm der FIT zu streichen geht direkt gegen die Klarheit dieses Programms und schwächt dessen Definition der Klassenunabhängigkeit.

Von welcher Arbeiter*innenregierung sprechen wir?

Die bisherigen Programme der FIT haben sich immer den Kampf „für eine Arbeiter*innenregierung auf Grundlage der Mobilisierung der Ausgebeuteten und Unterdrückten“ zum Ziel gesetzt. Das ist zwar eine allgemeine Formulierung, entsprach jedoch den unter den Strömungen zu erreichenden Konsens.

Eine weitere programmatische „Neuheit“ der PO ist, entgegen unserer Vorschläge, den zweiten Teil, als „auf Grundlage der Mobilisierung der Ausgebeuteten und Unterdrückten“ zu streichen. So steht es in dem von ihr veröffentlichten Programm. Warum? Sie haben es nicht erklärt, doch der einzige Effekt den diese Maßnahme hat, ist die Forderung nach der Arbeiter*innenmacht für die wir kämpfen vollkommen zu verwässern.

Das gilt auch für ihre Weigerung, sich auf die Notwendigkeit „den Repressivapparat dieses Staates, der im Dienste der Ausbeuter*innen ist, durch Organisationen der Arbeiter*innen im Kampf für ihre eigene Regierung zu ersetzen“ zu beziehen, wie es schon in verschiedenen Stellungnahmen der FIT geschah.

Je besser die FIT bei den Wahlen abschneidet, desto stärker muss der anti-bürgerliche und antikapitalistische Charakter unserer Forderung nach einer „Regierung der Arbeiter*innen und der Massen“ betont werden. Man muss klar machen, dass die Arbeiter*innenklasse nicht einfach den bürgerlichen Staat übernehmen kann, um ihre Interessen durchzusetzen, sondern dass sie ihn zerstören und ihre eigene Macht aufbauen muss. Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit den „Volksfront“-Regierungen, zu denen auch die Regierung von Allende in Chile von 1970-1973 zählte, beweisen diese Aussage zur Genüge.

Deshalb haben wir häufig und auch dieses Mal auf der Notwendigkeit bestanden, unsere programmatische Forderung deutlicher zu machen. Das wäre unserer Meinung dadurch möglich, zu wiederholen, dass die Arbeiter*innenregierung, für die wir kämpfen, auf Grundlage der Mobilisierung der Ausgebeuteten und Unterdrückten erreicht wird und fügen hinzu, dass diese „die aktuellen Repressivkräfte, Hüter der kapitalistischen Ordnung, auflösen und durch Arbeiter*innenmilizen ersetzen muss, in denen sich die Arbeiter*innen um ihre Selbstverteidigung kümmern. Nur so kann die Grundlage einer neuen Ordnung erschaffen werden, in der eine nationale Versammlung der Arbeiter*innenräte aus Abgeordneten, die an ihren Arbeitsplätzen oder Wohngebieten gewählt werden.“

Diese Formulierung war für uns keine „Bedingung“ für ein gemeinsames Programm, weder damals noch heute, doch der Rückschritt der PO in Bezug auf die ursprüngliche Formulierung der FIT macht opportunistische Interpretationen möglich, die die Entstehung einer Arbeiter*innenregierung aus der Entwicklung der bürgerlichen Institutionen durch den Wahlsieg der FIT für möglich erklären.

Die demokratischen Forderungen im Kampf um die Macht der Arbeiter*innen

Wie wir es in einem anderen Artikel beschrieben, haben wir in der Kampagne zu den Vorwahlen den klassenkämpferischen Charakter der FIT, dass „alle politischen Funktionäre wie ein*e Lehrer*in verdienen“, besonders hervorgehoben, indem wir sie mit der Unterstützung der Arbeiter*innenkämpfe durch unsere Abgeordnete verbunden haben.

Deshalb hielten wir es für notwendig, unsere Fortschritte in der Kritik des bürgerlichen politischen Systems aufzuzeigen. Es ging darum, in unserem Programm klar zu machen, dass Forderungen wie die eben genannte oder das politische Funktionär*innen abwählbar sein sollen, der Senat und das Präsident*innenamt abgeschafft gehören, etc. (diese Forderungen wurden von der Pariser Kommune geerbt und von Lenin in Staat und Revolution wiederbelebt) keine losgelösten Forderungen sind, sondern im Dienste der Beschleunigung der Erfahrung der Massen in die Richtung der revolutionären Eroberung einer Arbeiter*innenregierung mit den oben genannten Aspekten stehen. Ein ähnliches Verständnis, wie es Trotzki in seinem „Aktionsprogramm für Frankreich“ deutlich macht.

Die PO entwertete diese Forderung jedoch öffentlich, indem sie in ihrem programmatischen Manifest an die „innovative“ Forderung des Kampfes für einen „repräsentativen Kongress aus einer Kammer und mit abwählbaren Delegierten“ gebunden hat. Damit treiben sie die Zweideutigkeit über die Ziele der FIT auf die Spitze.

Und die Bürokratie? Und die Arbeitskämpfe?

Es erstaunt, dass die PO in ihrem programmatischen Manifest, das sie im Namen der FIT veröffentlicht, kein Wort zur Gewerkschaftsbürokratie sagt, die ein täglicher Feind aller Arbeiter*innen ist, die sich organisieren wollen, um für ihre Rechte zu kämpfen. Noch erstaunlicher ist es, dass dieser Punkt nicht einmal Teil der Diskussionen war und der ursprüngliche Vorschlag der PO diesen Punkt sogar beinhaltete.

Ähnliches müssen wir auch über die wichtigsten Kämpfe der Arbeiter*innenavantgarde der letzten Monate sagen. Wir haben die PO dafür kritisiert, in ihrem ersten Vorschlag die beispielhaften Kämpfe bei Lear, Donnelley oder Worldcolor zu benennen, deren zentrale Aktivist*innen häufig sogar Kandidat*innen der FIT sind. Das veröffentlichte „Manifest“ schweigt jedoch nicht nur über diese, sondern aller Arbeitskämpfe der letzten Zeit wie der der Busfahrer*innen der Linie 60, der Speiseöl-Arbeiter*innen und bei Cresta-Roja, die in der ersten Version enthalten waren. Es wird auch keinen Bezug auf die historischen Mobilisierungen gegen die machistische Gewalt (NiUnaMenos, Nicht eine weniger) genommen.

All diese „innovativen“ fehlenden Aspekte waren in den vergangenen programmatischen Erklärungen der FIT immer enthalten. Die Kritik an der Bürokratie und die ausdrückliche Unterstützung der wichtigsten Kämpfe des Moments waren bisher unausweichliche Elemente.

Das Manifest der PO ersetzt die Forderung „Alle in die Kernbelegschaft“, Teil des Programms der FIT, durch die „Überwachung der Arbeitsverträge durch den Betriebsrat“. Eine symptomatische Änderung, wenn man in Betracht zieht, dass genau dieser Punkt eine zentrale Differenz zwischen der Politik der PTS in der Gewerkschaft der Angestellten und Arbeiter*innen von Jujuy (SEOM) und überall sonst und der Strömung von Perro Santillán ist, der eine stufenweise „Entprekarisierung“ vorschlägt, dessen erster Schritt ein prekärer Arbeitsvertrag ist und der Übergang in die Kernbelegschaft für eine zweite Etappe aufgehoben wird.

„Einheitsfront“ und Programm

Wir haben oft auf die Gefahren hingewiesen, die die Verwandlung der Einheitsfront-Taktik in ein „übernatürliches Prinzip“ birgt, wie es Trotzki sagte. Die Ablehnung von Seiten der PO, ein gemeinsames Programm, selbst wenn es die vorherigen Programme nicht überschreitet, zu erarbeiten, ist ein neues Kapitel derselben Debatte über die Strategien für die FIT.

Wir haben gesagt, dass die PO die FIT durch die Aufnahme von Gruppierungen mit einem unterschiedlichen Programm und ohne ernsthafte vorherige Debatte noch die gemeinsame Praxis stärken will. Dies hätte die Verwässerung des Charakters der Klassenunabhängigkeit der Front der Linken und Arbeiter*innen zur Folge. Der programmatische Rückschritt der PO in den oben aufgelisteten Punkten bestätigt diese Aussage.

Für uns geht die programmatische Unnachgiebigkeit und die harte Verteidigung des Charakters der FIT mit der taktischen Flexibilität der Einheitsfront-Politik für konkrete Kampfziele einher, so wie wir es täglich beweisen.

Im Falle Jujuys [Provinz im Norden von Argentinien] ist der Fehler der PO zweifacher Natur. Die FIT steht vereint vor den Wahlen in dieser Provinz, da die PTS die PO in die Rotation der Parlamentssitze aufnahm, obwohl sie die nötigen Kriterien durch den geringen Prozentsatz ihrer Liste „Einheit“ gemeinsam mit Perro Santillán bei den Vorwahlen nicht erreichte. Nun wird die vereinte FIT bei den Wahlen im Oktober gegen die Liste von Santillán (den die PO so hoch lobt) antreten, was es für die FIT (und damit auch die PO) schwieriger macht, die Hürde von fünf Prozent zu überschreiten, um Sitze zu gewinnen.

Die FIT wird nicht durch die „Verführung“ von angeblichen Verbündeten mit anderem Programm und anderer Praxis, die als Gegner*innen enden, vorankommen, sondern durch eine große gemeinsame Kampagne im ganzen Land, um eine Alternative der Klassenunabhängigkeit mit der Kraft der Arbeiter*innen, der Frauen und der Jugend gegen die bürgerlichen Parteien der Kürzungspakete zu stärken. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen.

Übersetzung aus dem Spanischen: Peter Robe.

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