Offener Brief der Revolutionären Internationalistischen Fraktion an die Trotzkistische Fraktion

03.06.2017, Lesezeit 15 Min.
Gastbeitrag

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Liebe Genoss*innen der Trotzkistischen Fraktion,

mit diesem Brief antworten wir endlich auf eure Debatte und euren Vorschlag für eine mögliche gemeinsame Anstrengung im Klassenkampf, die ihr 2013 in „Für eine Bewegung für eine Internationale der sozialistischen Revolution – Vierte Internationale“ ausgedrückt hattet.

Wie ihr aus unserem Kongress- und Fraktionskampf innerhalb der PCL (Kommunistische Arbeiterpartei) wisst, haben wir für den sofortigen Bruch mit der nationalen Isolation gestritten. Auf diese waren wir de facto beschränkt, seit dem Niedergang und Erstarren, eigentlich dem politischen Tod der CRFI (Coordinating Committee for the Refoundation of the Fourth International), eine internationale „Organisation“, die in der Praxis nie auf Grundlage des demokratischen Zentralismus arbeitete, die weltweit keine neuen Avantgarde-Sektoren der Klasse für die Sache des revolutionären Marxismus eroberte. Tatsächlich verlor sie in den letzten Jahren ganze Gruppen, beschränkte sich auf ihre nationalen Gruppen in Argentinien, Italien, Türkei, Griechenland sowie andere Kleinstgruppen oder Einzelpersonen, mit denen sie verbunden ist. Diese Gruppen haben in verschiedenen Formen und Dimensionen Mängel entwickelt, die typisch für Gruppen sind, die aus der Degeneration und dem Bruch mit der Vierten Internationale als Partei der sozialistischen Revolution hervorgegangen sind – Bürokratismus, Sektierertum, Föderalismus, Nationaltrotzkismus, theoretischer Eklektizismus, organisatorische Laxheit. Beschränkt auf die italienische Politik konnten wir die Unvermeidbarkeit der Entwicklung von Mängeln und politischer Degeneration für eine „trotzkistische“ Organisation bestätigen, die sich nicht auf soliden Grundfesten aufbaut, die daraus keinen kohärenten Organisationstyp ableitet, die sich nicht ausgehend von einer internationalistischen und demokratisch-zentralistischen Politik entwickelt – zumindest nicht über abstrakte Beschwörungen und Hoffnungen hinaus.

Eine der deutlicheren Symptome dieser Rückwärtsbewegung war die fehlende Antwort der PCL auf euer Manifest (das sogar die CRFI hervorhob) und schon zuvor die Ablehnung eurer Anfrage zur Aufnahme in die Bewegung für den Wiederaufbau der Vierten Internationale [MRCI, das 1997 gegründete Umgruppierungsprojekt, aus dem die CRFI entstand]. Die PCL selbst legte sich letzten Mai darauf fest, auf euer Manifest zu reagieren, doch direkt nachdem wir uns auf diese Resolution bezogen und verlangten, dass die Partei unmittelbare und konkrete Anstrengungen unternimmt, anstatt ihre internationalistische Politik weiter aufzuschieben, wurden wir aufgefordert, unsere Fraktion aufzulösen – wir würden gegen die Statuten verstoßen. Unsere einzige tatsächliche Schuld: Wir waren bereit, einen offenen Kampf gegen die tiefgründig falschen politischen Positionen und Praxen der PCL-Leitungskader zu führen. Dieses Bild ergibt sich für jede*n, die*der die vom vierten PCL-Kongress verabschiedeten Dokumente liest und ein bisschen über die Geschichte und tatsächliche Aktivität der Gruppe weiß.

Wir wussten aus Jahren des Aktivismus innerhalb einer Organisation, dass die Mängel nicht von einem Tag auf den nächsten überwunden werden. Deswegen sind wir völlig überzeugt von der Notwendigkeit, mit sektiererischen und schwätzerischen Haltungen zu brechen, umso mehr, da wir uns in einer Situation der nationalen Isolation befinden, die wir aus unserem früheren Aktivismus erben.

Wie wir bereits in unserer Bilanz des vierten PCL-Kongresses argumentierten: Der Stand der internationalen organischen Krise der kapitalistischen Gesellschaft, des erneuerten Szenarios von „Kriegen und Revolutionen“, die ständige Revolution der Produktionsmittel und der sozialen Bände, die zu epochalen, tief schürfenden Widersprüchen zwischen den ökonomisch-produktiven Möglichkeiten und dem wissenschaftlichen Fortschritt einerseits sowie den Produktionsbedingungen andererseits, setzt eine internationalistische und internationale politische Linie und Organisation auf die Tagesordnung. Nicht als abstrakte Notwendigkeit für eine vage Zukunft, sondern um konkret eine Umgruppierung der weltweiten Avantgarde der Arbeiter*innenklasse auf revolutionär-marxistischer Grundlage durchzuführen.

Dies gilt umso mehr, da wir uns über die Tragödie des „orthodoxen“ Trotzkismus des letzten Jahrhunderts, wie der de facto Auflösung des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale bewusst sind. Dieses beteiligte sich direkt an bürgerlichen „Mitte-Links“-Regierungen (von Lula in Brasilien bis Prodi in Italien) und löste seine größte Sektion, die LCR in Frankreich, auf, um die NPA zu gründen und auf den andauernden Zyklus der „neuen linken Parteien“ in Europa zu antworten, jedoch ohne revolutionäre Strategie. Der LCR/NPA-Sprecher Olivier Besancenot träumte gar von einer „guevaristischen, libertären, syndikalistischen, ökologistischen und feministischen“ Partei. In anderen Worten, von einer Partei-Kollektion für Revolutionär*innen, Zentrist*innen und Linksreformist*innen; einem Labor für eine selbstzerstörerische Verschmelzung von Marxismus und kleinbürgerlichen, anti-proletarischen Theorien verschiedener Orientierung und Herkunft.

Angesichts des Fehlschlagens der Anstrengungen von Akademiker*innen und Intellektuellen, „Marx zurückzuholen“ – jedoch nur, um die marxistische Tradition der Arbeiter*innenbewegung abzuschwächen – ist es extrem dringend, das politische Erbe des Marxismus und seiner Entwicklung durch die Geschichte der Internationalen zurückzugewinnen. Wir denken, dass die Wiederaufnahme der marxistischen Methode des Aufbaus einer revolutionären politischen Führung der marxistischen Bewegung durch die wissenschaftliche Analyse des Kapitalismus, der strategischen Aufgaben, die sich daraus für die Arbeiter*innenklasse und die Kommunist*innen ergeben und ein Programm und eine politische Organisation, die diesen Prämissen folgt, von grundlegender Bedeutung ist.

Wir stellen uns gegen jedes „parteiische“ Sektierertum auf Grundlage von Gegensätzen kleiner Gruppen, Klans oder der „Exkommunikation“ wegen historischer oder taktischer politischer Fehler (Fehler, keine vollständigen politischen Degenerationen), die das Überschreiten der Grenzen eigener und anderer Positionen durch die Debatte und die politische Polemik verhindert. Wir haben kein Interesse am Aufbau einer Organisation, die hypothetisch 1917 den Eintritt von Leo Trotzki verweigert oder Wladimir Lenin ausgestoßen hätte, auf Grundlage von angeblicher nicht-dialektischer „Orthodoxie“ und einem bürokratisierten und verknöcherten „demokratischen Zentralismus“. Genauso wenig interessiert uns der politische Eklektizismus, der in einer Partei diejenigen, die das Programm und die konterrevolutionäre Degeneration des Stalinismus und anderen Parodien des Leninismus aufnehmen wollen. Uns interessiert der Aufbau einer Partei auf der Basis der politischen Grundlagen, des Programms und der Rettung des Bolschewismus durch die Gründung der Vierten Internationale, bevor die Opportunist*innen in ihr siegten. Die Vierte Internationale ist für uns die historische Kontinuität des revolutionären Marxismus in Zeiten seiner Negation und des Versuchs seiner Zerstörung durch die weltweite Konterrevolution, den Faschismus und den Stalinismus. Da die Vierte Internationale jedoch im Gegensatz zu ihren Vorgänger*innen nie die Rolle der Avantgardepartei der internationalen Arbeiter*innenklasse annehmen konnte, liegt diese Aufgabe noch vor uns.

Die allgemeinen historischen Prämissen, von denen sie ausging, bleiben weiterhin bestehen und kein anderes Projekt konnte in der Tat beweisen, dass es auf die Krise der revolutionären Führung der Arbeiter*innenklasse, aller Ausgebeuteten und Unterdrückten, eine Antwort findet. In diesem Sinne sind wir überzeugt, dass die fortwährende Produktion von den Interessen der Arbeiter*innenklasse entgegengesetzten Positionen von zahlreichen „linken“ Subjekten die Aussage der großen Revolutionärin Rosa Luxemburg stützt, dass „die Zukunft überall dem Bolschewismus“ gehört. Das bedeutet für uns, nicht das Erbe und die politischen Lehren der Dritten und der Vierten Internationale zu verlassen.

Deshalb ist die Aufgabe der Verbindung des Marxismus und der Arbeiter*innenbewegung, also die Hebung des politischen Bewusstseins der Avantgarde der weltweiten Klasse auf das Ziel der Rückgewinnung und Übernahme des Erbes des revolutionären Marxismus, so wichtig wie noch nie. Dabei geht es nicht um rein akademisches Wissen, sondern darum, im Klassenkampf gegen die Bourgeoisie anführen und siegen zu können, eine eigene Regierung aufzubauen und Schritte hin zur Auflösung der Klassengesellschaft und des Staates gehen zu können.

Die nötige Brauchbarkeit des Marxismus für die praktischen, organisatorischen und strategischen Aufgaben des weltweiten Proletariats führen uns dazu, mit der folgenden Aussage von euch übereinzustimmen:

Die revolutionäre Umgruppierung, die wir heute brauchen, darf nicht nur auf allgemeinen Prinzipien basieren, sondern muss von Übereinstimmungen über die großen strategischen Fragen ausgehen, die die kapitalistische Krise schon in die Debatte innerhalb der weltweiten Linken getragen hat.

So kann die Politik von prinzipienlosen Bündnissen verhindert werden, die von Föderalismus und Opportunismus geprägt sind. Eine solche Methode der Debatte über die strategischen Fragen mit direktem Interesse für die Avantgarde der Klasse ermöglicht eine revolutionäre Umgruppierung; nicht die Bildung eines Altersheims für invalide Revolutionär*innen, sondern einen Anziehungspunkt für all jene, die gegen die vom Kapitalismus erzeugte Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen, für die Arbeiter*innen, Jugendlichen, Frauen und die unterdrückten Minderheiten.

Eine Partei, die die sozialen Kämpfe nicht organisieren, verbreitern, vertiefen und mit dem Klassenkampf verbinden kann, hat keine Bedeutung für die reale Bewegung und die Sache der sozialistischen Revolution. In diesem Sinne, so wie wir auch schon in unseren Dokumenten argumentiert haben, stimmen wir mit euch in der Anerkennung der Zentralität des Aufbaus von revolutionären Fraktionen in den Gewerkschaften und in den Bewegungen, in welche die Revolutionär*innen intervenieren, überein. Ohne solche Fraktionen, ohne eine Basis und politische Organisierung innerhalb der Klasse, ihrer breiten Organisationen und den Bewegungen, kann man nicht beabsichtigen, durch Wahlbeteiligung und an reformistische oder sogar bürgerliche Formationen gerichtete Taktiken „an die Massen zu kommen“.

Durch die organisierte Intervention zur Verwandlung von Avantgarde-Sektoren in revolutionäre Fraktionen und Tendenzen können Kommunist*innen ihre Fähigkeit steigern, den allgemeinen Kampf gegen die Bürokratien der Arbeiter*innenbewegung anzuregen und zu lenken. Gegen jeden Versuch, die Gewerkschaften dem bürgerlichen Staat unterzuordnen; gegen den sektiererischen Versuch, kleine „revolutionäre Gewerkschaften“ zu gründen als Ersatz der Partei; für die Erneuerung von Gewerkschaftssekretär*innen mit dem Aufstieg von kämpferischen Anführer*innen, die die unteren bis mittleren Schichten der Arbeiter*innenklasse vertreten, welche zum Teil nicht gewerkschaftlich organisiert und angemessen vertreten sind. Gleichzeitig erkennen wir auch die historische Notwendigkeit von gewerkschaftsübergreifenden oder außergewerkschaftlichen Gruppierungen der Selbstorganisierung des Kampfes und der Mobilisierung der Ausgebeuteten an, was durch die Umstrukturierung des Industrieprozesses, die formelle Spaltung der Arbeiter*innen in kleinere Unternehmen und das Outsourcing besonders in imperialistischen Ländern wie Italien bedingt wird.

Im Rahmen der globalen Strategie, die Revolutionär*innen brauchen, um eine wissenschaftliche Praxis zu entwickeln, stimmen wir auch auf der theoretischen Ebene mit der Wiedergewinnung des bolschewistisch-leninistischen Erbes der Taktik der Einheitsfront in ihren verschiedenen Formen überein – diese haben leider auch dutzende opportunistische Parodien zustande gebracht, die ihren Geist und die Anwendungsform umgeworfen haben. Eine solche Aneignung kann jedoch nicht einfach darin bestehen, die historischen Adressat*innen jener Taktik zu ändern, indem bewusst abstrakte Kategorien verwendet werden (wie zum Beispiel „Reformismus“ ohne jegliche historische, soziale, ökonomische oder konzeptuelle politische Spezifizierung), um opportunistische Politik zu ermöglichen.

Der Wiederaufbau des Erbes der Vierten Internationale, und damit die Aufgabe des Aufbaus revolutionärer Parteien als Sektionen einer weltweiten proletarischen Internationale, erscheint als dringend und grundlegend. Besonders wenn man bedenkt, dass, wie in der Krise nach 1929, der Epoche des aufsteigenden Faschismus und der Aufrüstung für den Zweiten Weltkrieg, der Raum für Kompromiss-Lösungen, reformistische Politik und die friedliche Verwaltung der Klassenwidersprüche immer kleiner wird. Das öffnet den Raum für eine riesige reaktionäre weltweite Bewegung, die ein direktes Produkt der internationalen Finanzkapitalkrise, des historischen Rückschritts für Jahrzehnte der Arbeiter*innenbewegung auf ganzen Kontinenten und der daraus folgenden bürgerlichen strategischen Offensive auf allen Ebenen ist, die alle Zugeständnisse der letzten 50 Jahre vernichten und die Spuren der revolutionären Vergangenheit der Arbeiter*innenbewegung verwischen möchte.

Die aktuelle Epoche führt physiologisch zu politischen Polarisierungen und birgt ein großes Potential für die antikapitalistische Entwicklung des Bewusstseins und der Organisierung der ausgebeuteten Massen. Gleichzeitig fällt die „klassische“ Ideologie des Kapitals, also die nationalistische Ideologie, die auf den traditionellen nationalen Segmenten der weltweiten Bourgeoisie beruht, auf fruchtbaren Boden. Das sind für uns die Grundpfeiler der neuen „Trump-Ära“, wie ihr darlegt. Tatsächlich verkörpert Donald Trump als US-Präsident den aktuellen Zeitgeist. Es handelt sich dabei um einen schwachen Bonapartismus, der von den Klassenkonflikten in den USA und den unsicheren Perspektiven der imperialistischen US-Politik als weltweite hegemoniale Kraft getrieben wird.

Wir halten es für keinen vollkommenen Zufall, dass die erste Übersetzung ins Italienische des „Offenen Briefs für die Vierte Internationale“, acht Jahrzehnte nach seiner Veröffentlichung, von Genoss*innen durchgeführt wurde, die wenig später die FIR gegründet haben. Da der Kontinuitätsfaden einer internationalen Organisation basierend auf dem revolutionären Marxismus gerissen war, musste er wieder aufgenommen werden; der Sinn des Ziels des „Wiederaufbaus der Vierten Internationale“ liegt in der Abwesenheit einer solchen Organisation, die die Avantgarde der weltweiten Klasse sammelt, und in der historischen Unfähigkeit der Anführer*innen des „Trotzkismus“, ein Programm und eine Strategie, also eine Partei, aufzubauen, die den politischen Prinzipien des Marxismus treu bleibt und eine Generation von Berufsrevolutionär*innen, von Volkstribunen, schulen kann.

Beginnend mit der Verbreitung des Kommunismus als Ziel unserer Politik, der Diktatur des Proletariats als unvermeidbarer Phase für die Vergesellschaftung der Produktion und der Abschaffung der Klassen, dem Anspruch auf das in vier Internationalen entwickelte Erbe des revolutionären Marxismus und der damit verbundenen theoretischen Basis und der Sammlung an Erfahrungen, die für die Aufstellung einer Strategie und die richtige Anordnung aller angemessen Taktiken nötig sind – davon ausgehend meinen wir, dass es fällig ist, eine zusammenhängende Diskussion zu starten, die mit einer Debatte über die Analyse der hauptsächlichen strategischen Fragen anfängt, die die organische Krise des Kapitalismus auf die Agenda der Arbeiter*innenklasse und der Marxist*innen setzt. Das ermöglicht es uns, eine mögliche programmatische und praktische Einheit im Rahmen des internationalen Klassenkampfes zu finden, die Teil eines breiteren Diskussionsprozesses mit anderen Strömungen ist, welche sich auf das Übergangsprogramm berufen. Dazu gehört unter anderem die „Linke“ des Vereinigten Sekretariats, die sich kürzlich auf Grundlage des Dokuments „Aufbau einer Internationale für die Revolution und den Kommunismus“ konstituierte.

In diesem Sinne, nach unserer Teilnahme als Gastdelegation am Kongress eurer Spanischen Sektion, der CRT, sehen wir schon eine große strategische Gemeinsamkeit in der internationalen Analyse, der programmatischen Methode des Übergangsprogramms, dem organisatorischen Profil und der politischen Intervention, inspiriert von dem der Bolschewiki-Leninist*innen.

Wir stehen euch also in nächster Zeit zu allererst für die Organisierung internationalistischer Diskussionsveranstaltungen zur Verfügung.

Kommunistische Grüße
Revolutionäre Internationalistische Fraktion (FIR)

Dieser offene Brief wurde zuerst von lavocedellelotte.it auf Italienisch, Englisch und kastilischem Spanisch veröffentlicht. Wir haben ihn für Klasse Gegen Klasse ins Deutsche übersetzt.

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