Mehr als Schrubben

18.05.2018, Lesezeit 8 Min.
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Bild: Der Freitag

Als Patient bekommt man sie selten zu sehen, und doch hängt die Gesundheit auch an den Sterilisationsassistent*innen. In Berlin sind rund 70 von ihnen in den Streik getreten.

Bild: Der Freitag

Jeder weiß, wie man ein Messer in der Spüle abschrubbt. So stellt sich der Laie die Sterilisation in einem Krankenhaus vor. Auch Ärzte und Pfleger*innen wundern sich. Ein*e Sterilisationsassistent*in erinnert sich, wie eine Pflegerin mit einem „Sieb“, einem Kasten mit medizinischen Instrumenten, zu ihm kam. Ob man das schnell abspülen könnte? Er konnte nur den Kopf schütteln. Sterilisation ist schon ein bisschen komplizierter.

Die Mitarbeiter*innen in der „Steri“ müssen sich nicht nur um hochpräzise Instrumente für Neurochirurgie kümmern, sondern auch um „Endoskope, OP-Roboterarme und Inkubatoren“, erklärt Juliane Hielscher. Die 36-jährige Frau mit Brille und Pferdeschwanz arbeitet seit zehn Jahren als Sterilisationsassistentin beim Klinikum Neukölln, das zum städtischen Krankenhauskonzern Vivantes gehört. Aber in all den Jahren hatte sie keinen Tarifvertrag, weil sie über die 100-prozentige Tochterfirma Vivantes Service GmbH angestellt ist. Deswegen verdient sie 500 Euro pro Monat weniger als Kolleg*innen, schätzt sie.

Die aus dem Kellerverlies

Juliane Hielscher wurde vor etwa zwei Jahren in die Tarifkommission gewählt. Sonst hatten sich nur Männer zur Wahl gestellt. Eine Frau sollte dabei sein, dachte sie sich. Sie ist keine, die gern vor Menschenmassen redet. Aber jeden Tag ab acht Uhr morgens organisiert sie das ungewöhnliche Durchhaltevermögen dieser kämpferischen Belegschaft.

„Keiner weiß, wo wir überhaupt sind“, beklagt Holger Steinmetz von der Sterilisation am Krankenhaus im Friedrichshain. Sein hochtechnologisierter Arbeitsplatz liegt im zweiten Stock direkt über den Operationssälen. Dennoch hält sich das Bild eines nassen und dunklen Kellerverlieses, in dem unfähige Krankenschwestern zum Schrubben verurteilt werden. Jetzt steht Steinmetz – Glatze, gezopfter Kinnbart, Lederhose – jeden Tag am Eingang eines anderen Klinikums im Streikzelt, für alle zu sehen.

Denn seit drei Wochen sind Hielscher und Steinmetz zusammen mit 70 Kollegen im Arbeitskampf. Sie fordern, dass der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst nicht nur für die Stammbelegschaft, sondern auch für die Tochterfirmen im Krankenhaus angewendet wird. Viele würden auch gern für die Wiedereingliederung in den Mutterkonzern streiken, aber das ist nach dem restriktiven Streikrecht in Deutschland verboten.

Der Ausstand macht sich gerade in der Sterilisation bemerkbar. „Wenn wir die Arbeit niederlegen, dann kann auch kein Arzt operieren“, sagt Juliane Hielscher. Sie vergleicht es mit einem Uhrwerk – die „Steri“ sei ein kleines Zahnrad, ohne das der ganze Krankenhausbetrieb zusammenbrechen würde.

In drei Laboren in Friedrichshain, Neukölln und Spandau lässt Vivantes alle medizinischen Geräte von neun Krankenhäusern und vielen privaten Praxen reinigen. Plasma, Dampf und Gas kommen zum Einsatz. Wegen des Arbeitskampfes stapeln sich die Siebe zu kleinen Türmen, Skalpelle liegen kreuz und quer auf den Metalltischen. Alles sieht wie in einer unordentlichen WG-Küche aus – Mitarbeiter*innen versichern, dass sonst perfekte Ordnung herrsche.

In der Sterilisation arbeitet während des Streiks ein „Notdienst“ von sechs Kolleg*innen – so haben Vivantes und die Gewerkschaft Verdi es ausgehandelt. Mit der Arbeit kommt dieser Notdienst jedoch gar nicht hinterher. Geplante Operationen werden reihenweise abgesagt – die OP-Säle werden nur noch für Notfälle verwendet. Patienten müssen in andere Krankenhäuser ausweichen oder bekommen Termine in unbestimmter Zukunft. „Ein Skandal!“, heißt es in der anonymen WhatsApp-Nachricht, die unter den Streikenden die Runde macht. „Vivantes spielt mit der Gesundheit und dem Leben der Berliner Bürger!“

Streikende berichten, dass Mitarbeiter*innen aus der Geschäftsführung und der Verkaufsabteilung mit anpacken, obwohl sie nicht über die erforderliche „Fachkunde 1“ verfügen. Auf Anfrage bestätigt Vivantes etwas vage: „Bestimmte Tätigkeiten in der Sterilisation von Medizinprodukten können unter Anleitung auch durch andere Mitarbeiter erbracht werden.“ Mit anderen Worten: Bekommt man dieser Tage in Berlin ein Endoskop in die Speiseröhre geschoben, kann es sein, dass es von einem Buchhalter gereinigt wurde, der mal eben kurz eingesprungen ist – unter Anleitung von Fachpersonal natürlich. Die Streikenden halten nichts von dieser „Anleitung“ – würden geschulte Kollegen die Arbeit der ungeschulten Helfer*innen fachgemäß kontrollieren, müssten sie bei jedem einzelnen Arbeitsschritt über die Schulter schauen. Der Arbeitseinsatz würde sich nicht wirklich lohnen.

Es quietscht

Ein rot-roter Senat hatte die Ausgliederung der Sterilisationsassistent*innen um 2006 vorangetrieben. „Sparen, bis es quietscht“, hieß es unter dem damaligen Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD). Allein Vivantes hat heute 17 Tochterunternehmen – „alle zum Zweck der Tarifflucht gegründet“, wie eine Mitarbeiterin kritisiert.

Zehn Jahre später kehren SPD und Linke zurück in den Senat, jetzt im Bündnis mit den Grünen. Ihre einstige Politik „zügig“ rückgängig zu machen, so lautete das Versprechen in ihrem Koalitionsvertrag. Doch erweist es sich als einfacher, ein Krankenhaus zu zerschlagen, als die einzelnen Scherben wieder zusammenzuflicken.

„Leute, ihr müsst noch lauter sein!“ 50 Mitarbeiter*innen haben sich auf der Wiese vor dem Klinikum Berlin-Neukölln versammelt. Sie tragen neongelbe Streikwesten, manche stehen unter einem roten Pavillon von Verdi. Gleich wird das Mittagessen geliefert, aber Mario Kunze will erst mal eine Streikversammlung anstimmen. Seine donnernde Stimme hört man in den oberen Etagen. Der 49-jährige Elektriker ist so was wie der Antreiber des Arbeitskampfes.

Kunze, jung gebliebener Großvater mit kurzen grauen Haaren und Kapuzenpulli von einer Punkband, arbeitet seit fast 25 Jahren beim Klinikum im Friedrichshain.

Aufgrund seines alten Arbeitsvertrags mit Vivantes wird Kunze nach Tarif bezahlt.

Jeden Tag wird er wie ein Leiharbeiter an die Tochtergesellschaft VSG „gestellt“. Das Paradoxe: Neben den 300 VSG-Mitarbeitern schuften 600 gestellte Kollegen wie Mario Kunze – und verdienen bis zu 1.000 Euro mehr für die gleiche Arbeit.

Seit Jahren opfert Kunze seine Freizeit diesem Gerechtigkeitskampf – ohne dass er selber davon profitieren würde. Doch er versteht seinen Einsatz nicht als selbstlos. Solange diese Tochterfirma existiert, wird es auch immer die Gefahr geben, dass er dorthin outgesourct wird, mit weniger Lohn. Gleichzeitig habe er keine Lust, „in Zukunft als alter Mann mit Tariflohn von schlecht bezahlten jungen Kollegen umgeben zu sein“. Und je mehr von ihnen angestellt werden, desto eher könnte die Geschäftsführung die teureren „Altbeschäftigten“ verscheuchen. Kunzes Gründe für den Streik sind eben auch „absolut egoistische“.

Man könnte es auch klassisch marxistisch versuchen: Der Proletarier kann sich nur befreien, wenn er sich für die Befreiung aller Proletarier einsetzt. Kunze wurde in der DDR sozialisiert und fragt sich, warum Krankenhäuser nicht einfach öffentlich finanziert werden sollen. Seit Mitte April läuft der Ausstand – bis wann ist offen. Das Streiklokal wandert durch ganz Berlin, jeden Tag geht’s in eine andere Vivantes-Einrichtung. Auch wenn sich manche Kollegen sträuben.

„Nachdem Gott die Klapperschlange, die Kröte und den Vampir geschaffen hatte, blieb ihm noch etwas abscheuliche Substanz übrig, und daraus machte er einen Streikbrecher.“ Die Streikenden kennen diese Zeilen, vermutlich vor 100 Jahren von Jack London geschrieben. Auf ihren Versammlungen ist es oft Thema: Wie soll man mit den Kollegen reden, die noch arbeiten gehen? In einem offenen Brief ist von „Streikbruch“ die Rede – „eure Arbeit zurzeit ist laut sachlicher Definition genau das“ –, aber der vorwurfsvoller klingende Begriff Streikbrecher*in wird vermieden. Die, die weiterarbeiten, haben komplexe Gründe. Manche werden von ihren Vorgesetzten eingeschüchtert; wenn sie streiken, werden befristete Arbeitsverträge nicht verlängert oder sie werden schlicht gemobbt. Andere wiederholen das Mantra: Es bringt nichts.

Es lag (bis Redaktionsschluss) noch kein Angebot der Geschäftsführung für die Streikenden vor. Das letzte, noch vor dem Arbeitskampf, sah kräftige Lohnerhöhungen für die Sterilisationsassistenten vor – und für andere Berufsgruppen der Tochter fast gar nichts. Die meisten Steris haben dagegengestimmt. Alle oder keiner.

Dieser Artikel erschien am 11. Mai bei der Freitag.

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