Organisierung oder Burnout: Soziale Arbeit im Kapitalismus

16.05.2023, Lesezeit 15 Min.
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Die Demonstration zum feministischen Kampftag am 8. März in Berlin. Bild: Tabea Krug

Was bedeutet es, im Sozialsektor tätig zu sein? Über die Zusammenhänge zwischen sozialer Arbeit und kapitalistischem System, warum die Polizei in diesem Bereich nichts zu suchen hat und welchen Kampf es braucht, um Menschen wirklich zu helfen.

Es ist Donnerstag, 21:57 Uhr, ich stehe in der Küche des Jugendclubs, in dem ich arbeite, und räume gemeinsam mit meinem Kollegen auf. Von Dienstbeginn heute bis Dienstende habe ich keine wirkliche Pause machen können, kam bis 21 Uhr nicht dazu zu essen oder für fünf Minuten alleine eine Zigarette zu rauchen. Da wir deutlich unterbesetzt waren und der ganze Tag aus Ausnahmesituationen bestand, die komplette Konzentration und etliche Krisengespräche erfordert haben. Jetzt beim Aufräumen, jetzt, wo die Jugendlichen weg sind, fällt das ganze Adrenalin auf einmal ab, meine Hände beginnen zu zittern, während ich den Geschirrspüler einräume. Meinem Kollegen geht es ähnlich. Er sagt sarkastisch, dass wir für den ganzen Stress ja immerhin 1.600 Euro im Monat bekommen. Ich lache kurz, dann muss ich vor Frustration und Erschöpfung etwas weinen.

Diese Woche habe ich 13 Überstunden machen müssen, weil es mehrere Krisensituationen mit Jugendlichen gab. Wir waren nur zu dritt, weil eine Kollegin im Urlaub ist. Wenn Krisengespräche geführt werden, die wir aus unterschiedlichsten Gründen meist zu zweit führen, muss die dritte Person auf 20, 30 oder sogar 40 Jugendliche alleine aufpassen. Das bedeutet, alleine aufs Klo zu gehen, mal zehn Minuten Pause zu machen oder in Ruhe etwas zu essen, ist für die Dauer dieser Gespräche nicht möglich. Sind mehrere Jugendliche involviert, wie es diese Woche der Fall war, kann das insgesamt schon ein paar Stunden dauern. Selbst wenn ich dann kurz raus konnte, reichten die wenigen Minuten, die ich hatte, nicht, um den ganzen Stress und die Anspannung, die ich fühlte, wieder auf null herunterzufahren.

Ausgelegt ist unser Jugendclub auf 199 Jugendliche, mit 2,9 Vollzeitstellen. Ich muss niemandem erklären, wie lächerlich diese Zahlen sind. Der Personalschlüssel wird zudem nach der Größe der Einrichtung berechnet, nicht danach, wie viele Jugendliche wirklich kommen. Es gibt offiziell die Regel, dass wir nur maximal zehn Prozent unserer Arbeitszeit außerhalb der Arbeit an den Jugendlichen verbringen dürfen. Diese Regelung ist so realitätsfern, dass ich keine Kolleg:innen kenne, die das einhalten können. Bei meinen 28 Arbeitsstunden wären das nicht mal drei. Nicht mal drei Stunden für Vorbesprechungen, Teamsitzung, Supervision. Eigentlich bräuchten wir auch besonders an stressigen und krisenbelasteten Tagen Zeit für Nachbereitung, Zeit das Erlebte zu verarbeiten. Eine Möglichkeit, das alles nicht mit nach Hause nehmen zu müssen.

Was wir bräuchten, wäre ein viel besserer Personalschlüssel, der sich auch an der Menge der Besucher:innen orientiert, statt nur nach der Größe der Räumlichkeiten. Mehr Supervision, mehr Tage für Weiterbildungen, mehr Möglichkeiten für Austausch mit Kolleg:innen, gerade wenn sie mit denselben Jugendlichen arbeiten. Eine bessere Bezahlung für alle Kolleg:innen, weniger prekäre Honorarbeschäftigungen. Und das im gesamten Sektor.

Nur Tischtennis und Eierkuchen backen?

Mein Kollege hat mir einmal erzählt, dass er gefragt wurde, warum er nach Dienstende immer so erschöpft sei, er spiele ja nur den ganzen Tag Tischtennis. Ich hätte diese Woche wirklich gern einen Tag gehabt, an dem ich nur Tischtennis hätte spielen können. Einen Tag, an dem 12-jährige bei der Eins-zu-eins-Aktivität, die Tischtennis darstellt, nicht nebenbei von Familienmitgliedern, die im Krieg getötet wurden, auf der Flucht ihr Leben verloren haben oder abgeschoben wurden, erzählt hätten. Wo ich mich dann nur darauf konzentrieren müsste, den Ball mit dem Schläger zu treffen, statt fachlich korrekt ihre Erfahrungen aufzufangen und ein methodisch fundiertes Gespräch mit ihnen zu führen. Einen Tag, an dem Ausflüge mit einer Mädchengruppe sich nur darum drehen, was wir gemeinsam gerade erleben, und nicht geprägt von Gesprächen über ihre Erfahrungen sexualisierter Gewalt sind, die ich konzentriert begleiten und mit ihnen einordnen muss. Wo ich nicht, während ich 13-Jährige beim Eierkuchenbacken beaufsichtige, krasse Erfahrungen rassistischer Polizeigewalt erzählt bekomme und mit den Jugendlichen nachbereite, mit ihnen ihre Rechte durchspreche.

Aber das ist offene Jugendarbeit nunmal nicht, das ist Soziale Arbeit nunmal nicht. Ich spiele eben nicht nur Tischtennis, mache nicht nur Ausflüge oder helfe nicht nur dabei, Eierkuchen zu backen. Meine Arbeit besteht darin, täglich aufzufangen, was Krieg und Flucht, Patriarchat, systematischer Rassismus, extreme Armut, Wohnungslosigkeit und schlechte Ausbildungsbedingungen mit Kindern und Jugendlichen machen. Was das für ihre Familien bedeutet. Was das kapitalistische System für die Lebensrealität eines Großteils der Menschen bedeutet. Das alles begleiten, methodisch korrekt damit umzugehen und sie im besten Falle weiterzuvermitteln an andere Stellen, die nochmal spezifischer auf ihre Problemlagen eingehen können.

Es wäre ja schon besser, würde ich für diese Arbeit besser bezahlt werden, die neben ihren auch schönen Seiten, wie junge Menschen persönlich wachsen zu sehen und sie auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden zu begleiten, eben immens belastend sein kann. Wenn es einen besseren Personalschlüssel gäbe, bessere Finanzierungen für Projekte, Aktivitäten und Reisen. Wenn ich nicht outgesourct wäre wie der absolute Großteil meiner gesamten Kolleg:innen in der Sozialen Arbeit. Wenn wir alle das gleiche, angemessene Gehalt für die gleichsam fordernde Arbeit in allen verschiedenen Bereichen dieses Sektors bekommen würden. Wenn wir selbst in umfassenden Versammlungen entscheiden könnten, wie unsere Arbeitsbedingungen sein sollen und was wir brauchen, um unsere Arbeit gut machen zu können, ohne dass wir daran kaputtgehen.

Mehr Lohn und Personal allein wird nicht die Lösung sein

Doch so wichtig und erkämpfenswert eine materielle Verbesserung unserer Arbeitsbedingungen ist, das alleine wird weder mir, noch all den jungen Menschen mit denen ich arbeite wirklich helfen, ein besseres Leben zu führen. Trotzdem ist der Ansatz der besseren Finanzierung und einem Ausbau der sozialen Arbeit tausendmal sinnvoller als das, was die Regierung Berlins als die Lösung für die Problemlagen der Jugendlichen, mit denen ich arbeite, vorschlägt: einen Ausbau der Polizei und mehr Repression.

Einen Ausbau der Polizei, die 13-Jährige, die zu uns in den Jugendclub kommen, bei Racial Profiling auf den Boden der Warschauer Straße drückt. Die Polizei, die Jugendliche rassistisch beleidigt. Die Polizei, die an Orten, in denen sich manche der Jugendlichen aufhalten, konstant mit rassistischen Razzien kriminalisiert. Die Polizei, die Jugendliche, die sich nicht mal den Besuch in einer Shisha-Bar leisten können, in Parks, die meist die einzige kostenlose Möglichkeit ist, um Freund:innen zu treffen und Zeit zu verbringen, schikaniert. Die Polizei, die Jugendlichen und ihre Familien aus den Wohnungen, die sie sich wegen drastisch steigenden Mieten und zu niedrigen Löhnen nicht mehr leisten können, mit Gewalt rausschmeißen. Die Polizei, die den Rechten, die die Jugendlichen zusammenschlagen und bedrohen, freundlich die Hand gibt, sie am nächsten Morgen bei Dienstbeginn vielleicht sogar freundlich mit einem „Guten Morgen Kollege“ begrüßt. Die Polizei, die auf 14-Jährige schießt, die bei Rossmann klauen. Die Polizei, die das Geld bekommt, das in den Bereichen Soziales und Bildung gekürzt wird. Die Polizei, die dafür ausgelegt ist, die Interessen des kapitalistischen Staates, der die Probleme der Jugendlichen bedingt und überhaupt entstehen lässt, mit Waffengewalt zu verteidigen.

Erzählungen von Kolleg:innen, die auf Arbeit Kontakt mit der Polizei hatten, verstärken dieses Bild. Fachlich helfen sie null, im schlimmsten Falle beleidigen sie rassistisch andere Jugendliche, die nichts gemacht haben. Oder sie stellen sich, wenn sie bei häuslicher Gewalt gerufen werden, auf die Seite des gewalttätigen Partners, weil sie einer Frau, deren Muttersprache nicht Deutsch ist und die sich aufgrund der akut erlebten Gewalt weniger klar ausdrücken kann, nicht glauben.

Die materiellen und psychischen Problemlagen der Menschen, mit denen ich arbeite, werden durch ein „Law-and-Order-System“ à la Kai Wegner nicht im Geringsten verbessert, vielmehr nur noch verschlimmert. Diese Problematiken sind inhärent in dem System, in dem wir leben. Sucht, Wohnungs- oder Obdachlosigkeit, Armut, Rassismus, Sexismus, schlechte Arbeits- und Ausbildungsbedingungen, Krieg und Flucht sind Bestandteile des kapitalistischen Systems. Die materiellen und psychischen Problemlagen der Menschen, mit denen ich arbeite, sind natürliche Bestandteile des Kapitalismus. Auswüchse seines Funktionierens sind essentiell für sein Weiterbestehen.

Ich denke an mein Praktikum in der Suchthilfe, an ein Erstgespräch mit einer alkoholkranken Frau. Wie sie weinend vor mir saß, beschämt, dass sie ohne Alkoholkonsum ihre schrecklichen Arbeitsbedingungen nicht mehr ertragen konnte. Ich erinnere mich an meine Zeit in der Wohnungslosenhilfe, an eine Frau, die mir mit Tränen in den Augen ihren Dank für meine Arbeit aussprach, weil die neoliberale Ideologie dieses Systems ihr selbst die Schuld für ihre schlimme Lage zuschob. Weil sie ja selbst Schuld sei, dass sie depressiv und damit arbeitsunfähig wurde und ihre Wohnung verlor.

Menschen wirklich helfen können wir nicht auf Arbeit, sondern im Kampf gegen dieses System

Viele Kolleg:innen haben verständlicherweise den Wunsch, mit dem, was sie täglich tun, das Leben von Menschen zu verbessern. Ihnen aus Krisen zu helfen, etwas Gutes für sie zu tun. Das ist an sich ja etwas Schönes. Diese Arbeit kann auch wirklich schöne Seiten haben. Selbst die Woche, die ich als schlimmste und stressigste Woche jemals bezeichnen würde, hatte auch schöne Momente. Gerade mitzubekommen, dass Menschen durch vertrauensvolle Beziehungen in der Lage sind, Verhalten, das ihnen oder anderen schadet, zu ändern, sich weiterzuentwickeln und Krisen zu überwinden, ist ein wahnsinnig tolles Gefühl.

Aber wir müssen uns dessen bewusst sein: In diesem System dient unsere Arbeit dazu, die Arbeitskraft von Menschen wiederherzustellen, sie wieder in dieses System zu integrieren, unter dem sie leiden, oder eben zu verhindern, dass Menschen sterben und ihre Arbeitskraft verloren geht. Denn in diesem System, in dem wir leben, stehen Profite vor dem Menschenleben. Arbeit in der Suchthilfe kann Menschen unterstützen, keine Drogen mehr zu konsumieren, ihr privates Leben wieder zu stabilisieren und sie an eine Therapie anzubinden. Diese Arbeit allein ändert nichts daran, dass schlimme Arbeitsbedingungen und damit verbundener Stress Menschen, solange sie in diesem Ausmaß existieren, zum Drogenkonsum bewegen. In der Wohnungs- oder Obdachlosenhilfe können wir Menschen dabei unterstützen, sich zu stabilisieren und eine neue Wohnung zu finden. Unsere direkte Arbeit dort hat jedoch keinen Einfluss darauf, die stetig steigenden Mietpreise zu bremsen oder dass spekulationsbedingter Leerstand verboten wird. Genauso wenig haben wir nur durch die Arbeit an den Orten, wo wir sind, Einfluss auf die steigende Inflation und die sinkenden Reallöhne, die für viele Menschen bedeuten, dass sie ihre Miete bald gar nicht mehr zahlen können.

Soziale Arbeit, so wie wir sie jetzt kennen, wird es so lange geben, wie es dieses System gibt, weil sie die Symptome und Funktionsweisen dieses Systems – Armut und Ausbeutung, rassistische und sexistische Unterdrückung, Flucht etc. – so behandeln soll, dass Menschen nicht komplett abstürzen und weiterhin arbeiten können. Die sozialen Konflikte, die in diesem System inhärent sind, zu unterdrücken. Menschen wieder auf den Weg zu bringen, das Verhalten zu haben, das in diesem System gewünscht wird. Ihre Wut und ihren Hass auf dieses System abzuschwächen. Und je mehr Kriege es gibt, je schlimmer die Armut wird, je höher die Mieten steigen, desto stressiger und vermehrt wird diese Arbeit werden. Auf jede Person, die wir stabilisieren können, die wir beim Überwinden einer Krise unterstützen können, werden viele andere kommen. Menschen, die unter dem gleichen System leiden.

Organisierung statt Burnout

Wir sehen tagtäglich, in welchem Ausmaß der Kapitalismus Leid hervorruft, in den unterschiedlichsten Bereichen. Zu merken, dass, egal wie viel Mühe man in diese Arbeit steckt, wie sehr man sich anstrengt, man die Ursache von alledem damit nicht antasten kann, ist frustrierend und zum Teil auch oft entmutigend. All das, womit wir täglich konfrontiert werden und was zum Leid der Menschen führt, die wir unterstützen wollen, hat System, gehört zum Kapitalismus und dementsprechend können wir eine wirkliche Verbesserung für alle nur bewirken, indem wir gegen dieses System kämpfen.

Dagegen müssen wir uns organisieren. In Gewerkschaften, in denen wir dafür kämpfen müssen, dass sie demokratischer werden. Unsere Erfahrungen und Forderungen sollen Gehör finden und wir sollen gemeinsam bestimmen können, für was und wie wir kämpfen wollen. Für Streiks für bessere Arbeitsbedingungen, aber auch für politische Streiks, die sich gegen Kriege, Krisen, Inflation oder Kürzungen von Sozialhaushalten richten. Für die Enteignung großer Immobilienkonzerne, für ein besseres Bildungssystem, für mehr Frauenhausplätze. Dass wir zusammen mit strategischen Sektoren, die durch ihre direkte Beteiligung an der Erwirtschaftung von Profiten, mehr Druck aufbauen können als wir im reproduktiven Sektor.

Und für den Aufbau einer revolutionären, unabhängigen Partei der Arbeiter:innen und Unterdrückten, die sich konsequent gegen Krieg, Imperialismus, Unterdrückung und Ausbeutung stellen. Eine Partei, die zeigt, dass Reformismus keine wirkliche Lösung für all das Leid bietet, mit dem wir uns täglich konfrontiert sehen. Die das Parlament als Bühne nutzt, um möglichst viele Menschen zu organisieren und auf ihre Kämpfe aufmerksam zu machen. Eine Partei, die ihre wahre Verankerung in Betrieben, Universitäten und auf der Straße sieht. Eine Partei, die klar macht, dass es ein anderes, schöneres Leben geben kann. Eine, die revolutionären Optimismus stärkt.

Die Arbeit, die wir als Sozialarbeiter:innen machen, ist schwer und oft belastend. Und auch wenn ich jetzt organisiert bin, ändert das nichts daran, dass ich oft erschöpft nach Hause komme und mich direkt ins Bett lege. Trotzdem habe ich jetzt einen anderen Umgang damit. Statt Verzweiflung über all das, was ich täglich erlebe, habe ich eine Perspektive des Kampfes. Eine Strategie gegen dieses System, unter dem die Menschen, mit denen ich arbeite, und auch ich jeden Tag leiden müssen. Ich habe im Gegensatz zu früher die Gewissheit, dass eine andere Welt möglich ist. Eine Welt ohne Ausbeutung und ohne Unterdrückung. Eine Welt, in der ich vielleicht wirklich mal für eine Stunde nur Tischtennis mit Jugendlichen spielen kann.

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